Читать книгу Kommissar Lüppi - Band 5 - Markus Schmitz - Страница 11
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Оглавление12. August 1995, Samstag, 10.30 Uhr
Essen Frohnhausen
Torti und Lüppi saßen am Frühstücktisch. Beide waren dabei ihre ersten Brötchen aufzuschneiden, als es an der Wohnungstür klopfte. Lüppi sah seinen Schatz an und stand auf. Vor der Tür stand Mario mit Petra.
„Guten Morgen, ihr zwei. Wollt ihr mit frühstücken?“, fragte Lüppi.
„Was habe ich dir gesagt, die beiden sind noch nicht fertig“, sagte Petra zu Mario etwas enttäuscht.
„Na los, kommt rein“, sagte Lüppi und ging ins Wohnzimmer vor.
Beide folgten ihm. Torti fielen die Blicke der beiden als erstes auf.
„Was ist los? Ist was passiert?“, fragte sie.
Keiner der beiden schien antworten zu wollen.
„Hallo!“, sagte Lüppi nach einigen Momenten etwas ungeduldig.
„Mario muss euch etwas erzählen“, fing Petra an.
„Na, dann schieß los“, sagte Lüppi.
Mario schien es schwerzufallen, nur langsam öffnete sich sein Mund.
„Ja… also…, dass… ist so“, stammelte Mario vor sich hin. „Wir haben gestern… um halb fünf…, also so kurz vor Feierabend… einen Anruf bekommen“
„Und weiter?“
„Ja, also… äh… Marcel ruft dich jetzt… oder gleich an und… erzählt es dir am besten selbst.“
„Was erzählt er mir am besten selbst?“, fragte Lüppi nach.
„Ich traue mich nicht…, dir das zu sagen“, antwortete Mario und das Telefon schellte. Lüppi ging hin und nahm den Hörer mit folgenden Worten ab.
„Guten Morgen, Marcel, was kannst nur du mir erzählen, was sich Mario nicht traut?“
„Guten Morgen, Lüppi“, sagte Marcel. „Ich muss dir leider mitteilen… der Mascali ist gestern Nachmittag in Genua angekommen. War dann bei Gericht und ist von einem Vertretungsrichter von Richter Dr. Montanari gegen 18 Uhr auf freien Fuß gesetzt worden.“
„Auf Kaution, oder was?“, fragte Lüppi nach, obwohl er das eigentlich als Möglichkeit schon selbst ausschloss. Ihm fiel aber nichts besseres ein.
„Leider nein, er ist entlassen worden. Es wird gegen ihn keine Anklage erhoben werden. Ich habe vorhin mit dem BKA telefoniert, also mit Thomas Denglert meine ich. Danach mit eurem Kollegen Santino Martinelli. Auch er kann es nicht glauben und weiß nicht, was da passiert ist. Er versteht es selbst nicht. Wir haben keine Erklärung“, sagte der Oberstaatsanwalt Marcel Pohlmeier.
Lüppi nahm den Hörer vom Ohr, schaute sich den Hörer an, hielt ihn wieder ans Ohr, sagte aber nichts dazu.
„Hallo, Lüppi! Bist du noch da?“, fragte Marcel.
„Ja, bin ich.“
„Sag doch mal was“, bat Marcel.
„Ich warte“, antwortete Lüppi.
„Worauf wartest du?“
„Darauf das du jetzt sagst… war nur Spaß oder ich wollte dich nur verarschen… oder so.“
„Das tut mir sehr leid, es ist die Wahrheit.“
„Jetzt sag mir bitte, wir haben jetzt heute die Fernsehsendung ‚Verstehen Sie Spaß‘ hier in Essen.“
Mario sah Lüppi an und schüttelte seinen Kopf. Lüppi nahm den Hörer hielt ihn Mario hin, der ihn nahm und Lüppi setzte sich wortlos an den Kaffeetisch zurück. Nahm sein Brötchen und schmierte Margarine auf beide Brötchenhälften. Mario wechselt noch ein paar Worte mit seinem Chef und hing dann ein. Torti hatte inzwischen für zwei weitere Personen den Frühstückstisch gedeckt. Petra stupste Mario an und beide setzten sich, ohne etwas zu sagen, an den Tisch. Da Petra ihren Vater ja noch nicht so lange kannte, es waren ja erst neun Wochen her, wusste sie nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Außer Torti kannten nur Gördi und Heike ihn so. Mario und Petra nahmen sich auch jeder ein Brötchen und machten sich auch daran zu frühstücken.
Samstag, 11.00 Uhr
Italien, Sizilien
Ort, Novara di Sicilia
Bernardo Carbone befand sich wie zumeist auf seiner mit Weinreben überdachten Terrasse. Er trank den vierten Espresso, oder richtiger gesagt Caffè, wie man ihn auf Sizilien nennt. Langsam mit einem Stock trat Michele Alessandro Mascali aus dem Haus auf die Terrasse. Bernardo stand auf und nahm seinen alten Freund in den Arm. Nach einer längeren Weile sahen sich beide an und Michele bedankte sich.
„Danke Bernardo, dass du mich daraus geholt hast.“
„Das war doch wohl klar, ich konnte dich doch jetzt nicht hängen lassen“, antwortete Bernardo.
„Das war dieses Mal aber echt eng“, gestand Michele.
„Hat mir Giacomo mitgeteilt, deshalb habe ich ihn nach Genua geschickt und für dich extra meine letzte Karte gespielt“, sagte Bernardo.
„Wie meinst du das, deine letzte Karte gespielt?“
„Richter Dr. Montanari war einer meiner letzten Reserve-Richter für ganz spezielle Fälle. Also ein Einsatz bei dem es darauf ankommt, dass es auch ja klappt.“
„Oh, mir war gar nicht klar, dass du Reserve-Richter hast.“
„Macht nichts, das konntest du ja auch nicht wissen“, sagte Bernardo und sah auf den Stock seines Freundes.
„Schaust du auf den Stock?“, fragte Michele.
„Was machst du denn mit dem Dingen?“
„Tja, den werde ich ab jetzt wohl immer benötigen.“
„Ist das noch von deinem Sturz von dem du mir vor Wochen am Telefon erzählt hast?“
„Ja, genau. Der Doktor meinte, ich hätte mir meine Hüfte angebrochen und die wird wohl ohne eine Operation auch nicht mehr so werden wie vorher.“
„Merda.“
„Ganz genau, aber wie hat unser Lehrer früher immer gesagt, es gibt Schlimmeres“, sagte Michele.
„Setzt dich, möchtest du was essen?“
„Ja, sehr gerne. Ich habe einen leeren Magen.“
Maria kam wie gerufen nach draußen und fragte, was Signore Mascali wünschte. Bernardo staunte als er hörte, was sein alter Freund essen wollte. Als Maria, die gute Seele des Hauses, wieder im Haus verschwunden war fragte er nach.
„Sag mal, isst du immer so etwas zum Frühstück?“
„Zu Anfang nicht. In den letzten Jahren schon. Ich habe mich irgendwie an die Lebensgewohnheiten aus dem Norden gewöhnt.“
„Was ich dich fragen wollte, bleibst du für längere Zeit hier?“
„Wie meinst du das denn?“, fragte Michele nach.
