Читать книгу Die erste Bahn - Markus Veith - Страница 5

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Er rennt, wild winkend und rufend, obwohl er ahnt, wie aussichtslos sein Bemühen ist. Seine zornigen Flüche, welche er den roten Lichtern hinterherbrüllt, vermögen die U 102 nicht mehr zu stoppen. In seiner Rage will er die fast volle Flasche Korn in Richtung des Tunnels schleudern, dessen Dunkel die Bahn verschluckt hat, kann sich aber gerade noch zurückhalten. Stattdessen kickt er eine im Weg liegende Coladose über die Gleise. Sie prallt gegen die Stationswand, schwappt einen bräunlichen Stern auf die Kacheln und klackert zwischen die Schwellen.

Keuchend, vom Regen durchnässt und zitternd bleibt der junge Mann eine Weile stehen, die rechte Hand in die stechende Seite gestemmt, die Flasche in der schlaff hängenden Linken. Wassertropfen plitschen zu Boden. Schließlich sieht er zur Anzeige hinauf. Den ganzen Tag über hat sie stetig kommende Bahnen angekündigt. Nun verharrt sie in stummer Schwärze. Die Uhr daneben zeigt 00:16. Rasch eilt der Mann zu dem Schaukasten, in dem die Fahrpläne aushängen.

Er findet seine Befürchtung bestätigt. „Scheiße“, ächzt er kraftlos.

Er blickt zum Aufgang, zu der inzwischen reglosen Rolltreppe, hört, wie oben in der Außenwelt der Regen in Strömen auf das Glasdach des Zugangs prasselt. Resigniert analysiert er seine Situation: Bis nach Hause sind es etwa acht Kilometer, eher mehr als weniger. Er besitzt zwar ein Handy, doch liegt das daheim am Aufladekabel. Seine nach diesem Abend verbliebene Barschaft beläuft sich auf zwei Euro und 90 Cent; was für den Erwerb einer Fahrkarte Preisstufe B genügt hätte, aber nicht für eine Heimfahrt mit einem Taxi. Die Idee, einen Geldautomaten aufzusuchen, scheitert an der Erkenntnis, dass er keine Ahnung hat, wo im Umkreis der nächste zu finden ist. Und wie um die Ungemütlichkeit zu betonen, die ein Marsch bei diesem Wetter ohne Regenschutz bedeuten würde, grollt in diesem Moment eine Donnersalve von der Oberwelt zu ihm hinab. Auch das Prasseln des Regens verstärkt sich, als wolle das Gewitter in die U-Bahn-Station brüllen: ‚Kai Trollmann, du Arschgesicht! Bleib gefälligst, wo du bist!‘

Der junge Mann schaut erneut zu der Uhr empor und rechnet. Vier Stunden und sechzehn Minuten bis zur Ankunft der ersten Bahn. „Scheiße.“

Frustriert schlurft er zu der Bank in der Mitte des Bahnsteigs und lässt sich auf einen der Sitze sinken. Es sind Hartschalen aus Kunststoff, fleckig orange und abgeschabt vom Gebrauch tausender Hintern und Taschen. Er schraubt den Verschluss der Flasche ab, trinkt und verzieht das Gesicht, als der Kornbrand in seinem Innern hinabrinnt. ‚Wenigstens Onkel Otto leistet mir Gesellschaft‘, denkt er, während er das Etikett betrachtet.

Fünfzehn Euro hat er für die Pulle berappt, kurz bevor der Kiosk dichtmachte. Ein Frustkauf. Sein Erlebnis in der vergangenen Stunde hat die Wirkung des über den Abend konsumierten Alkohols unerträglich abgeschwächt. Er nimmt einen weiteren Schluck. Und unvermittelt wird ihm klar: Hätte er auf Onkel Ottos Gesellschaft verzichtet, könnte er nun in einem Taxi sitzen und in absehbarer Zeit zu Hause sein. „Scheiße“, murmelt er erneut und trinkt.

Was für ein Tag … was für ein Abend!

Er spürt ein unangenehmes Druckgefühl im Schritt und rückt es mit der freien Hand beiseite. Nach einem weiteren Schluck merkt er, wie dumpfer, warmer Nebel hinter seine Stirn wallt. Benommen sieht er sich um.

Die U-Bahn-Station ist ein Paradebeispiel für Reizlosigkeit. Die beiden Schienengräben verlaufen entlang der Wände, der Bahnsteig ist in der Mitte. Grauer Steinfußboden, verziert mit Kaugummiflatschen und dem Dreck des Alltags. Wände und Säulen mit emaillierten Kacheln, ehemals weiß, doch signiert mit zahllosen Ölstift-Signaturen. Funktionalität ohne jegliche Zier, weder architektonischer noch informativer Art. Keine historischen Wandbilder und Schaukästen wie in den Stationen Stiftskirche und Nordtor. Keine Bildschirme, die wie am U-Bahnhof Stadttheater Szenen aus aktuellen Bühnenproduktionen zeigen. Nicht einmal eine Beamer-Installation, die Wartende mit einer Dauerschleife aus Nachrichten, Aktienkursen, Wetterbericht und Werbung animiert. Dies hier ist Station Bachstraße – wenngleich in Citynähe, so doch von Stadtplanern nahezu ignoriert; so trostlos, dass sich nicht einmal Obdachlose oder Junkies hier aufhalten, sondern lieber die Umgebung der nächsten Station am Schillerplatz frequentieren.

„Wahrscheinlich wollte der Architekt den Auftrag möglichst rasch vom Reißbrett kriegen“, phantasiert Kai. Und wie so oft, wenn ihm langweilig wird, folgt er den Handlungen seines Kopfkinos, dem nur kurze Impulse genügen, um Geschichten zu formen: „Vielleicht für einen besser bezahlten Auftrag. Oder er durchlebte eine unkreative Phase, weil einfach alles gerade beschissen lief und nichts funktionierte. Oder ihm ist mehrmals die Drecksbahn vor der Nase weggefahren und er dachte sich: Dich verlausten Schienenreiter lasse ich bis zur Rente durch die langweiligste Station der Welt fahren.‘ Kai nimmt einen Schluck. Er entscheidet sich für die letzte Version und erklärt sie zur Wahrheit. ‚Immerhin bleibt hier über Nacht das Licht an. Mir soll’s …‘

In just diesem Moment klickert es leise über ihm. In den beiden Lampenreihen längs der Stationsdecke erlischt jedes zweite Neonröhrenpaar.

