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18. September 1690 Kerien im Nordwesten Frankreichs
ОглавлениеMarcel Dermount, ein junger Geistlicher aus einer kleinen Stadt im Norden Frankreichs, war auf dem Weg seine Priesterstelle bei Kerien anzutreten. Sein Vorgänger, Pater Pierre Dymont, der über 20 Jahre in dieser kleinen Gemeinde für das Seelenheil der Menschen gesorgt hatte, war plötzlich und unerwartet gestorben.
Der lange, beschwerliche Weg in diesen abgelegenen Ort gab Marcel die Gelegenheit über seine neue Verantwortung nachzudenken. Würde er sich seiner Berufung würdig erweisen?
Der lange Marsch war anstrengend. Aber in Corlay meinte es das Glück gut mit ihm. Er traf einen Bauern, der ihn die letzten Kilometer auf seinem Eselskarren mitnahm. Ein Gespräch mit dem Bauern gab Marcel einen ersten Einblick in das Leben, das ihn erwartete.
Pater Dermount litt an einer Verletzung, die er sich in jungen Jahren zugezogen hatte. Seine Eltern hatten ihn sehr früh ins Kloster gegeben und der junge Marcel hatte versucht aus dem Kloster zu entkommen. Auf seiner Flucht war er so unglücklich gestürzt, dass er sich das Schienbein brach. Der Bruch war trotz der bemühten Pflege der Mönche schief verheilt. Deshalb hinkte er ein wenig, was ihm den Marsch zu seinem neuen Amt erschwerte. Marcel hatte diese gescheiterte Flucht immer als ein Zeichen gesehen, dass er zum Priester und Mönch berufen sei. Er hatte es nicht bereut. Im Kloster wurde ihm Schreiben und Lesen beigebracht und er hatte Zugang zu Büchern, worin er eine große Gnade sah.
Die 300 Seelengemeinde Kerien lag abgeschieden auf einem Hügel und die nächste Pfarrei befand sich in der, gut 12 Kilometer entfernt gelegenen, Gemeinde St. Péver. Bei seiner Ankunft im Dorf erregte Marcel viel Aufsehen, denn in der Abgeschiedenheit dieses Dorfes waren die Bewohner für Neuigkeiten besonders empfänglich. Die Dorfkirche war für die kleine Gemeinde unerwartet groß, aber in einem erbärmlichen Zustand. Das riesige Gebäude sah aus wie eine verkleinerte Nachbildung des Notre Dame in Paris, dass Marcel von einer Zeichnung in einem Buch kannte. Er fragte sich, wie der kleine Ort wohl zu diesem Bauwerk kam? Zur Kirche gehörte eine kleine Hütte, die ebenfalls in keinem besonders guten Zustand war. Das Dach leckte und eine der Seitenwände wies große Risse auf, weshalb sie außen mit großen Balken abgestützt war.
Als Marcel das Innere der Kirche betrat, löste sich ein Dachbalken und stürzte auf den Altar. Der Sockel, auf dem der gewaltige Altarstein thronte, brach daraufhin auf der linken Seite zusammen, Staub wirbelte auf und aus einem Hohlraum, der nun frei lag, schimmerte etwas Silbriges. Fasziniert von dieser Entdeckung trat Marcel, ohne an die Gefahr des baufälligen Daches zu denken, zum Altar. Er wusste, dass in jeder katholischen Kirche die Reliquie eines Heiligen gelagert wurde. Ein Fingerknochen, etwas Asche oder was immer man von dem jeweiligen Schutzpatron hatte. Neugierig kniete der Priester vor dem Sockel und konnte den silbernen Gegenstand unter dem Altar hervorziehen. Es war ein mit kunstvoll bearbeitetem Silberblech verzierter Holzkasten. In die silbernen Ornamente waren an einigen Stellen goldfarbene Blechstücke eingelassen. Auf der Oberseite war ein seltsamer grüner Stein in einer aufragenden Fassung angebracht. Marcel erhob sich mit dem Kasten. Dieser Prunk schien ihm ungewöhnlich. Selbst für die katholische Kirche. Aber die Faszination war so stark, dass er in diesem Moment nicht darüber nachdachte. Durch ein Loch in einem der verdreckten Seitenfenster fiel zufällig ein Lichtstrahl und erhellte den Stein. Als Marcel plötzlich in dem Stein das Gesicht seines Erlösers zu sehen glaubte, schrie er erschreckt auf.
Einige der Dorfbewohner, die sich neugierig vor der Kirche versammelt hatten, wagten nun ein paar Schritte in die Kirche und trauten ihren Augen nicht. Sie sahen in dem Halbdunkel einen starken Lichtstrahl, der durch ein Seitenfenster in Richtung des Altars, vor dem der Priester stand, einfiel. Sie sahen den Rücken des Priesters, um dessen Kopf sich der Raum zu erhellen schien. Ein dumpfes Rumpeln kam vom Altar her und die Wand über dem Marmorblock färbte sich grün. Der alte Verputz im Altarraum schien zu glühen, an manchen Stellen begann er abzubröckeln und es bildete sich ein Ring, etwa von der Breite zweier Handflächen mit dem Durchmesser eines großen Wagenrades, in dem das blanke Mauerwerk zu sehen war. In der Mitte des so entstandenen Kreises wirkte die Wand, als hätten die Handwerker sie gerade fertig gestellt. Eben an dieser Stelle über dem Opferstein, erschien der Schatten eines Kopfes, aus dem ein immer deutlicheres Bild entstand. Einzelheiten zeichneten sich ab. Augen waren zu sehen, ein Mund, eine Dornenkrone. Dieses Bild brannte sich in die Wand ein. Nach einer halben Minute, als der Lichtstrahl nicht mehr vor den Priester fiel, verdunkelte sich alles.
