Читать книгу Der Stein - Markus Singer - Страница 4
33 n. Chr. Judäa Jerusalem
ОглавлениеPontius Pilatus lief in seinem Gemach auf und ab. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Mann aus politischen Gründen verurteilt und dem Tode überantwortet hatte. Aber diesmal war alles so anders. Was beunruhigte ihn nur so sehr?
Als er diesem Mann in die Augen gesehen hatte, wusste er, dass er unschuldig war. Er konnte seine eigene Reaktion nicht verstehen. Was hatte er nur getan?
Er lief zu der kleinen Wasserschale und wusch sich zum – ja zum wievielten Male wusch er sich eigentlich die Hände? – er konnte es nicht sagen. Aber in den letzten Stunden bestimmt schon zum zwanzigsten Male.
Als sie ihm den Mann brachten, hatte er bereits gewusst, dass er mit seinem Urteilsspruch die Gemüter einiger einflussreicher Männer beruhigen sollte. Er hatte, und zum ersten Mal war es ihm schwer gefallen, dies anzuordnen, den Mann geißeln lassen. Und er hoffte, dass die Rädelsführer dieser Verschwörung gegen den kleinen Prediger so besänftigt werden würden.
Aber das hatte ihnen nicht gereicht! Sie verlangten den Tod dieses Mannes.
Pilatus hatte zudem gehofft, als er nach alter Sitte zum Pessach-Fest einen Straftäter begnadigte, das Volk würde fordern, diesen Mann, welchen Sie Christus nannten, frei zu lassen. Aber als hätte sich das Schicksal gegen ihn verschworen. Das Volk, das sich vor seinem Palast versammelt hatte, rief lautstark den Namen eines stadtbekannten Räubers und Mörders. Sicher ein von Christus` Widersachern geschickt eingefädeltes Komplott, und in Sorge um die Ordnung und Sicherheit in seinem Herrschaftsbereich hatte er dem Druck der Massen nachgegeben.
Pilatus grübelte, einen Mörder begnadigt und einen unschuldigen Mann in den Tod geschickt? Nicht, dass Pilatus ein zimperlicher Mann war. Er hatte schon selbst Männer mit falschen Beschuldigungen aus dem Weg geräumt. Aber in jedem Fall hatte er irgendeine Begründung gehabt, die seine Tat vor seinem Gewissen gerechtfertigt hatte. Nicht so diesmal!
Wieder schritt er zu der Wasserschale. Wütend rief er nach einem seiner Dienstboten und ließ die Schale leeren und frisches Wasser bringen.
Seine Hände klebten. Sie klebten als würde warmes Blut auf seiner Haut langsam gerinnen.
Wieder wusch er seine Hände und streifte weiter durch das Zimmer, wie ein Tier in einem zu kleinen Käfig. Er brütete vor sich her. Suchte einen Weg, sich doch noch aus dieser Situation zu befreien, aber er fand keinen.
Die eigenen Götter waren Pilatus immer nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Ein Trost für die Schwachen, ein Werkzeug, die Massen zu bändigen. Nachdem er sich wieder dabei ertappt hatte, wie er seine vermeidlich besudelten Hände in die Wasserschale tauchte, trat er aus dem Zimmer ins Freie, sah zum Himmel auf und bat den Gott dieses Mannes, den sie Christus nannten, die Hinrichtung möge nicht lange dauern.
An einer anderen Stelle Jerusalems kämpfte ein weniger bedeutender Mann, ein kleiner Soldat, mit ähnlichen Zweifeln.