„Ernsthaft?“ Der junge Mann schaut empor. Dann beginnt er zu kichern. Das Kichern wächst zu einem schallenden Lachen an, wird zu einem Gewieher, in dem eine Hysterie mitschwingt, die manchem eine Gänsehaut bescheren würde. „Pech biblischen Ausmaßes“, japst er, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hat und sich die tränenden Augen reibt. „Gleich wird es noch Frösche und Heuschrecken regnen.“ Als er erneut auf die Uhr blickt, wird ihm gewahr, dass diese erst 00:20 Uhr anzeigt, was sein Lachen erneut aufpeitscht. Atemlos kramt er schließlich in der Innentasche seiner Lederjacke, friemelt einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus und notiert:


Ihm gefällt der Satz. Irgendwie entspricht er seiner Stimmung.

Hiob … eine biblische Gestalt, das weiß er. Aber was es mit der nach ihm benannten, Unglück vermittelnden Botschaft auf sich hat, müsste er nochmal nachschlagen. In seinem Kopfkino rattert der Projektor. Wer könnte diesen Satz denken, sagen, verzweifelt herausbrüllen? ‚Ein Typ, der an einem Punkt ist, an dem es gar nicht schlimmer werden kann. Der klitschnass, betrunken, frustriert und allein in einer U-Bahn-Station steht. Oder inmitten von leblosen Körpern. Mit einer rauchenden Uzi oder einem triefenden Katana in Händen. Womöglich aus mehr Körperöffnungen blutend, als er haben sollte. Der hysterisch zu lachen beginnt, da er sich fragt, welche perverse Gottheit er so verärgert haben mochte, dass sie ihm dermaßen auf den Kopf scheißt.‘

Solcherlei Gedanken, Szenerien und Beschreibungen notiert Kai möglichst sofort. Manchmal kommt es vor, dass er Zettel und Stift nicht parat hat oder sich die Situation nicht eignet, etwas aufzukritzeln. Zum Beispiel, wenn er als Sargträger über den Friedhof wandelt. Befindet sich das Grab weit genug von der Trauerhalle entfernt, steht ihm oft eine Menge Schleichstrecke zur Verfügung, um Tagträumen hinterherzujagen und im Trüffelfeld seines Kopfes nach prosalyrischen Delikatessen zu wühlen. Nach einer Beerdigung haften dann oft Dutzende geistige Notizen an seinem Hirn wie an einer chaotischen Pinnwand.

Kai rupft den Zettel ab. Block und Kuli verstaut er wieder in der Jacke, die Notiz stopft er in die Gesäßtasche. Er muss nicht noch mehr dazuschreiben. Der Satz dürfte auch so alle Gedanken wieder zurückbringen. Morgen will er schauen, was sich aus der Zeile machen lässt.

‚Heute‘, verbessert er sich. ‚Irgendwann.‘

Er wohnt in einem Vorort. Wenn er um 4:45 Uhr in die erste Bahn steigt, liegt vor ihm noch eine halbstündige Fahrt zu seiner Zielhaltestelle. ‚Sofern ich sie nicht verschlafe.‘ Dann nochmal zwanzig Minuten Fußweg zu seiner Wohnadresse. Dann endlich würde er in sein Bett sinken und schlafen, schlafen, schlafen, bis …

Nein, Moment. Nur etwa zwei Stunden. ‚Verflucht!‘ Läge er sich hin, müsste er sich zehn und mehr Alarme stellen, um wieder wach zu werden. Nein, da wird es sicherer sein, wenn er sich einen Kaffee kocht, der Tote zu reanimieren vermag. Am besten gleich eine Kanne. Mindestens. Dann muss er sich wieder zur Haltestelle schleppen, zweimal umsteigen, und um neun Uhr vor der Trauerhalle des Hauptfriedhofs parat stehen. Nach der Koffeindröhnung hoffentlich aufrecht, schlimmstenfalls schlurfend, bestenfalls brummkreiselnd. Dann eine lahme Trauerfeier. Pastor Lübke, dieser verschnarchte Messdiener, predigt immer länger als erträglich. Mit einer Stimme, als müsse er jedes Wort mühsam aufklauben. Und Kai wird in der Kammer nebenan sitzen, die sicher wieder völlig überheizt ist. Gemeinsam mit den anderen Sargträgern. Diesen Greisen, die wie Fabrikschlote rauchen und sich mit ihren Wehwehchen übertrumpfen. Dann der Marsch ans Grab. Nur nicht zu schnell, damit die Gehbehinderten auch mithalten können. Und all das für lumpige 30 Euro.

Kai Trollmann stöhnt verbittert. Erst in hundert Jahren oder so, käme er wieder nach Hause, um endlich in einen komatösen Schlaf zu fallen.

Er blickt skeptisch neben sich. Mit seinem Siegelring klackert er auf eine der Sitzschalen, die einzeln nebeneinander montiert sind. Sie haben keine Rückenlehnen, damit man von beiden Seiten auf ihnen Platz nehmen kann. Hier zu liegen dürfte nicht sonderlich bequem sein. Den Gedanken, sich auf dem versifften Boden niederzulassen, verwirft er sofort. ‚So weit bin ich nun doch noch nicht.‘

Kai stellt die Flasche auf den Boden und probiert, sich über die Sitzschalen lang auszustrecken. Erst auf der Seite. Dann auf dem Rücken. Er versucht sich irgendwie zurechtzuschieben, verschränkt die Arme über der Brust, belässt einen Fuß auf dem Boden, den anderen legt er hoch. Eine Sitzkante drückt gegen seine Lende, eine andere gegen seine Wirbelsäule, sein Kopf sackt nach hinten in eine der Sitzmulden. ‚Als läge man auf der Behandlungsliege eines sadistischen Chiropraktikers.‘ Und obwohl ihm klar ist, dass er nicht länger als eine Minute so aushalten, geschweige denn schlafen können würde, bleibt er für eine Weile so liegen. ‚Nur kurz; nur für einen Moment …‘