„Nicht so, wie du das jetzt aufgefasst hast.“
„Bene.“
Bernardo schaute Michele eine Weile an und meinte dann zu ihm.
„Ach weißt du, ich will es dir sagen“, sagte er, machte eine kurze Pause und fuhr fort. „Ich bin oft sehr alleine hier. Daher würde ich mich freuen, wenn du hier auf Sizilien bleiben würdest.“
Michele sah Bernardo erstaunt an.
„Du machst mir ja Spaß, wer hat mich denn die ganzen Jahrzehnte irgendwo hingeschickt?“
„Das war ich, ich weiß. Du kannst in dem Gästehaus wohnen, wenn du möchtest. Zum Essen kommst du immer her und Maria kocht für uns… was meinst du, alter Freund?“
Michele sah Bernardo mit großen Augen an und konnte nicht glauben, was er da hörte. Bernardo Carbone der Sporgenza Superiore, zu Deutsch der Oberboss von der Sizilianischen Organisation, fühlte sich alleine und möchte ihn an seiner Seite haben. Wenn ihm das vor Jahren einer erzählt hätte, er hätte es nicht geglaubt.
„Michele, musst du erst überlegen?“, fragte Bernardo.
„Ganz ehrlich, ich glaube gar nicht was du mich gerade gefragt hast und ja, ich möchte. Du kannst dir nicht vorstellen wie leid ich es bin irgendwo in Norditalien oder Deutschland mich aufhalten zu müssen“, sagte Michele ehrlich.
„Das hast du mir nie gesagt.“
„So etwas sagt man dem Sporgenza Superiore auch besser nicht.“
„Aber das gilt doch nicht für dich, mein alter Freund.“
Michele zuckte mit seinen Achseln.
„Das hätte ich dir vor langer Zeit sagen sollen“, machte Bernardo die Feststellung.
Samstag, 11.15 Uhr
Essen Frohnhausen
Alle vier saßen noch zusammen am Tisch. Der Aufschnitt und der Käse befanden sich inzwischen wieder im Kühlschrank. Torti, Petra und Mario hatten sich während des Frühstücks unterhalten, Lüppi nicht. Petra hatte ihren Vater immer wieder angesehen, er war aber wortlos geblieben und hatte einfach nur gefrühstückt. Die Unterhaltung ging einfach weiter. Sie sprachen über die Familie von Petra und Mario. Auch Torti hatte von ihrer erzählt. Als Petra weiter berichtete, wie traurig sie als Kind gewesen war, das sie keinen Vater gehabt hatte und keine Tanten und Onkel, wie andere aus ihrer Schulklasse, schaute Lüppi zu Petra.
„Oh, mein Papa reagiert wieder“, sagte sie.
„Bist du wieder da?“, fragte Torti ihn.
„Ich war doch gar nicht weg“, antwortete Lüppi.
„Körperlich nicht, das stimmt“, bestätigte Torti.
„Das tut mir leid für dich, dass du mich nicht hattest“, sagte Lüppi zu Petra.
„Das weiß ich Papa, dafür habe ich dich jetzt, aber sag mir bitte was mit dir los ist, so kenne ich dich noch nicht.“
„Gördi hat am Donnerstag schon so etwas vermutet“, sagte Lüppi.
„Du meinst, als er sagte, dein Wort in Gottes Ohr?“
„Genau und ich habe es auch gedacht. Dann gestern die schnelle Verlegung nach Genau, da wusste ich schon, das wird nix. Da hat dieser Bernardo Carbone seine Finger im Spiel.“
„Das organisierte Verbrechen hat in allen Bereichen seine Finger drin“, sagte Mario.
„Das hat unser Kollege Santino Martinelli auch gesagt“, bestätigte Lüppi.
„Das heißt, dieser Mascali ist euch jetzt durch die Lappen gegangen und das wars?“, fragte Torti.
„Ja, genau so. Der wird nicht sich so schnell nicht mehr hier blicken lassen.“
„Du muss das positiv sehen“, sagte Mario.
Lüppi sah ihn irritiert an.
„Es hat auch was Gutes. Wir Steuerzahler müssen jetzt nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen und er macht hier auch keinen Ärger mehr.“
„So kann man das auch sehen“, gab Lüppi die pragmatische Sichtweise zu.
„Na, dann ist doch alles gut“, sagte Torti und gab ihrem Liebling einen Kuss. „Du musst dich also nicht mehr ärgern.“
„Was glaubst du denn, wie sich die Mancini-Brüder verhalten werden?“, fragte Petra ihren Mario.
„Wenn großer Handlungsbedarf besteht, kommen die wieder, selbst wenn sie gesucht werden. Ich glaube, wir werden sie aber nicht mehr zu Gesicht bekommen.“
„Wie weit seid ihr denn mit euren älteren sieben Mordfällen?“, erkundigte sich Torti.
„Nicht weiter als die letzten Tage“, antwortete Lüppi. „Wir haben keine Hinweise, die uns weiterhelfen.“
„Und dass der Anwalt Sorrentino ermordet worden ist steht fest, ja?“
„Bei einer Schussverletzung und es befindet sich keine Schusswaffe in der Nähe des Toten würde ich davon ausgehen, es war kein Selbstmord.“
„Und bei seinen Sachen haben sich auch keine Hinweise befunden?“, fragte Torti weiter.
„Oh, Mist!“, entfuhr es Petra und hielt sich ihre rechte Hand vor dem Mund.
Alle drei sahen zu ihr und Lüppi ahnte sofort, was die Reaktion ausgelöst hatte.
„Ich habe etwas vergessen“, gestand sie.
„Die Sachen und der Briefumschlag“, sagte Lüppi.
„Genau, die sollte ich abholen lassen, habe ich völlig vergessen“, gestand sie ein weiteres Mal.
„Dann ruf im Präsidium an, die sollen eine Streife zum Hotel Amadeus schicken.“
„Ich glaube, es ist besser, ich fahre selbst hin. Tut mir echt leid.“
„Kann jedem passieren, wir vergessen alle mal was“, beruhigte Lüppi seine Tochter.
„Ich fahr gleich mit dir“, sagte Mario. „Dann kann ich auch mal das Hotel sehen, wovon ich schon so viel gehört habe.“
Eine halbe Stunde später machten sich beide auf den Weg. Ein Anruf zuvor im Hotel hatte die Erkenntnis gebracht, Herr Miller war da und hatte die Sachen und den Briefumschlag noch bei sich liegen.
Samstag, 12.30 Uhr
Essen, Hotel Amadeus
Mario betrat nach Petra den Hoteleingang. An der Rezeption wartete schon George Miller, der Front Office Manager.
„Guten Tag, Herr Miller“, grüßte Petra.
„Guten Tag, Frau Wilkerling“, grüßte er zurück und sah Mario an, der sich daraufhin vorstellte.