Lucius schmerzte selbst jeder Schlag, mit dem er die Nägel durch Arme und Beine dieses Mannes trieb. Das Blut des Verurteilten lief ihm warm über die Fingerspitzen und er fühlte seine eigene schreckliche Schuld ebenso stark, wie die Unschuld des Mannes, den er ans Kreuz schlug. Der Körper des Mannes war mit vielen Wunden überzogen und sein Haupt trug eine Krone, welche aus Dorngestrüpp geflochten war. Hinter Lucius schrie und johlte eine Menschenmenge, die von den Wachen nur schwer unter Kontrolle zu halten war. Spottverse, lautes Klagen und verzweifelte Schreie hallten durch die Luft. Lucius war schweißgebadet als er den letzten Nagel durch die Beine des Mannes getrieben hatte. In Lucius Augen bildeten sich Tränen der Verzweiflung. Leise entschuldigte er sich in lateinischer Sprache bei dem Mann der vor ihm lag. Dieser konnte ihn sicher nicht verstehen, denn es war ein jüdischer Rabbi, den sie Jesus nannten. Dann geschah etwas Seltsames. Der Verurteilte sah ihn an und sprach zu ihm. Lucius war erst vor zwei Wochen hierher versetzt worden, die Sprache des Mannes kannte er nicht, und doch konnte er ihn verstehen. „Es sei Dir vergeben. Wir alle müssen unsere Bestimmung erfüllen. „
Obwohl die Sonne erst vor kurzem über den Horizont gestiegen war, wurde es bereits ungewöhnlich heiß und bis Mittag würde es noch schlimmer werden. Aber die Hitze war wohl nur in zweiter Linie für den Schweiß verantwortlich, der Lucius aus allen Poren trat.
Das Kreuz wurde aufgestellt. An dem senkrechten Balken des Kreuzes hatte ein Soldat ein Schild mit der Aufschrift: „Der König der Juden„ angebracht.
Lucius war verstört. Links und rechts des Rabbi wurden die Kreuze zweier weiterer Männer aufgestellt. Mit diesen empfand er kein Mitleid, denn es waren stadtbekannte Räuber und Mörder. Die Soldaten konnten die Menge, die nun noch stärker tobte, kaum im Zaum halten.
Lucius sah immer wieder zu dem Rabbi hinauf. Was ging von diesem Mann aus, was ihn so besonders erscheinen lies? Die Gewänder der beiden stadtbekannten Verbrecher lagen unbeachtet an der Stelle, an der man sie zur Kreuzigung entkleidet hatte. Wohingegen das Gewand des Rabbi, ein einfacher Überwurf mit Rissen an vielen Stellen, zum Hohn auf diesen Mann unter den Soldaten verlost wurde, wie eine überaus wertvolle Beute. Der Soldat, dem das Gewand zufiel, warf es über und zwei andere taten, als würden sie ihn anbeten. „ Heil Dir, König der Juden„, hörte Lucius sie rufen.
Die drei Gekreuzigten, die nackt an die Balken genagelt waren, riefen sich Worte zu. Trotz der tobenden Menge und der ihm eigentlich unbekannten Sprache verstand Lucius jedes Wort.
Der Mörder links des Rabbi sprach: „Bist Du denn nicht der versprochene Retter? Dann hilf Dir und uns! „
„ Hast Du immer noch keine Furcht vor Gott? Wir beide erhalten unsere gerechte Strafe. Aber er hat nichts unrechtes getan. „ , erwiderte der Mörder auf der anderen Seite und dann sprach er zu dem Rabbi: „ Erinnere Dich an mich, Jesus, wenn du deine Herrschaft antrittst !„
„Ich sage Dir, Du wirst noch heute mit mir im Paradies sein„ , hörte Lucius den Rabbi sagen.
Diese Worte trafen ihn tief ins Herz. Die seltsamen Ereignisse, die Schuldgefühle, das plötzliche Verstehen einer fremden Sprache und die feste Überzeugung der Errettung, die aus den Worten dieses Jesus sprachen, zogen ihn in den Bann. Die anderen Soldaten spotteten über Jesu, tränkten einen Schwamm mit Essig und hielten ihn Jesus mit einer Lanze hin, als wollten sie seinen Durst löschen.
Gegen Mittag, als die Sonne den höchsten Punkt erreicht hatte, überschlugen sich die Ereignisse. Jesus rief laut: „Vater. In deine Hände lege ich meinen Geist„ . Dann sackte er in sich tot zusammen. Im selben Augenblick wurde die Sonne schwarz und tauchte das ganze Land über Stunden in dunkelste Nacht. Es wurde innerhalb von wenigen Augenblicken kalt und die Menge verstreute sich in wilder Panik. Die Leute flohen in die Stadt. Der Hauptmann, der die Aufsicht über die Hinrichtung führte, schrie gellend:
„Was haben wir getan?„ Dann warf er sich zu Boden und bat den Gott der Juden um Vergebung. Lucius sah den toten Rabbi an und hatte wieder Tränen in den Augen.