Er schließt die Augen und lässt die Abfolge des Tages durch seine Gedanken laufen. Wie die Zusammenfassung vor einer Serienepisode, wenn eine dramatische Stimme ankündigt: ‚Was bisher geschah, … 14. November 2004: Der mieseste Tag im Leben des Kai Trollmann, des größten Losers der Stadt.‘ Seine Miene bewölkt sich bis in die Nachmittagsstunden der Collage, als ziehe eine Unwetterfront über sie hinweg. Aber während ihm die Schnittfolge die Szenen der Folgestunden zeigt, klart sein Antlitz auf. Irgendwann greift er mit geschlossenen Augen in die Außentasche seiner Lederjacke und zieht ein Stoffknäuel heraus: ein Halstuch, rot, mit weißen Punkten. Er legt es sich aufs Gesicht, atmet den Duft tief ein und grinst breit. ‚Nun, es war nicht alles schlecht.‘

Fordere man von ihm eine Selbsteinschätzung zum äußeren Erscheinungsbild, würde Kai Trollmann sich als gesundes Mittelmaß, publik vorzeigbar einstufen. Offiziell. Insgeheim hinzufügen würde er: Irgendwo zwischen mindestens Matt Damon und nicht ganz Leo di Caprio. Und er wüsste um die Richtigkeit seiner Bewertung. Hinzu kommt noch sein Talent, um welches ihn viele Geschlechtsgenossen beneiden. Unter Alkoholeinfluss verfeinert sich Kais Sprachbegabung. Statt in plumpes Lallen zu verfallen, vermag er weiterhin geschliffen zu artikulieren und geistreiche Rhetorik zu liefern. „Du privilegierter Bastard!“, hat Holger ihn mehr als einmal verflucht. „Du knallst dir die Promille rein und redest immer noch wie ein Philosophie-Professor im Casanova-Modus. Und ich sitz daneben wie ein Honk und merke, wie du die Mädels unten abzapfen könntest.“

Holger ist Webdesigner und als solcher wirklich gut und begehrt. Er arbeitet daheim und wenn er will, kann er ziemlich fleißig sein. Allerdings richtet er nicht sein Privatleben nach seinem Arbeitspensum aus, sondern umgekehrt. Er nimmt einen neuen Auftrag nur an, wenn er besonders lukrativ ist oder von einem wichtigen Kunden kommt oder es bei ihm finanziell eng geworden ist. Während einer solchen Arbeitsphase kommt es vor, dass er sich in seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses verkriecht, um den Job möglichst schnell zu erledigen. Dann mutiert er zu einem Wesen, das etwa zu gleichen Teilen Ähnlichkeit mit The ‚Dude‘ Lebowski und dem Big Foot hat. Doch auch, wenn er mit Kai loszieht, ist sein Erscheinungsbild nicht unbedingt von der Art, die Frauenherzen höherschlagen lässt. Eigentlich ist Holger sogar ein recht ansehnlicher Bursche, nur leider gefangen im Körper eines tapsig wirkenden Hünen, dessen Haarwuchs sich nicht auf die üblichen Bereiche beschränkt. Er trägt Klamotten auf, bis sie kapitulieren. Gerne T-Shirts mit Aufdrucken aus Kultfilmen auf der Front, meist so verwaschen, dass sie nur noch bröckelig zu erkennen sind. Frauen, mit denen er ins Gespräch kommt, lassen daher oft nur mäßiges Interesse erkennen. Zumal die sehr spezifischen Themen, über die Holger begeistert zu referieren vermag, Damen bestenfalls ein geduldiges Lächeln entlocken.

Von all dem abgesehen ist er ein intelligenter und vielseitig interessierter Mensch, herzensgut, gesellig und stets hilfsbereit, wann immer seine üppige Freizeit es zulässt. Ist er jedoch mit Kai unterwegs, kommt Holger sich oft vor wie ein Wookie neben einem souveränen Han Solo. (Was besonders absurd erscheint, wenn er tatsächlich eines seiner Lieblings-Shirts trägt, das den Star-Wars-Riesenaffen zeigt.) „Unglaublich!“, äußerte er schon manches Mal ratlos. „Ich rede mich um Kopf und Kragen und du sagst drei Sätze und könntest sie einfach abschleppen.“

Könnte und kann er, richtig. Und beizeiten tut es Kai auch. Denn grundsätzlich stellt dies kein Problem dar. Eigentlich nicht …

Kais Miene verfinstert sich, als ihm seine derzeitige Situation zu Bewusstsein kommt. – Nein, er will nicht daran denken! Er rupft sich das Tuch vom Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen, tastet er nach der Flasche am Boden und führt sie an die Lippen.

Als sich eine der Rolltreppen plötzlich in Gang setzt, fährt er so erschrocken zusammen, dass er sich fast verschluckt hätte. Unbeholfen richtet er sich auf, wobei er das Tuch in seine Hosentasche stopft, und wendet sich um. Die Decke verbirgt den oberen Teil der Rolltreppe. Es ist dieselbe, die er vorhin heruntergehetzt ist.

‚Das fehlt mir noch‘, denkt Kai grimmig, ‚dass mir jetzt auch noch irgendein Penner auf die Eier geht.‘

Dann erkennt er Füße in hellen, absatzlosen Damenschuhen, die auf einer der stählernen Stufen langsam aus dem Oben ins Unten gleiten, und ist etwas beruhigter. Es sind sicherlich sieben Meter schräge Distanz bis zum unteren Absatz der Treppe. Gespannt beobachtet er, wie sich die Gestalt vervollständigt. Unwillkürlich zählt er die Sekunden.

Eins. – Schwarze Hose.

Zwei. – Knallroter, lackglänzender Mantel, mit Tropfen übersät.

Drei. – Dunkle Umhängetasche über der Schulter.

Vier. – Über der anderen Schulter zeigen sich die Enden eines Kopftuchs, im Nacken zusammengebunden.

Fünf. – Sie ist groß, vollschlank wie Kai vermutet, denn der Gürtel umspannt straff die Manteltaille.