„Mario Minnelli, mein Name.“
„Sie sind ein Kollege von Frau Wilkerling?“, erkundigte sich Herr Miller.
„Nicht ganz, ich bin Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Essen.“
„Oh, die Staatsanwaltschaft kommt bei einer solchen Sache mit hierher?“
„Nicht direkt. Frau Wilkerling und ich hatten miteinander zu tun“, erklärte Mario.
„Die Dinge des Herrn Sorrentino und den besagten Briefumschlag habe ich in meinem Büro. Kommen Sie bitte einmal mit.“
Die beiden folgten ihm ein paar Meter weiter in dessen Büro. In einer Ecke stand ein blauer Reisekoffer, darauf lag ein Gefrierbeutel mit einem Briefumschlag darin. Petra musste schmunzeln als sie den Gefrierbeutel erblickte. Das sah Herr Miller und meinte dazu.
„Das haben wir von Ihrem Chef, Kommissar Lüppi, gelernt.“
„Sonst hatte der Ermordete nichts bei sich?“, fragte Petra nach.
„Wir haben alles in den Koffer gepackt. Mit Handschuhen natürlich. Das haben wir auch von…“, sagte Herr Miller und wurde von Petra unterbrochen.
„von Kommissar Lüppi gelernt“, vollendete Petra den Satz.
„Richtig, so ist es. Man ist ja lernfähig.“
„Ist sonst noch etwas Ungewöhnliches in den Tagen seit Dienstag gewesen?“
„Mmh… jetzt wo Sie so fragen… mmh, ja eigentlich schon“, antwortete Herr Miller und fuhr fort. „Es waren drei südländisch aussehende Herren hier und haben sich nach Herrn Mascali und Herrn Sorrentino erkundigt.“
„Und?“
„Nichts, der Mitarbeiter am Empfang hat den dreien mitgeteilt, die beiden Herren würden sich hier nicht mehr aufhalten.“
„Was war dann?“
„Die drei wollten dann wissen seit wann und ob wir wüssten, ob sie nach Italien zurück wären. Der Mitarbeiter hat aber keine Auskunft gegeben.“
„Und dann sind die drei einfach so wieder gegangen?“, fragte Petra ungläubig nach.
„Nicht ganz. Einer der drei wurde etwas massiv.“
„Was heißt denn massiv? Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen“, entfuhr es Petra.
„Ja. mein Gott. Sie sind ja wie Kommissar Lüppi.“
„Das verwundert ja auch nicht“, ließ Mario verlauten.
„Wie meinen Sie das?“, erkundigte Herr Miller sich bei ihm.
„Hallo! Zuerst einmal bitte meine Frage beantworten“, gab Petra den Hinweis.
„Äh… er hat mit seinem rechten Arm über den Empfang gegriffen und der Mitarbeiter hat…“, weiter sprach Herr Miller nicht.
„Hallo! Bitte!“, sagte Petra.
„Er hat sich in der Situation dazu hinreißen lassen, alles zu erzählen“, offenbarte er.
„Was genau?“
„Das Herr Mascali verhaftet worden ist und Herr Sorrentino im Zimmer ermordet wurde. Entschuldigen Sie, aber der Mitarbeiter hatte Angst. Das ist sonst nicht unsere Art. Das müssen Sie mir bitte glauben.“
„Ist nicht weiter schlimm“, sagte Mario zu Herrn Miller.
Der ihn daraufhin verwundert ansah.
„Haben Sie das gemeldet?“, fragte Petra.
„Nein, haben wir nicht. So etwas kommt leider immer mal wieder vor.“
„Können Sie uns noch etwas genaueres zu den drei Männern sagen?“, fragte Petra weiter.
„Ja, aber nur das, was unser Mitarbeiter für Außenarbeiten beobachtet hat.“
Petra sah Herrn Miller an und machte mit ihrer rechten Hand eine waagerechte Drehbewegung in der Luft, was so viel heißen sollte wie ‚jetzt erzähle doch weiter‘.
„Es war ein Audi. Eine Limousine. Der Mitarbeiter glaubt einen Audi A4 erkannt zu haben und mit italienischem Kennzeichen. Die beiden Buchstaben sollen angeblich OZ oder CZ gewesen sein. Er ist sich sich nicht sicher gewesen.“
„CZ ist möglich. OZ gibt es nicht“, sagte Mario.
„Und das wissen Sie so auswendig, Herr Minnelli?“
„Ja, tue ich.“
„Was gibt es denn noch für Kennenzeichen, die mit dem Buchstaben O anfangen?“
„Nur OR, das steht für Oristano. Das ist auf Sardinien.“
„Und CZ?“, fragte Herr Miller verwundert nach.
„Das ist der Ort Catanzaro, der befindet sich in der Region Kalabrien.“
„Jetzt bin ich aber platt“, sagte Herr Miller.
„Ich aber auch“, gestand Petra.
„Das waren alles Dinge, die ich über Italien lernen musste, darauf haben meine Eltern bestanden. Auf jeder Urlaubsfahrt in die Heimat meiner Eltern musste ich alle Kennenzeichen benennen können.“
„Ach, du dickes Ei“, erwiderte Petra und sagte weiter. „Davon musst mir mal noch einiges erzählen.“
„Sonst kann ich ihnen nicht weiterhelfen“, sagte Herr Miller.
„Gut, dann bedanken wir uns bei Ihnen, Sie haben uns weitergeholfen“, sagte Petra.
„Wirklich? Hat Ihnen der Hinweis mit den drei Männern geholfen?“
„Ja hat er. Wir kennen zwar nicht deren Namen, aber wir wissen, wer Sie hier besucht hat.“
Mario nahm den Koffer und Petra den Gefrierbeutel. Kurze Zeit später verließen beide das Hotel. Nach kurzer Überlegung, ob sie den Koffer und den Gefrierbeutel schon in die KTU bringen sollten, entschieden sich beide, die beiden Dinge mit nach Hause zunehmen.
Samstag, 13.40 Uhr
Essen Frohnhausen
Die beiden waren wieder Zuhause angekommen und standen vor dem Haus. Petra war gerade dabei die Haustür aufzuschließen, da wurden sie von hinten angesprochen.
„Guten Tag, darf ich dich stören?“
Beide drehten sich um. Ein älterer Herr stand einen Meter von ihnen entfernt hinter ihnen und sah sie erwartungsvoll an.
„Ja, was möchten Sie denn?“
„Sie sind doch Lüppi´s Tochter, nicht wahr?“
Petra antwortete nicht sofort sondern musterte den älteren Herrn.
„Lüppi kennt mich. Ich wohne dort drüben“, sagte er und zeigte mit dem Finger schräg die Straße herunten auf die andere Straßenseite.
„Ich kenne ihn aus ‚Uschis Eck‘.“
„Ja, ich bin seine Tochter, warum möchten Sie das wissen?“
„Lüppi kommt ja nicht mehr in ‚Uschis Eck‘ und daher wollte ich zu ihm. Ich möchte ihn um etwas bitten.“
„Darf ich fragen wer Sie sind?“
„Ich bin der Wilhelm. Du kannst ruhig du zu mir sagen. Ist Lüppi Zuhause?“
„Ich glaube ja, genau weiß ich das nicht“, antwortete Petra und öffnete die Haustür.