Pater Marcel kniete nieder, stellte den Kasten ab und hielt ein paar Sekunden inne. Dann sprang er auf, ging zum Eingang, wo er die Bauern, die wie angewurzelt in der Tür standen und sich bekreuzigten, hinaus schickte. Draußen schloss er die Kirche ab und hieß zwei Bauern die Türe zu bewachen. Dabei drohte er ihnen mit den schlimmsten Strafen der Hölle, wenn sie auch nur irgendjemanden durch die Tür ließen.
Dann begab er sich zu der kleinen Hütte, die einstmals Pater Piere als Wohnstätte gedient hatte, und suchte sich etwas zum Schreiben. Plötzlich fiel ihm auf, dass er nicht mehr hinkte. Eine starke Ehrfurcht erfasste ihn. Er verfasste einen Brief an seinen Bischof und schickte sofort einen jungen Burschen los, der den Brief überbringen sollte.
Pater Marcel bewachte die Tür der Kirche, bis der Junge drei Tage später mit zwei Abgesandten des Bischofs zurückkehrte. Die beiden Mönche fanden ihn auf Knien, in ein Gebet versunken, am Ende seiner Kräfte vor dem Eingang der Kirche. Die Tür des Gotteshauses wurde geöffnet und die beiden Männer sanken ehrfürchtig auf die Knie. Die beiden sollten die Vorgänge in Kerien überprüfen, aber es brauchte nicht lange die beiden Männer zu überzeugen: An der Wand gegenüber des Portals, über dem Altar, in der ansonsten dunklen Kirche, leuchtete eine helle weiße Stelle auf, in der man deutlich den mit Dornen gekrönten Kopf eines Mannes sah. Nachdem Pater Marcel mit den beiden Gesandten des Bischofs ein langes Gebet gesprochen hatte, führte er die Männer zu der edel verzierten Holzkiste, die noch so vor dem Altar lag, wie der Pater sie abgestellt hatte. Die Mönche untersuchten die Kiste vorsichtig. Sie sahen zwei Scharniere am oberen Rand und eine kreuzförmige Öffnung auf der gegenüberliegenden Seite, unter der eine Art Wappen angebracht war, offenbar das Zeichen eines Ritterordens. Pater Marcel verließ auf Geheiß der beiden Gesandten die Kirche. Er taumelte hinaus und wurde, als er sich vor der Kirche niedersetzte, vom Schlaf übermannt. Die beiden Männer setzten ihre Untersuchungen fort. Unter dem Altar, in dem kleinen Hohlraum, fanden sie ein zusammengerolltes Stück Kupferblech, das sich beim Ausrollen als Schriftstück erwies.
Der Lateinische Text der Kupferrolle erwies sich als Warnung an alle Ungläubigen, diesen Kasten zu öffnen. Er enthalte das Gefäß, mit dem das Blut Christi, der am Kreuz für die Sünden der Menschheit gestorben und am dritten Tage auferstanden sei, aufgefangen wurde. Die beiden Männer waren entsetzt. Sie waren ausgebildet alles in Frage zu stellen, in jedem Bericht über Erscheinungen Verrat und Ketzerei zu sehen. Aber dieser Umstand füllte die beiden mit einem derartigen Schrecken, dass ihnen zeitweise der Atem stockte. Als seien sie eins, stieg in ihnen das Verständnis um die Fehler der Inquisition auf, um die vielen Unschuldigen, die man dazu gebracht hatte, Christus zu verleugnen. Beiden war die Praxis der Machterhaltung, welcher sich die Kirche in den letzten Jahrhunderten bedient hatte, klar geworden. Wiederum wurde die Kirche verschlossen und ein Bote geschickt.
Pater Marcel wurde in die kleine Hütte neben der Kirche gebracht, wo man ihm ein Lager errichtete. Auch er wurde bewacht. Am nächsten Tag bereits traf der Bischof persönlich ein, in seinem Gefolge waren Soldaten und Gelehrte. Die Soldaten riegelten das Dorf ab und drohten den Dorfbewohnern ewige Verdammnis an, wenn sie über das Geschehene sprächen. Nach zwei Tagen, in denen die Kirche gründlich von einem Dutzend Gelehrter untersucht worden war, zog der ganze Tross ab. Die gezeichnete Stelle über dem Altar wurde abgemeißelt, während die Kupferrolle und der Silberkasten mit an den Bischofssitz genommen wurden. Auch Pater Marcel musste sich dem Zug des Bischofs anschließen. Seine Stelle besetzte ein Mönch, den der Bischof vom Mont St. Michel berief. Nach eingehender Prüfung des Vorfalls wurde Pater Marcel nach Rom, zu Papst Alexander VIII geschickt. Mit dem Kasten, der Kupferrolle und einem großen Aufgebot an Soldaten und Mönchen machte er sich auf die Reise.
Der Zug verließ San Bernadot am 1. März 1691, aber keiner der Männer erreichte Rom oder wurde je wieder gesehen.