Sechs. – Ihr Gesicht ist nur zum Teil zu erkennen. Eine große Sonnenbrille verdeckt die Augenpartie. Dennoch meint Kai zu sehen, wie sich ihre Miene hinter den dunklen Gläsern verhärtet, als sie den jungen Mann auf der unteren Ebene der Bahnstation erblickt. Mit den Händen umklammert sie die Träger ihrer Tasche.

Sieben. – Kai spürt ein leichtes, aber unangenehmes Zirpen in seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich vom Alkohol. Oder weil er sich zu ruckartig aufgerichtet hat. Oder wegen beidem.

Acht. – ‚Immerhin kein Penner oder Junkie, oder sonst irgendein Freak.‘ Andererseits hat Kai absolut keinen Nerv, sich die nächsten Stunden mit der Zwangsgesellschaft einer ihm fremden Trulla abzuquälen, die ihn womöglich zulabert. „Zu spät!“, ruft er laut. „Die letzte Bahn ist schon weg!“

Neun. – Seine Stimme, die selbst auf ihn fremdartig und unabsichtlich bedrohlich klingt, verhallt in der Station. Kai ist nicht entgangen, wie die Frau zusammenzuckte. Sie antwortet nicht. ‚Jetzt hat sie bestimmt Schiss. Wie kann diese dumme Kuh nur so unvorsichtig sein, nachts und zudem völlig allein einen Ort wie diesen aufzusuchen?‘

Zehn. – ‚Hat vielleicht ebenfalls keine Kohle für ein Taxi. Und nun trägt die Treppe sie hinab zu einem potenziellen Vergewaltiger und Mörder, der aus einer Schnapspulle nuckelt und sie anschnauzt. Sicher überlegt sie gerade, gegen die Fahrtrichtung zurück nach oben zu hasten.‘

Elf. – Die Frau bleibt reglos auf der abwärts gleitenden Stufe stehen. Und soweit er das beurteilen kann, lässt sie ihn hinter ihrer großen Brille nicht aus den Augen. Schließlich erreicht sie das Ende der Rolltreppe.

Zwölf.

„Haben Sie gehört? Die 102 ist längst weg!“

‚Nicht, dass sie Schiss bekommt und mir die Bullen auf den Hals hetzt.‘ Um sein Desinteresse an ihr zu zeigen, dreht Kai sich in die andere Richtung und verschränkt die Arme. Sicher würde sie nun auf der benachbarten Treppe gleich wieder nach oben fahren. ‚Hatte ich echt die Befürchtung, mir könne irgendein Penner auf die Eier gehen? Der Penner … das bin hier ich. Hiob würde darüber lachen.‘ Kai grunzt belustigt bei dem Gedanken, wie auch Holger sich kaputtlachen würde, wenn er ihm später von dem hier erzähle. Er lauscht auf hektische Schritte und das Starten der Aufwärts-Treppe. Doch nichts. Im Gegenteil: Hinter ihm verstummt das Dröhnen. Verwundert dreht er sich wieder um.

Die Frau steht noch da. Zehn Meter von ihm entfernt. Am Fuße der nun reglosen Rolltreppe. Regungslos schaut sie zu ihm hinüber.

‚Wieso hat sie überhaupt eine Sonnenbrille auf? Nachts. Bei Gewitter!‘ Kai bemerkt, wie nun ihn eine vage Unruhe überkommt. Dann sieht er, wie sie verkrampft die Träger ihrer Tasche wringt. – Irgendwie erinnert sie ihn an eine Zeile aus einem alten Song: Just another fallen angel trying to get through the night. – Genauso sieht die Fremde aus: Wie ein gefallener Engel, der sich bemüht, die Nacht zu überstehen. Kai überlegt, von wem der Song war und wie der Refrain ging. ‚Lieber Himmel, das war in den Achtzigern, oder?‘ Aus seiner Erinnerung dringen kraftvolle Akkorde: ‚Step by step, one by one, higher and higher … Climbing Jacob’s ladder. Ja, genau. Huey Lewis & the News.‘ Er weiß noch, wie er damals mit einer anderen Zeile dieses Liedes sein Schuletui beschriftet hat und muss schmunzeln. ‚Hat sich was mit Jakobs Himmelsleiter. Hier gibt es nur Rolltreppen. Und just another fallen angel …‘ Da ist die Erkenntnis, dass jener weitere, auf den sich another bezieht, er selbst ist. Irgendwie beunruhigt ihn der Gedanke: Zwei gefallene Engel. Sie und er. Hier und jetzt.

„Glauben Sie mir: Es kommt heute keine Bahn mehr!“, ruft er. „Das heißt, formell gesehen schon. Denn heute ist ja quasi heute.“ Er wedelt fahrig mit der Hand. „Könnte lang werden, hier zu warten. Die erste Bahn kommt erst um Viertel vor fünf.“

„Ich weiß.“ Sie sagt es so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen kann.

Kai runzelt die Stirn. ‚Wenn sie es weiß, warum ist sie trotzdem heruntergekommen?‘

Sie hat sich keinen Zentimeter von der Rolltreppe entfernt und starrt ihn weiterhin an, während ihre Hände die Träger ihrer Umhängetasche würgen. Womöglich eine Geste aus Verlegenheit, die Kai aber kirre macht. Er räuspert sich, mustert das Abbild des Fürsten auf dem Flaschenetikett, trinkt, schnalzt mit der Zunge, lehnt sich mit beiden Ellbogen auf die Knie, beginnt mit den Fersen zu wippen … und realisiert, dass er sich nun selbst in Verlegenheitsgebärden flüchtet. Dieses Glotzen zermürbt ihm die Geduld.

„Tja, kaum zu glauben, was?“, sagt er laut und blickt zur Uhr empor. „So gut sehe ich nur um diese Zeit aus.“ Er rechnet kaum mit einer Entgegnung, eher mit betretenem Schweigen, hofft, dass sich die Frau endlich abwenden und gehen würde. Umso mehr verblüfft es ihn, als sie mit fester Stimme sagt:

„Ja, kaum zu glauben: An so etwas Ähnliches dachte auch ich gerade.“

Kai hebt die Brauen und wendet sich ihr zu. „Ernsthaft?“ Schwer vorstellbar, dass irgendeine Frau ihn in seinem Zustand attraktiv finden könnte: Mit benebeltem Blick, der Pulle in der Hand, eher auf der Sitzschale hängend als sitzend. Nach diesem beschissenen Tag. „Na, dann genießen Sie den Anblick mal noch die letzte halbe Stunde. Um ein Uhr verwandle ich mich zurück. In was, verrat ich nicht. Aber es wird Ihnen weniger gefallen.“

Die Frau lächelt. Es ist ein seltsames Lächeln. Irgendwie süß und zugleich verbittert.