Sie winkte ihm zu, er solle mitkommen. Wilhelm folgte ihr, Mario ging hinterdrein. In der ersten Etage gab Petra ihrem Mario den Briefumschlag und ging mit Wilhelm in die zweite Etage und schellte bei Lüppi und Torti an. Es machte niemand auf. Kurze Zeit später klopfte sie bei Heike und Gördi an. Heike machte auf und stutzte als sie Wilhelm sah.
„Ist Lüppi bei euch?“, fragte Petra.
„Ja, ich hole ihn“, antwortete Heike und ging.
Als Lüppi sah wer da vor der Tür stand winkte er ihn in die Wohnung der drei. Lüppi ging vor, Wilhelm folgte ihm ins Wohnzimmer. Heike und Petra hinterher. Mario kam die Treppe hoch und folgte den beiden. Wilhelm sah das Geschenke auf dem Wohnzimmertisch standen.
„Oh, ich störe“, sagte er. „Das tut mir leid. Ich komme nächste Tage wieder.“
Und wollte wieder gehen.
„Nein, Wilhelm, du stört nicht, bleib!“
„Bestimmt?“
Lüppi schüttelte seinen Kopf.
„Wer hat denn Geburtstag?“, fragte Wilhelm.
„Ich. Ich bin heute zehn Jahre alt geworden“, sagte Nina.
Er ging auf sie zu und gratulierte ihr. Nina bedankte sich.
„Was haste denn?“, erkundigte sich Lüppi.
„Das ist mir jetzt sehr peinlich vor deiner Familie und Freunden, ich möchte dich um etwas bitten, aber nicht jetzt hier… “, weiter sprach Wilhelm nicht.
„Das musst dir nicht peinlich sein. Das sind meine besten Freunde, die dir auch helfen würden. Also erzähl einfach.“
„Du hast mir doch schon mal Geld geliehen?“
„Ja, richtig. Was ist passiert?“, fragte Lüppi.
„Du kennst doch meinen Sohn.“
„Ja, nur zu gut.“
„Er hat mich Dienstag besucht.“
„Oh, ich ahne es schon.“
„Ja, genau! Er hat sich an meiner Bankkontokarte vergriffen. Als ich es vorgestern gemerkt habe, bin ich zur Bank gegangen und was soll ich dir sagen, alles weg“, sagte Wilhelm.
„Das ist jetzt aber schon das dritte Mal“, stellte Lüppi fest.
„Ja, leider.“
„Das heißt, du hast für den restlichen Monat kein Geld mehr?“
Wilhelm nickte nur und war im Gesicht schon längst rot geworden.
„Komm mal mit nach nebenan“, sagte Lüppi.
Wilhelm und Torti folgten ihm. Nach zehn Minuten kam Torti zurück zu den anderen und hatte einen Vorschlag, den Nina, Heike und Gördi für eine gute Idee hielten.
Samstag, 15.00 Uhr
Duisburg
Alessio und Antonio Lombardi, die beiden Chefs von ‚Italienischer Großhandel Lombardi‘, saßen zusammen. Sie warteten auf ihre Kinder. Das waren Giuseppe, der Sohn von Alessio, Giovanni und Francesca, die Kinder von Antonio. Natürlich durfte Frank Lönz, der Lebensgefährte von Francesca, nicht fehlen. Der Besuch war ein sehr kurzfristiger Wunsch der beiden Väter gewesen. Ohne vorherige Absprache kamen Mark und Michaela Kirchheim einfach mal mit. Dass dies kein Problem sein würde, hatten die sechs vorher schon gewusst. Dies bestätigte Antonio auch.
„Wir haben heute Morgen Besuch von den drei kalabrischen Spezialisten von der Organisation gehabt. Das war der Abschlussbesuch“, fing Alessio an. „Die drei sind jetzt wieder auf dem Rückweg nach Kalabrien.“
Alle sechs sahen die zwei erwartungsvoll an. Allen war klar, dies war nicht der eigentliche Grund für den spontanen Besuch.
„Die drei wussten, dass der Mascali verhaftet worden ist und der hier in Deutschland lebende Anwalt Sorrentino von der Sizilianischen Organisation im Hotel Amadeus in Essen in seinem Hotelzimmer ermordet wurde.“
„Das die drei das in Erfahrung gebracht haben, überrascht jetzt nicht wirklich“, fand Giuseppe.
„Nur die wussten auch, dass der Mascali nach Genua verlegt worden ist“, teilte Antonio mit.
Die sechs machten große Augen.
„Es kommt noch besser“, sagte Antonio.
„Die drei wussten sogar, der zuständige Richter war Dr. Signore Montanari und als wenn das nicht schon genug Überraschungen wären, konnten sie auch noch mitteilen, dass dieser Richter Dr. Montanari am Donnerstag nach Sizilien geflogen ist“, berichtete Alessio.
„Und raten wir doch einmal, wohin mag der Richter Dr. Montanari wohl gefahren sein?“, stellte Antonio die Frage.
Alle sechs schüttelten ihre Köpfe und keiner konnte glauben, was die beiden ihnen erzählten. Der erste, der etwas sagte, war Frank.
„Das dies alles nicht zu glauben ist, ist klar, aber ich frage mich jetzt, bitte woher wissen die drei das denn alles?“
„Das haben wir sie auch gefragt“, teilte Antonio mit. „Sie sagten uns, sie hätten schon seit ein paar Jahren zwei Informanten in Polizeikreisen. Wo und wer das ist wollten sie uns nicht sagen. Wir zwei hätten von den Oberen Bossen nicht die nötige Freigabe für solche Informationen. Daher dürften sie uns nicht weiter einweihen.“
„Ist das ein Hammer?“, fragte Alessio.
„Wenn ihr zwei uns das nicht gesagt hättet, ich würde es nicht glauben wollen“, gestand Mark Kirchheim, der Rennfahrer.
Samstag, 16.00 Uhr
Essen Frohnhausen
Die Geburtstagsfeier von Nina fand wie geplant im Garten hinter dem Haus statt. Neben den zwei besten Freundinnen von ihr und Torti´s Sohn Dirk, hatte Wilhelm die Einladung auch sehr gerne angenommen. Während alle ein Stück Kuchen von einem der drei selbstgebackenen Kuchen vor sich hatten, sagte Nina, mit elf Personen wäre dies die größte Geburtstagsfeier, die sie je gehabt hätte. Wilhelm bedankte sich mehrfach für die Einladung. Alle aßen ihren Kuchen als Nina etwas einfiel.
„Petra und Mario, ich habe gehört ihr wart heute Mittag im Hotel Amadeus und habt die Sachen von dem Anwalt abgeholt“, sagte sie.
„Ja, stimmt, Nina“, antwortete Petra.
„Was ist es denn alles?“
„Ich glaube nicht, dass dies jetzt hierhergehört“, antwortete Petra.