Ein anderer Soldat zeigte sich von dem ganzen Geschehen unbeeindruckt. Er schnürte das Werkzeug, mit dem sie die Männer ans Kreuz geschlagen hatten, zu einem Bündel und räumte sein Geschirr zusammen. Da Kreuzigungen oft sehr lange dauerten, hatten viele Wachsoldaten etwas zu Essen dabei. Als der Mann mit dem Werkzeugbündel nach einer Brotschale aus Holz griff, stellte er fest, dass in diese Schale Blut getropft war. Angewidert warf er die Schale weg. Lucius hatte die Schale erst bemerkt als sein Kamerad sie wegwarf. Er wusste, dieses Blut stammte von dem Rabbi. Ohne genauer zu verstehen warum, starrte er lange Minuten darauf. Dann rissen ihn die Rufe der anderen Soldaten aus seiner Trance.
Nachdem die Soldaten den Tod Jesu überprüft hatten, wurde der Leichnam auf Befehl des Statthalters an einen Juden namens Josef übergeben. Nachdem die anderen Verurteilten ebenfalls verstorben waren, kehrte Lucius heim zu Frau und Kind. Nachts wurde er von schrecklichen Träumen gequält und es trieb ihn wieder hinaus zum Platz der Hinrichtung. Da er, wie die meisten Neulinge in den ersten Wochen, solche unangenehmen Aufgaben wie Wache stehen, Hinrichtungen und andere Bestrafungen ausführen musste, kannte er die Torwachen. Den Soldaten erzählte er, dass seine Frau ihm den Kopf abreißen würde, wenn er nicht das Bündel hole, welches er auf der Richtstätte zurückgelassen hatte. Daraufhin musste Lucius sich großen Spott gefallen lassen. Die Wachen bezeichneten ihn als Weichling und seine Frau als Cerberus, aber er wusste wofür er sich verspotten ließ. Er suchte die Schale, er musste sie einfach haben. Und er fand sie. Als er an diesem Morgen das Blut Jesu an den Fingern gespürt hatte, wusste er um die Kraft, die von diesem Mann ausging und nun konnte er fühlen, wie ein Teil dieser Kraft in dieser Schale war. Er steckte die Schale unter sein Gewand und kehrte in seine Unterkunft zurück.
Am anderen Morgen hörte Lucius, dass zur selben Zeit als sich der Himmel verfinstert hatte, im Tempel der Juden ein Vorhang gerissen und die jüdischen Gelehrten in große Verwirrung gestürzt seien. Zwei Tage später hieß es, der Leichnam Jesu sei verschwunden und lebendig auf der Straße nach Emmaus, einem kleinen Dorf vor Jerusalem, gesehen worden. Lucius begann Nachforschungen über Jesu anzustellen. Er hörte vom Leben und Wirken dieses Mannes, was ihm das Herz noch schwerer machte. Die Schale hütete er wie einen Schatz.
Ein Jahr bevor Lucius seinen Dienst in der Römischen Armee beendete, beging Pontius Pilatus Selbstmord. Es hieß, er sei durch Albträume in den Wahnsinn getrieben worden, Albträume in denen es um diesen Jesus ging. Bald nachdem Lucius aus dem Dienste des Militärs entlassen worden war, schloss sich er mit seiner Frau und seinen Kindern einer christlichen Gemeinde an.
Die Schale hütete Lucius jahrelang als Geheimnis vor der Gemeinde, aus Scham den Heiland hingerichtet zu haben. Als er starb, vermachte er sie seinem ältesten Sohn, der das Geheimnis weiter hüten sollte. Aber die Existenz und die Geschichte dieses Gefäßes kamen durch einen dummen Zufall ans Licht, und einige in der Gemeinde verfielen in eine heidnische Anbetung dieser Schale. Eines Tages umstellten römische Soldaten die Gemeinde und alle Männer, Frauen und Kinder wurden verhaftet und das wenige, was sie besaßen, beschlagnahmt. Wie viele andere bekennende Christen, wurden sie grausam hingerichtet. Nur wenige entkamen der Verfolgung und wurden zu den Gründern des Christentums.