„Witzig, was?“ Er erwidert das Lächeln. „Ja, ich bin ein richtiger Komiker. Vor allem an miesen Tagen.“ Er will gerade einen weiteren Schluck Korn nehmen, da spricht die Frau in rhythmischen Worten:

„Von al-len Sei-ten zu-ge-schis-sen, wird man leicht zum O-ber-clown.“

Er setzt die Flasche rasch ab, da er auflachen muss. „Wow! Der hat was. Ein Jambus, oder? Ist der von Ihnen?“

Sie wirkt irritiert. „Von mir?“

„Ja. Kann ich den verwenden?“

„Das … wäre nicht gut.“ Eine nervöse Regung huscht über ihr Gesicht.

„Ich werd ihn abändern, versprochen.“

Ihr Lächeln ist verschwunden. Für einen Moment macht sie den Eindruck, als sei ihr ein völlig verrückter Gedanke gekommen. „Wäre es so leicht?“

„Na klar.“ Plötzlich erscheint Kai ein Gespräch mit dieser Fremden nicht mehr gänzlich unsympathisch. ‚Wer abgedrehte Zitate kennt, kann kein allzu mieser Gesprächspartner sein.‘

„Sie hatten auch ’nen miesen Tag, was?“, fragt er laut.

Sie zuckt mit den Schultern, geht ein paar Schritte an die Bahnsteigkante heran. Ihre Absätze klackern auf den Bodenfliesen. „Die Anreise war … anstrengend“, sagt sie schließlich, während sie auf das Gleis hinunterblickt.

„Was treibt Sie denn heute Nacht nach draußen? Noch dazu bei dem Scheißwetter?“

Sie wendet sich ihm zu, holt Luft, öffnet unentschlossen den Mund. „Familienangelegenheiten“, bringt sie endlich heraus.

„Ihr Mann?“

„Nein“, antwortet sie, diesmal sehr schnell. „Nein. Mein Vater.“

„Ach …“ Die Frau kann es nicht wissen, aber diese Antwort sorgt für eine Assoziation, die sofort Groll in ihm aufsteigen lässt. „Na, da haben wir ja was gemeinsam.“ Er hält die Flasche in ihre Richtung. „Auch’n Schluck?“

Die Frau zögert. „Besser nicht.“

„Okay.“ Er trinkt. Neuer Versuch. „Ich bin Kai.“

Sie nickt. „Helen.“

Er nickt ebenfalls.

Eine Pause entsteht.

„Und wie lief’s?“

„Was?“

„Das Treffen mit Ihrem Vater.“

„Schwierig …“ Helen räuspert sich und geht einige Schritte auf ihn zu. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie spricht, als müsse sie jedes Wort zweimal überdenken. „Man wird sehen … was passiert … zukünftig.“

„Tja, Väter sind eine anstrengende Spezies. Das war immer so und wird immer so bleiben.“ Kai lehnt sich auf den Nachbarsitz. „Ich hab da auch so einen. Erst Mitte fünfzig, aber störrisch wie ein alter Esel. – Wie alt ist ihrer?“

Sie bleibt stehen, wenige Meter von seiner Bank entfernt. „Er … er hat nicht mehr lange zu leben.“ Ihre Stimme vibriert.

„Oh.“ Prompt weiß Kai nicht, wie er sich verhalten soll. Trostspenden und Mitleidsbekundungen sind nicht sein Ding. Bei seinem Job auf dem Friedhof erlebt Kai oft, wie Trauergäste den Angehörigen ‚Mein aufrichtiges Beileid‘ zumurmeln. Für ihn hört es sich meist wie Floskel an. Und hier wären diese Worte eh verfrüht und unangebracht. Er reagiert auf die ihm passabelste Weise: Er schüttelt die Flasche und lässt den Korn gluckern. „Wirklich keinen?“

„Nein. Danke“, sagt Helen zunächst und nagt an ihrer Unterlippe. „Das heißt … Moment.“ Mit entschlossenen Schritten geht sie auf ihn zu. „Gib her.“ Sie nimmt die Flasche aus seiner Hand und setzt sie in einer Weise an, die verrät, dass ihr diese Bewegung nicht fremd ist.

Kai zeigt ein anerkennendes Grinsen, während ein üppiger Schluck aus der Flasche verschwindet. „Wouh!“

Doch plötzlich verzieht Helen das Gesicht und setzt hustend ab. „Wie kannst du sowas trinken?“ Sie betrachtet das Etikett. „Das ist doch gar nicht deine …“ Sie verhustet den Rest und hält Kai die Flasche hin, als wolle sie einen vollen Müllbeutel loswerden.

Er nimmt sie entgegen. „Oh, sind wir schon beim Du? Werden Sie mal nicht übermütig. Für Onkel Otto hat die Kohle immerhin noch gereicht.“

„Oh, das … ich wollte nicht …“, versucht sie eine Entschuldigung.

Aber Kai winkt ab. „Ganz ehrlich? Um diese Zeit ist mir Höflichkeit völlig egal.“

„Um diese Zeit?“ Sie stößt ein leises Schnaufen aus. „Manches wird sich wohl nie ändern.“

„So?“ Er mustert sie irritiert. „Sie sagen komische Sachen, wissen Sie das?“

Kai merkt, wie die Wirkung des Alkohols ihm zu schaffen macht. Und er weiß, wie fatal sich das bei ihm auswirken kann. Er neigt dazu, aggressiv zu werden, wenn seine Trunkenheit über das Maß hinausgeht. Er wird keineswegs handgreiflich, nein, das nie. Aber streitsüchtig. Seine Rhetorik bleibt zwar wohlartikuliert, wird aber auch bösartig, zynisch und sarkastisch.