„Ach komm schon, erzähl doch“, erwiderte Nina. „Ich habe doch heute Geburtstag und da kannst du mir doch keinen Wunsch abschlagen.“
Petra sah zu ihrem Vater. Lüppi nickte leicht.
„Na, gut. Es ist ein Koffer und ein Briefumschlag.“
„Oh, supi. Und was steht drin?“
„Wir haben nicht hineingeschaut.“
„Oh, warum nicht? Da steht bestimmt was sehr Wichtiges drin, für euren Fall, oder meint ihr nicht?“
„Das ist gut möglich. Wir können den Brief aber nicht öffnen, da er zuerst in der KTU auf Fingerabdrücke untersucht werden muss“, klärte Petra auf.
„Oh, wie schade!“
„Was ist KTU?“, wollte eine der Freundinnen wissen.
„Die KTU ist die Abkürzung für Kriminaltechnische Untersuchungsstelle“, antwortete Nina ihr und sagte weiter. „Dort wird alles untersucht, um die Verbrecher überführen zu können.“
Gördi strahlte, Heike war verblüfft und Torti fand es Klasse. Lüppi und Mario mussten schmunzeln. Wilhelm hingegen wunderte sich über das Gesprächsthema auf einem Kindergeburtstag, dies sagte er auch.
„Jetzt weiß ich mal endlich, wie ein Geburtstag bei Polizeibeamten aussieht.“
„Was macht denn die KTU, um die Fingerabdrücke zu untersuchen?“, wollte die andere Freundin wissen.
Gördi erklärte es ihr mit Unterstützung von Heike. Alle drei Mädchen fanden das sehr interessant. Eine der beiden Freundinnen meinte danach.
„Jetzt weiß was ich später von Beruf werden möchte. Ich werde KTU-Mitarbeiterin.“
„Wie lange dauert denn die Untersuchung und wann wisst ihr, was in dem Brief steht?“, fragte die andere.
„Petra bringt Montag den Koffer und den Briefumschlag zur KTU. Die werden aber auch nicht sofort dafür Zeit haben. Wenn sie dann mit der Untersuchung fertig sind, schreiben sie einen Bericht und wir bekommen diesen mit allen Dingen gebracht oder holen alles ab.“
„Das dauert ja mehrere Tage“, stellte Nina fest.
„Ja, ist richtig“, antwortete ihr Vater Gördi, wobei er zu seinem Vorgesetzten und Freund sah.
Lüppi verzog sein Gesicht und sah zu Nina, die ihn auch ansah.
„Papa! Lüppi scheint das nicht zu gefallen, dass das so lange dauert, oder Lüppi?“, fragte sie ihn zum Schluss.
„Das hast du gut beobachtet, das gefällt mir wirklich nicht“, erwiderte Lüppi.
„Ich habe unbenutzte Einweghandschuhe in der Küche unten im Spülschrank“, gab Torti den Hinweis.
Lüppi sah seinen Schatz an und lächelte. Petra sah die Blicke und fragte in Richtung Lüppi.
„Soll ich sie holen?“
Er nickte nur und Nina hatte einen Heidenspaß.
Samstag, 16.15 Uhr
Duisburg
Alessio und Antonio überlegten mit den sechs zusammen, wann die kalabrische Organisation es wohl geschafft hatte zwei Polizeibeamte als Spitzel für sich zu gewinnen. Frank fiel wieder das Treffen am Mittwoch, den 26. Juli 1995 ein, als die ganze Familie sich mit Lüppi, den anderen Kriminalbeamten und den zwei Staatsanwälten in Mühlheim an der Ruhr in einem italienischen Restaurant getroffen hatten. (Kommissar Lüppi - Band 4)
„Zwei der anderen Beamten, die Namen waren… äh, mir fallen jetzt nur die Vornamen ein. Axel und Oli hießen sie, meine ich. Könnt ihr euch noch an die erinnern?“, fragte Frank.
„Ja, können wir“, kam von Giuseppe und Giovanni gleichzeitig.
„Erzähl mal weiter, Frank“, bat Alessio.
„Da hat es doch eine fragwürdige Situation gegeben. Die beiden wollten zu Anfang nicht versprechen, über eure Beziehung zur kalabrischen Organisation nichts weiterzugeben oder da drüber zu sprechen? Erst als der Staatsanwalt Marcel Pohlmeier sich recht eindringlich an sie gewandt hatte, versprachen die beiden es.“
„Ich erinnere mich daran sehr gut“, sagte Alessio. „Es ist mir daraufhin schwergefallen überhaupt es zu erzählen. Ich musste erst tief durchatmen und war mir alles andere als sicher, ob ich wirklich darüber reden sollte. Ich habe noch kurz überlegt, ob ich wohl darum bitten sollte, dass dieser Axel und dieser Oli mal vor die Tür gehen sollten.“
„Wäre vielleicht nicht verkehrt gewesen?“, überlegte Michaela laut.
„Daran kann ich mich auch erinnern“, bestätigte Antonio die Aussage seines Bruders.
„Vielleicht sprechen wir einmal mit Lüppi darüber“, machte Mark den Vorschlag.
„Eine gute Idee, denke ich“, sagte Francesca und auch ihr Bruder Giovanni war der Ansicht und meinte.
„Das sollten wir tun. Möglicherweise haben die auch schon einen Verdacht in diese Richtung.“
Wie recht er damit haben würde, wussten er zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht.
Samstag, 16.30 Uhr
Essen Frohnhausen
Petra hatte die Einweghandschuhe aus Torti´s Küche geholt. Sie hatte zwei angezogen und den Briefumschlag langsam und sehr vorsichtig geöffnet, nachdem zuvor Lüppi diesen, ebenfalls mit Handschuhen, abgetastet hatte. Als der Umschlag offen war, schaute sie vorsichtig hinein. Es war ein zusammengefaltetes Schreiben und ein weiterer gefalteter Briefumschlag darin. Sie zog beides langsam heraus und legte den ersten Umschlag wieder zurück in den Gefrierbeutel aus dem Hotel. Nach dem auseinanderfalten des Briefes warf sie einen ersten Blick darauf und meinte nur kurz.
„Oh… das ist Ausländisch.“
„Was jetzt nicht wirklich überraschend ist“, fand Gördi.
Nina und ihre zwei Freundinnen zogen sofort einen Schmollmund, da sie bemerkten, man konnte ihn nicht lesen.
„Gib mir auch mal ein paar Handschuhe“, bat Mario.
Die er sich anzog als Petra ihm welche hingehalten hatte. Er nahm den Brief und schaute drauf.
„Das ist nicht italienisch.“
„Sondern? Weißt du, was das für eine Sprache ist?“, fragte Nina neugierig.
„Italienisch mit sizilianisch“, prophezeite Lüppi. „Richtig, Mario?“
„Stimmt. Aber ich kann nicht alles lesen. Hier stehen ein paar Worte, die ich nicht kenne.“
Mario las im Stillen für sich. Alle sahen ihn gespannt an. Es dauerte. Nina wurde nach zehn Minuten langsam unruhig und rutschte auf ihrem Stuhl herum. Als sie es nicht mehr aushielt, fragte sie ihn.