Holger, der bereits mehrfach diese Wandlung hat beobachten können, beschrieb es mal als Transformation zu einem verbalen Mister Hyde. Er hütet sich stets, Kai zu reizen, wenn dieser als Noch-Doktor-Jekyll ein gewisses Pensum intus hat und sich dem kritischen Level nähert. Wenn ihn dann jemand nervt oder gar reizt, kommt es vor, dass Kai diese Person mit einem sprachlichen Trommelfeuer zerschießt. Aus reinem Spaß. Und weil er weiß, dass er es kann. „Alter, ich bin froh, dich nicht zum Feind zu haben“, hat Holger mal gesagt. „Bei dir bekommen Sprengsätze eine neue Bedeutung.“

Noch nervt ihn diese Frau namens Helen nicht. Sie belustigt ihn sogar irgendwie. Aber wenn sie ihm jetzt krumm kommen sollte …

„Verrückt, nicht?“, murmelt sie nachdenklich und entfernt sich dabei einige Schritte zur Bahnsteigkante hin. „Da hat man jede Menge Zeit. Doch dann ist alles wie ausradiert. Alles, was man sich vorgenommen hat zu sagen. Oder zu tun.“

Der junge Mann mustert sie verkniffen.

„Ich habe immer geahnt, dass es nicht leicht sein würde, mich dir zu nähern. Aber so dermaßen schwer …“

‚Ach du Scheiße.‘ Eine Ahnung schießt Kai durch den Kopf. ‚Is ja irre! Will die etwa …?‘

Holger hat mehrmals behauptet, dass es diese Frauen geben soll. „Die sind halt einsam. Aber die gehen eben nicht wie wir in den Puff. Die machen sich nachts auf den Weg, um sich einen Typen aufzureißen, der ihnen annähernd nett erscheint. Mit dem bandeln sie dann an, um sich von ihm durchvögeln zu lassen. – Also, selbst erlebt hab ich’s noch nicht, aber …“

‚Oh Gott. Bin ich etwa ein annähernd netter Typ?‘ Der Gedanke erscheint ihm nahezu beleidigend. Doch dann wird ihm bewusst, dass die Option auch etwas für sich hat. Trotz allem, was heute geschehen ist. Oder gerade deswegen. Zumal er vorhin noch glaubte, der Penner zu sein. Und Kai hat eine Vorliebe für üppige Frauen. Auch seine Freundin hat enorm erotischen Rundungen, die seiner Definition von perfekt entsprechen. Und wie alt mochte diese Frau namens Helen sein? Anfang-Mitte dreißig? Kaum einzuschätzen, solange sie Brille und Kopftuch trägt. ‚Ihr Lächeln ist jedenfalls hübsch. Traurig irgendwie, bittersüß, aber hübsch.‘

„Es ist noch nichts geschehen“, murmelt sie. „Alles kann. Nichts muss. Es erscheint nur so unmöglich schwer.“

‚Sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll’, vermutet Kai. Und er reagiert, ehe Skrupel ihn überkommen können. „Na ja, ich kann es Ihnen ja leicht machen.“

Sie blickt ihn irritiert an.

„Nun …“ Er grinst vielsagend. „Wir sind hier unter uns. Und Sie haben recht: Alles kann, nichts muss. Wir könnten reden. Aber wer redet schon um diese Zeit? Radiomoderatoren und Telefonseelsorge-Anrufer.“ Er stellt die Flasche auf dem Boden ab, erhebt sich von der Bank und ist froh, dass seine Beine noch Stabilität versprechen. „Wir könnten uns aber genauso gut … unterhalten.“ Er legt eine besondere Betonung in das Wort, wirft es aus wie einen saftigen Köder, dem sie bei Interesse nur folgen muss. Er nähert sich ihr. Sie weicht nicht zurück. „Ich bin sicher, wir finden etwas, womit … oder wie … wir uns gut unterhalten können. Zu zweit.“ Wenn sie Bock hat, wird sie anbeißen. Hat schon oft funktioniert. Und warum nicht mal in einer U-Bahn-Station? „Und schließlich“, fährt er fort, „weiß man ja nie, wie …“

„… so eine Unterhaltung endet“, vollendet Helen seinen Satz.

„Yeah“, grinst Kai. „Ganz genau.“

Helen löst die Hände von den Taschenträgern. „Du willst vögeln.“

Kais Grinsen wird unsicher. Eigentlich steht er darauf, wenn Frauen direkt sind. Normalerweise würde er nun ein scheinheilig charmantes ‚Wenn du mich schon so fragst‘-Schulterzucken zeigen. Aber Helen hat nicht gefragt. Sie stellte eindeutig fest. Und als sie ihre Erkenntnis wiederholt, Wort für Wort betont: „Du willst mich vögeln“, klingt darin eine Fassungslosigkeit, als sei sein Ansinnen das Abwegigste der Welt.

Dann beginnt sie zu lachen. Das Lachen schwappt förmlich aus ihr heraus. „Du willst vögeln.“ Sie wendet sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Die gewölbten Wände werfen ihr Gelächter zurück, das sich immer mehr steigert, als habe sie die Pointe verstanden, die die ganze Menschheit zu einem Witz macht. „Du! Mit mir!“

Helen so zu erleben ist bizarr: Verschwunden ist die schüchtern starrende Frau. Dies hier ähnelt viel zu sehr Kais eigenem Lachanfall vorhin, als er noch der einzige Hysterische in dieser Station war. Wäre dies ein Film, würde Helen in der nächsten Szene von Pflegern durch den Flur eines Irrenhauses geführt werden. Und von dem grotesken Gebaren mal abgesehen: Ihr Lachen kränkt Kai zutiefst.

„Ist ja gut!“, bellt er. „Jetzt kriegen Sie sich ein! Daraus wäre eh nichts geworden. Ich bin liiert; in einer glücklichen Beziehung.“

Abrupt erstirbt das Lachen der Frau, was die Situation noch surrealer macht. Sie setzt ihre Sonnenbrille ab, fährt sich mit der Hand über die Augen, um die Lachtränen fortzuwischen, dann über die Stirn, streift dabei ihr Kopftuch nach hinten.

Plötzlich weiß Kai wieder, was Holger meint, wenn er sagt, er spräche nie eine Frau an, die er nicht genauer in Augenschein genommen habe. Helen ist deutlich älter, als er angenommen hat. Er schätzt sie auf Ende vierzig. Ihr Haar mag einst rotblond gewesen sein, zeigt nun unverhüllt aber graue Strähnen. Ihre bisher von der Brille verdeckten Augen sind von dunklen Schatten und Krähenfüßen umrahmt. Früher dürfte sie ein hübsches Gesicht gehabt haben, eine gewisse Attraktivität schimmert durch, wirkt nun jedoch wie das Bild eines zerkratzten Spiegels. – ‚Eines Spiegels?‘ Wieso hat er an einen Spiegel denken müssen? ‚Blödsinn.‘

„Was? Lust vergangen?“, fragt Helen deutlich provokant. „Folgt nun die übliche Reaktion?“ Sie klappt die Sonnenbrille zusammen und lässt sie in ihre Tasche gleiten. „Du weißt nie, was du bekommen hast, bevor Morgensonne und Makeup-Schlieren das Kissen neben dir entzaubern.“

„Wenn Sie das sagen“, knurrt Kai. „Aber guter Spruch. Werde ich mir merken.“ Wieder verspürt er dieses leichte Zirpen oberhalb seines Genicks. Er schüttelt kurz den Kopf, um es loszuwerden, und setzt sich wortlos auf die Bank.

„Nein. Warte!“

Kai schnalzt ungehalten. „Was?“

„Du kennst mich nicht“, sagt sie leise. „Du weißt nichts.“ Helen kommt auf ihn zu. „Steh auf!“

Er gehorcht argwöhnisch.

„Berühr mich.“

Für einige Sekunden starrt er sie perplex an. Dann grinst er und hebt beide Hände. „Ouh-kay.“ Doch bevor er ihre Brüste umfassen kann, bremst Helen seine Unterarme mit erstaunlich kräftigem Griff.

„Na, was nun?“, motzt Kai. „Hüh oder Hott?“

Sie verzieht das Gesicht, missbilligend, gleichsam enttäuscht. Als habe Kai nicht gelernt, sich beim Pinkeln hinzusetzen. Und bemüht sanft, als erkläre sie es einem bockigen Kind, sagt sie: „Berühr mich hier.“ Ohne seine linke Hand loszulassen, führt sie seine Rechte über ihre Wange, schließt die Augen. „Ich will wissen, wie das ist. Wie fühlt sich das an, wenn du zärtlich bist? Spürst du etwas? Irgendetwas? Könntest du mich liebhaben?“

Kai stößt einen spöttischen Laut aus. „Lady, wenn ich Ihr Gesicht liebhaben soll, müssen Sie mit Ihrem Mund was anderes machen, als Blödsinn erzählen.“

Nahezu angeekelt schleudert sie seine Hand beiseite und wendet sich ab. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Ich hätte es wissen müssen“, parodiert Kai mit vorgeschobener Unterlippe. „Was ihr Frauen euch immer einbildet. Ein bisschen Ei-ei-ei und dann gleich von Liebe quatschen.“

„Wer hat denn gerade noch behauptet, eine glückliche Beziehung zu führen?“, gibt die Frau zurück.

„Wir haben ein Abkommen. Wir dürfen beide, solange wir …“ Er stutzt. „Was geht Sie das überhaupt an? – Echt! Sie haben doch’n Rad ab. Erst gackern, aber dann keine Eier legen.“

„Es war ein Versuch“, hört er sie resigniert murmeln. „Nichts weiter.“

„Oh, ein Versuch, ja?“ Kai spürt, wie der Mister Hyde sich den Weg zu seiner Zunge bahnt, um sie in Besitz zu nehmen. Und er hat nichts dagegen. „Was hat Frau Doktor denn über die Testperson herausgefunden? Bin ich notgeil? Gefühlsinkompetent? Asozial? Verdammt, wo sind wir hier? Im Begattungslabor oder im Club der einsamen Herzen?“

Helen wirbelt zu ihm herum. „Warum bist du nur so …“, sie stockt, „… so wie du bist?“ Sie zeigt keinen Zorn. Was sie sagt, klingt wie eine bestätigte Befürchtung, wie ein ‚Du enttäuschst mich. Mal wieder!!!‘ Garniert mit drei Ausrufezeichen. Diesen Tonfall kennt Kai genau. Was ihn umso mehr in Rage bringt.

„Rutschen Sie mir den Buckel runter!“ Er setzt sich wieder. „Ich meine, seien wir mal ehrlich: Sie und ich, wir spielen kaum in der gleichen Liga. Ich bin heute vielleicht auch nicht gerade Anwärter auf die Meisterschaft, aber, nix für ungut, Sie kicken höchstens für die Bezirksliga. Seniorenklasse. Falls Sie überhaupt kicken.“ Er lacht bösartig auf. „Oder gekickt werden. Doch hey, kein Grund zur Trauer. Zwischen manchen Schenkeln liegt von Natur aus ein Polargebiet. Findet sich schon noch jemand. Irgendjemand. Irgendwann. In einem anderen Leben.“ Kai kannte Frauen, die an dieser Stelle heulend eingeknickt wären. Aber gegen Heulsusen ist er schon immer immun gewesen.

Helen scheint von Tränen weit entfernt zu sein. Sie mustert ihn nur verächtlich. „Gott, ich hatte vergessen, was …“

Er stöhnt auf. „Männer doch für Schweine sind?! – Oh, bitte! Echt jetzt? Das singen Die Ärzte schon. Und auf Partys singen wir Männer das mit.“

„Ich hatte vergessen, zu was du fähig bist.“

„Hey! Jetzt ganz vorsichtig!“ Genau das hat Kai gebraucht: Einen ordentlichen Schuss Spiritus auf seine lodernde Kohle. „Zum einen: Lassen Sie gefälligst das Duzen! Zum anderen: Ich bin nicht schuld an Ihren alten Geschichten, Gnädigste.“ Er merkt, wie Helen zusammenzuckt. Gut so. Er ist bereit, Mister Hyde von der Leine zu lassen. Dies hier wird eskalieren. Und es ist ihm recht. „Wissen Sie: Ich verstehe Ihr Dilemma. Wenn Zellulite erst den Pfirsich verschrumpelt, muss frau halt schauen, wie sie ihr Obst verkauft, bevor die Orange zum Bratapfel wird. Ist der Geschmack rausgelutscht, wird jedes Kaugummi eben fade. Da heißt es Würde zeigen. Vergangenes vergessen.“ Er schnappt sich die Flasche und setzt sie an.