„Und kannst du schon was sagen?“
„Einen Augenblick noch“, bat er und las weiter ohne hochgesehen zu haben.
Nach einigen weiteren Minuten sah er die anderen an.
„Und was hast du gelesen?“, fragte Nina noch neugieriger als zuvor.
„Also, es ist ein Schreiben an seinen Bruder Floridano. Er, der tote Nevio Sorrentino, schreibt ihn an, damit er der Mama es vorsichtig beibringen kann. Er schreibt hier, Floridano hätte recht damit gehabt als er ihm geraten hat sich nicht mit Signore Carbone und Signore Mascali einzulassen. Er hat es wohl mehrfach sehr bereut nicht ein einfacher Anwalt auf Sizilien geblieben zu sein. Er vermisst anscheinend seinen Heimatort Collesano sehr. Er bereut es auch sich nicht für Rosalie entschieden zu haben als sie ihm einen Heiratsantrag gemacht hat. Er ärgere sich schwarz, sie verstoßen zu haben und dem Geld nachgerannt zu sein. Er wäre sehr einsam hier in Deutschland gewesen. Gewesen deshalb, weil er hier schreibt. Ich übersetze.
‚Wenn du diesen Brief liest, dann nur, weil ich mit meinen Befürchtungen Recht gehabt habe. Ich habe sehr gehofft, ich würde diese Zeilen umsonst schreiben und es müsste sie nie jemand lesen müssen.‘
Weiter steht hier sinngemäß, hier verstehe ich leider nicht alles, der beigefügte Brief solle er, also dieser Floridano, bitte ungeöffnet an die Generalstaatsanwaltschaft schicken. Auf dem zweiten Umschlag steht eine Anschrift aus Genua darauf“, berichtete Mario.
„Steht denn darin was passiert ist und warum er befürchtet nicht mehr zu leben?“ fragte Heike nach.
„Ja, aber auch da kann ich nicht alles übersetzen. In meiner Klasse in Oberhausen hatte ich einen italienischen Freund. Er hieß Alfio. Alfio kam mich seinen Eltern aus Pallavicino. Das ist ein kleiner Ort bei Palermo. Von ihm habe ich das eine oder andere sizilianische Wort gelernt, aber halt nicht alle. Was ich sagen kann ist, er schreibt hier.
‚Er habe einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Er habe einen Vertrag, der sehr wichtig war, nicht ganz und leider nur oberflächig gelesen.‘
Weiter berichtet er darüber, er habe sehr viele Kenntnisse über die illegalen Machenschaften der Organisation. Damit meint er wohl die sizilianische Organisation von Bernardo Carbone.“
„Mario, sonst steht da nichts mehr in dem Brief?“, fragte Nina nach.
„Nein, nicht viel“, antwortete Mario. „Nur das es ihm leid tut in den letzten vier Jahren nicht Mama besucht zu haben und ihn, seinen Bruder. Das war es im Grunde genommen.“
Petra, Mario und Nina schauten erwartungsvoll zu Lüppi. Er bemerkte die Blicke und sagte zu Petra, sie solle auch ganz vorsichtig den Brief an die Generalstaatsanwaltschaft in Genua öffnen. Was sie dann auch unverzüglich tat. Als das Schreiben aus dem Umschlag war, sah sie kurz darauf und gab es ihrem Mario.
„Das kann ich besser lesen. Das Schreiben ist nur auf Italienisch“, sagte Mario. „Ich lese einmal leise nur für mich.“
Schaute Nina an und sagte zu ihr.
„Du musst jetzt noch einmal ein paar Minuten warten.“
Nina nickte, sagen tat sie nichts, bis er fertig war.
Dafür wollte Wilhelm wissen, um was für einen Mord es sich handeln würde, der im Hotel Amadeus geschehen war. Da Torti direkt neben Wilhelm saß flüsterte sie es ihm leise zu. Erstaunt sah er sie an, als sie fertig war.
„Davon habe ich gar nichts in der Zeitung gelesen“, sagte er entrüstet.
„Das ist auch besser so“, erwiderte Gördi.
„Ich bin durch“, ließ Mario von sich nach einiger Zeit hören. Alle sahen ihn an.
„Ich habe aber nicht alles gelesen, sondern nur grob überflogen und fasse es jetzt auch nur zusammen“, sagte Mario und hielt die fünf A4 Seiten hoch in die Luft.
„Es ist eine Auflistung von Verbrechen der Sizilianischen Organisation, wie schon zu erwarten gewesen war. Nevio Sorrentino führt hier Verbrechen von unserem Michele Alessandro Mascali auf, von denen er weiß. Es ist eine recht lange Liste. Er soll mehrere Morde in Auftrag gegeben haben. Diese wurden immer als ‚verreisen‘ oder ‚abreisen‘ bezeichnet. Weiter schreibt er, es sind noch viel mehr Verbrechen, Bestechungen und Morde von ihm beauftragt worden, von denen er aber nur gehört hat. Dann hat er direkte Kenntnisse zu sechs Morden von den Mancini-Brüdern, die er hier beschreibt. Es geht dabei um einen Italiener Edorado Silvestri. Der gehörte selbst zur Organisation, hat aber einen Fehler gemacht und wurde deshalb beseitigt. Es sollen aber zwei andere verurteilt worden sein statt der eigentlichen Schuldigen. Das sollen ein gewisser Andrea Donati und Mattia Prias sein. Die sitzen anscheinend in Frankfurt ein. Als nächstes ein Deutscher aus Bayern, der hieß Xaver Hofmann und war Mitarbeiter bei Schreiber Motorsport in Freilassing. Dann ein Russe Namens Wladimir Pawlow, der zur Russischen Organisation von Sergej Bobrow gehört hat. Er hat wohl den Xaver Hofmann beseitigt und dabei auch einen Fehler gemacht, was ihn dann auch sein Leben gekostet hat. Als nächstes ein weiterer Deutscher. Der hieß Guido Richter, kam aus dem Taunus und war Mitarbeiter von dem Jannson-Rennteam. Dann eine echte Überraschung. Es geht dabei um zwei Männer von einer Bank in Frankfurt am Main. Deren Namen sind vor zwei und drei Jahren durch die Presse gegangen. Im Fernsehen wurde darüber groß berichtet und ein Suchaufruf wurde für beide gestartet. Das waren Herman Huber aus der Kreditabteilung und einer vom Vorstand der Bank, der Dr. Ulrich Feldmann. Zu allen diesen sechs Morden hat er ziemlich genau beschrieben, was vorgefallen und wie es abgelaufen ist. Wie weit er selbst in den Fällen mit dringehangen hat, steht hier nicht. So das war es.“
(siehe Romanreihe: Der Rennfahrer Mark Kirchheim)
Mario sah zu Petra und danach zu Lüppi. Dabei fielen ihm die Gesichtsausdrücke von den drei Mädchen auf. Sie machten große Augen und deren Münder standen auf. Es kamen ihm Zweifel, ob das eine gute Idee war, eine derartige Zusammenfassung zu erzählen. Wilhelm sah zu Lüppi und Torti und meinte.
„Ich hatte ja keine Ahnung mit was für Mordfällen ihr euch jeden Tag beschäftigen müsst. Mein Gott! Äh…“, sagte er, unterbrach, sah sich um als wenn jemand zuhören könnte, der nichts mitbekommen dürfte.
„Was wolltest noch sagen, Wilhelm?“, fragte Torti.
Er beugte sich vor und fragte leise.
„Könnt ihr nachts überhaupt ruhig schlafen?“
„Bis jetzt kein Problem“, antwortete Lüppi und Gördi stimmte ihm zu.
„Ist der Brief echt?“, fragte die eine Freundin von Nina.
„Steht das wirklich alles da?“, fragte die andere.
Mario nickte nur, so wie es sonst Lüppi tat.
„Boh ey, ist das spannend“, meinte Nina. „Wie geht es jetzt weiter?“
„Wir werden den angegebenen Fällen nachgehen und überprüfen, wie weit das dort Geschilderte stimmen kann“, sagte Heike.
„Können wir jetzt schon was überprüfen?“, wollte Nina weiter wissen.
„Nicht heute am Samstag und auch Montag wird das nicht sofort klappen, da es in Bereiche von anderen Dienststellen fällt. Wir müssen um Auskunft und Amtshilfe bitten. Das wird nicht so schnell gehen“, antwortete ihr Vater.
„Sind denn alle eure Fälle so grauenhaft?“, fragte Wilhelm nach.
„Nein, es gib auch weniger Schlimme“, sagte Petra.
„Und wie sehen die aus?“, fragte Wilhelm.
„Einer der aktuellen Fälle zum Beispiel. Da sind meine Kollegin und ich am Donnerstag nach Essen Bergerhausen gerufen worden. Dort wurde von einer Nachbarin ein Einbruch gemeldet. Als die Streifenkollegen dort eintrafen haben sie den Bewohner tot vorgefunden.“
„Woran ist der Mann gestorben?“, fragte Nina.
„Er wurde nur erstochen.“
„Erstochen? In seiner eigenen Wohnung?“, fragte Wilhelm nach. „Und das sind die weniger schlimmen Fälle?“
„Ja, sind sie“, antwortete Petra und bemerkte erst zu dem Zeitpunkt, wie sich das für Außenstehende anhören musste.
„Heißt das, er wurde erstochen, weil ein Verbrecher ihn bestohlen hat?“, fragte eine der Freundinnen.
„Ja, leider.“
„War der Mann schon sehr alt?“, wollte Nina wissen.
„Nein, war er nicht. Er war 50 Jahre alt“, antwortete Petra.
„Was war der Verstorbene von Beruf?“, fragte Wilhelm.
„Interessant das du fragst, er war Pastor. Arbeitete aber nicht mehr als solcher.“
„Pastor? Der Einbrecher hat einen Geistlichen umgebracht?“, fragte Wilhelm mit Erschrecken nach. „Wisst ihr, warum er nicht mehr als Pastor gearbeitet hat?“
„Bis jetzt nicht. Müssen wir am Montag im Pfarrhaus der Gemeinde in Gelsenkirchen herausfinden“, antwortete Petra.
„Gelsenkirchen? Jetzt sag nicht, der war in der katholischen Gemeinde von St. Joseph, die in Gelsenkirchen Schalke ist“, sagte Wilhelm.
„Doch… wieso?“
„Da wohnt mein Bruder Hubert. Der hat mir von dem Pastor erzählt.“
„Weißt du noch den Namen von dem Pastor?“
„Zauber? ... Mmh, oder so ähnlich wie… Zaun? … oder so?“
„Vielleicht Zeuner, Hartmut Zeuner?“, fragte Petra nach.
„Ja, genau, das war der Name!“
„Was weißt du denn über ihn?“
„Er musste die Gemeinde verlassen, weil er sich nicht an das Zölibat gehalten hat“, informierte Wilhelm und machte ein entsprechendes Gesicht.
Petra sah daraufhin zu Lüppi und Torti und danach zu Heike und Gördi.
„Was ist ein Zölibat?“, wollte Nina wissen.
Petra musste schlucken und sah sie etwas hilflos an.
„Das kann ich dir erklären“, sagte Torti. „Stell dir vor, dein Vater schreibt dir vor, du dürftest ab morgen nie mehr Süßes essen. Du versuchst dich auch daran zu halten, aber du kannst irgendwann deine Finger doch nicht vom Süßen lassen und er schmeißt dich aus der Wohnung.“
„Boh, wie gemein ist das denn!“, sagte Nina entrüstet.
Auch ihre beiden Freundinnen fanden ein Zölibat völlig ungerecht und überflüssig.
Torti drehte das Thema, in dem sie auf Süßigkeiten und Schule zu sprechen kam. Nach einer Weile waren die Mordfälle vergessen, so glaubten die sechs und der Geburtstag nahm einen ‚normalen‘ Verlauf. Gegen 20 Uhr wurden die beiden Freundinnen von ihren Vätern abgeholt. Auf die Frage wie die Feier gewesen war antworteten die beiden.
„Ganz toll, ich weiß jetzt, was ein Zölibat ist.“
„Das war ein total cooler Geburtstag. Was wir alles gehört und gelernt haben.“
Gördi wurde etwas mulmig im Magen als er die Antworten hörte.
13. August 1995, Sonntag, 11.00 Uhr
Essen Frohnhausen
Torti räumte den Frühstückstisch ab und Lüppi war im Keller. Gördi, Heike und Nina waren eine halbe Stunde vorher zum Haus von Nina und ihrer Mutter gefahren. Petra und Mario waren in Oberhausen bei seinen Eltern zum Mittagessen eingeladen und machten sich gerade auf den Weg.
Das Telefon schellte im Wohnzimmer. Torti ging dran und meldete sich: „Marianne Lüpke.“
„Steinmeister, guten Tag Frau Lüpke. Ich bin vom LKA Düsseldorf. Mir ist ihre Rufnummer vom Polizeipräsidium Essen gegeben worden. Mir wurde gesagt, ich könnte bei Ihnen den Kollegen Herrn Schwarz erreichen, ist das richtig?“
„Guten Tag Herr Steinmeister. Grundsätzlich ja. Ich weiß aber, dass die drei vorhin weggefahren sind“, teilte Torti mit.
„Darf ich fragen, wen Sie mit den dreien meinen?“
„Frau Buhrmann, Herr Schwarz und seine Tochter.“
„Mit Frau Buhrmann meinen Sie Kriminaloberkommissarin Heike Buhrmann?“
„Ja, das ist richtig. Warum fragen Sie eigentlich?“
„Das kann ich Ihnen nicht mitteilen. Ist Ihr Mann, Martin Lüpke, da? Kann ich ihn einmal sprechen?“
„Der ist gerade im Keller, müsste nachher wieder hochkommen. Ist es dringend?“
„Kann man so sagen. Er möchte mich bitte hier beim LKA anrufen.“
Torti ließ sich die Rufnummer aus Düsseldorf geben und beide beendeten das Gespräch. Sie ging in den Keller und erzählte Lüppi von dem merkwürdigen Anruf. Als beide wieder oben in der Wohnung waren rief Lüppi beim LKA an. Es schellte am anderen Ende.
„LKA, Steinmeister“, war am anderen Ende zuhören.
„Kriminalhauptkommissar Martin Lüpke, guten Tag Herr Steinmeister. Sie wollten mich oder meinen Kollegen sprechen.“
„Guten Tag Herr Lüpke. Ja, ist richtig. Können Sie mir sagen, wann ich den Kollegen Gerhard Schwarz erreichen kann?“
„Die drei wollten am Nachmittag oder spätestens heute Abend wieder zurück sein, mehr weiß ich nicht. Was gibt es denn dringendes?“
„Frau Schwarz ist gestern mit einem Herrn Eberlein von der Niederländischen Polizei aufgegriffen und verhaftet worden. Die beiden hatten gerade zwei Kilogramm Haschisch und vier Kilogramm Marihuana gekauft. Das wäre im Grunde genommen gar nicht aufgefallen, wenn der Niederländer Jan van de Velden nicht observiert worden wäre. Beide befinden sich im Augenblick in Amsterdam in Gewahrsam und sollen morgen dem Haftrichter vorgeführt werden.“
„Ach, du dickes Ei“, ließ Lüppi von sich hören.
„Frau Schwarz muss wohl mehrfach gesagt haben ihr Mann wäre bei der Kriminalpolizei. Daher waren die Kollegen dann so nett und haben uns verständigt.“
„Das war sehr freundlich von den niederländischen Kollegen“, bestätigte Lüppi.
„Herr Schwarz kann jetzt einen Anwalt besorgen und morgen um 11 Uhr in Amsterdam bei Gericht sein. Ich gebe Ihnen mal die Adresse.“
„Das können Sie sein lassen. So wie ich meinen Kollegen einschätze wird er gar nichts unternehmen und schon gar nicht morgen nach Amsterdam fahren“, antwortete Lüppi.
„Ist das jetzt Ihr Ernst?“, fragte Herr Steinmeister nach.
„Und ob“, sagte Lüppi und erzählte ihm von dem Verschwinden und dem Alleinlassen der Tochter. Auch das Nina am Vortag Geburtstag hatte.
Dem LKA Beamten fehlten die Worte.
„Ich werde Gerhard darüber informieren. Er kann dann entscheiden, was er machen will, aber gehen Sie davon aus, ich behalte recht.“
„Na, gut, ich informiere vorab schon mal die niederländischen Kollegen von Ihrer Einschätzung.“
Wenig später war das Gespräch beendet. Lüppi schrieb einen Zettel, den er an die Wohnungstür der drei hängte.
Sonntag, 14.00 UhrItalien, Sizilien Ort, Novara di Sicilia
Bernardo Carbone und Michele Alessandro Mascali saßen zusammen auf der mit Weinreben überdachten Terrasse. Sie hatten jeder einen Caffè vor sich und schauten zum Meer.
„Wo sind denn die Mancini-Brüder?“, wollte Michele wissen, schaute dabei aber weiterhin zum Meer.
„Wieder auf dem Weg ins Ruhrgebiet. Aber verdeckt. Die beiden haben sich in Süd-Tirol ein Auto mit deutschen Kennzeichen genommen, damit sie nicht auffallen“, antwortete Bernardo und sah auch nicht zu Michele.
„Was machen die beiden da?“, fragte Michele.
„Den Hinweisen von Giacomo nachgehen und dann wahrscheinlich aufräumen“, antwortete Bernardo und erzählte von dem Anruf am Donnerstagabend.
„Was willst du machen, wenn die beiden Kontaktpersonen auffliegen?“, fragte Michele.
„Sag mir, was du machen würdest“, antwortete Bernardo.
„Sie abreisen lassen. Lieber keinen Informanten, als einen, der redet.“
„Sehe ich auch so“, bestätigte Bernardo und schaute zu seinem alten Freund hinüber.
„Ja, bitte?“, fragte Michele zurück.
„Hätten wir nicht die Hamit-Familie einspannen sollen?“, erkundigte sich Bernardo.
„Nein, hättest DU nicht machen sollen. Es sind halt keine Sizilianer.“
„Ich hätte dich viel früher hierher zurückholen sollen.“
„Stimmt, da gebe ich dir recht“, sagte Michele.
„Entschuldige bitte“, sagte Bernardo.
Sonntag, 19.00 Uhr
Essen Frohnhausen
Heike klopfte bei den beiden an. Sie hatte den Zettel entdeckt. Torti machte die Tür auf und winkte sie in die Wohnung, wo sie dann von dem Anruf von Herrn Steinmeister erfuhr. Heike war erstaunt und ging zu Gördi. Wenig später kamen alle drei zurück.
„Nina kann es ruhig erfahren, irgendwann erfährt sie es ja sowieso“, meinte Gördi.
„In Ordnung“, war wie so häufig Lüppi´s Standardantwort.
„Also Nina, ich muss dir etwas erzählen“, sagte Lüppi weiter und erzählte im ruhigen sachlichen Ton von dem Gespräch mit dem LKA Beamten. Als er fertig war fragte Gördi seine Tochter, was sie dazu sagen würde.
„Ist kein Problem, wenn meine alte Mama jetzt ins Gefängnis muss“, sagte Nina. „Sie hat etwas falsch gemacht und muss jetzt dafür büßen. Muss ich ja schließlich auch, wenn ich Scheiße gebaut habe.“
Ging zu Heike, nahm sie in den Arm und sagte: „Ich habe jetzt eine viel bessere Mama.“
Gördi freute sich über die für ihn plötzliche Wendung. Nina wollte nach einiger Zeit wissen, was ihrer alten Mama denn jetzt blühen würde.
„Es kann sein, dass sie für einige Jahre ins Gefängnis muss“, sagte ihr Vater.
„Wo, hier in Deutschland oder in der Niederlande?“, fragte sie zurück.
„Wenn, dann wahrscheinlich in der Niederlande.“
„Wir fahren aber, wann immer du möchtest, mit dir zu ihr, damit du sie besuchen kannst“, versprach Heike.
„Besuchen? In der Niederlande?“, fragte Nina nach.
„Ja, natürlich.“
„Nee, muss nicht sein. Ist ja auch sehr weit bis dahin, oder?“, fragte Nina.
„Es geht. Das schaffen wir an einem Tag hin und wieder zurück.“
„Das geht nicht, ich muss ja zur Schule und ihr zwei müsst Verbrecher fangen, wie meine vorherige Mutter.“
„Schlaf da mal drüber“, sagte Gördi. „In ein paar Wochen möchtest du sie bestimmt besuchen.“
„Mama, muss ich dahin?“, fragte Nina und nahm Heikes Hand.
„Wenn du nicht willst, muss du auch nicht“, antwortete Heike ihrer neuen Tochter.
„Danke, Mama, du bist lieb.“