„Vergangenes vergessen? Hübsche Idee“, hört er Helens Murmeln irgendwo hinter dem Gluckern des Korns. „Aber ich muss dir das erklären.“

Er zieht die Flasche von den Lippen. „Wowhoho! Stopp! Ich will es nicht hören! Klar? Es interessiert mich nicht, ob Ihr Blind-Date Sie in der Single-Bar versetzt hat, oder was auch immer. Ich habe meine eigenen Probleme. Dieser Tag war so übel, ich könnte kotzen, verdammte Scheiße! Dann haut mir diese Drecksbahn vor der Nase ab, obwohl dieser Nachtschicht-Wichser mich mit Sicherheit hat kommen sehen. Da draußen schüttet es wie aus Eimern, und, juchuu!, um neun muss ich an der Trauerhalle stehen. Super! Und als einzige Aussicht auf Änderung dieser ganzen Scheiße bleibt nur, demnächst …“ Ihm wird bewusst, dass er sich in seiner Rage selbst zu demontieren droht. „Ach, verflucht, die ganze Welt ist einfach nur ein Haufen Mist! Und in diesem Moment der Glückseligkeit kommen Sie und wollen mir’n Knopf an die Backe labern. Halleluja!“ Er atmet erschöpft durch. „Gehen Sie einfach, okay? Vergessen Sie all das und denken Sie nicht mehr dran.“

„Klingt gut.“ Helen zeigt Lächeln. Ohne jegliche Belustigung und als sei sie mit den Gedanken woanders. „Vergessen. Nicht mehr dran denken. Einfach gehen. – Als lege dir etwas diese Worte in den Mund.“ Dann rafft sie sich energisch zusammen. „Nein. Ich muss mit dir reden. Du musst zuhören.“

„Scheiße, was kommt jetzt?“, ächzt Kai. „Irgendeine Feminismus-Kacke? Das Wort zum Sonntag? Gehören Sie zu den Deppen Jehovas? Oh, bitte! Bekehren Sie einen anderen, Gnädigste!“ Nebenbei nimmt er wahr, wie Helen scharf einatmet. „Wenn es um Glaubensfragen geht, dürfen Sie mir glauben: Es gibt nichts, worüber Sie hier und jetzt mit mir reden müssen.“ Er setzt die Flasche an.

„Doch“, entgegnet sie ihm. „Genau hier und genau jetzt.“

Beinahe hätte Kai sich verschluckt. „Jetzt reicht’s.“ Er wischt sich Korn vom Kinn. Als er aufspringt, gerät er leicht ins Wanken, fängt sich aber. „Passen Sie auf, sagen wir einfach: Ich bin krank. Ja. Genau. Sehr, sehr krank. Suchen Sie sich was aus: Pest, Cholera, Rinderwahn, was weiß ich. Wenn Sie nicht für den Rest Ihres Lebens mit einer Tüte überm Kopf durch die Stadt laufen wollen, mit Pocken am Arsch und so, dann hauen Sie jetzt ab!“ Kai kommt dicht an sie heran. „Retten Sie sich! Gehen Sie in Frieden mit … wie auch immer Ihr Oberclown heißt.“ Er wedelt mit der Hand gen Rolltreppe. „Schwirren Sie ab! Tschüss.“

Helen ist zurückgewichen, aber sie wendet sich nicht um. Sie hält ihre Tasche umklammert. Nun greift sie mit der Hand hinein.

„Okay, okay.“ Kai wirft rasch die Hände in die Luft und geht ebenfalls auf Abstand. Er hat keine Lust, sich von dieser durchgeknallten Nachtschwärmerin Pfefferspray in die Visage sprühen zu lassen. Er stellt die Flasche auf den Fliesenboden, als lege er eine potenzielle Schlagwaffe ab. Ihm wird klar, dass ihm allmählich das verbale Schießpulver ausgeht und seine Stimme an Sicherheit eingebüßt hat. Ginge es hier um irgendeine Meinungsverschiedenheit, hätte er sie längst in Grund und Boden diskutiert. Aber noch nie hat er jemanden wirklich vertreiben müssen. Gewalt ist nie sein Ding gewesen. Sollte es ihm nicht gelingen, diese Frau loszuwerden … er wüsste nicht einmal, ob er überhaupt grob werden könnte. Und wenn Helen nun realisiert, dass er nur laute, aber eigentlich harmlose Knallerbsen verschießt, dann wäre es womöglich letztendlich er, Kai, der das Feld räumen müsste.

Er bemerkt, wie sie ihn im Auge behält. Dann zieht sie die Hand wieder aus der Umhängetasche. Ohne Pfefferspray oder Taser oder ähnliches. Als habe sein Zurückweichen und Innehalten sie umgestimmt. ‚Also gut‘, denkt Kai. ‚Dann Feuer frei aus allen Rohren! Aber schön auf Abstand bleiben.‘

„Wissen Sie, wenn ich Ihnen sage: Sie gehen jetzt besser, dann bedeutet das ganz viel. In unserem Fall“, er biegt mit dem Zeigefinger der Rechten seinen linken Daumen gerade, „dass Sie sich ganz banal fortbewegen sollen, mit dringlicher Betonung auf fort.“ Er streckt den Zeigefinger. „Außerdem: Dass ich Sie ganz entschieden loswerden, Ihre Gegenwart in dieser versifften Halle nicht verlängert sehen möchte, und“, fährt er mit Hilfe des Mittelfingers fort, „dass mir Ihr Wohlbefinden am Herzen liegt. Letztendlich aber ist es ein ganz banaler Appell.“ Er beugt Daumen und Zeigefinger wieder in die Faust, der Mittlere bleibt gestreckt. „Verpissen Sie sich!“, brüllt er sie an. „Entfernen Sie sich von diesem Bahnsteig! Ich will weder zuhören, geschweige denn reden. Nicht mit Ihnen oder sonst wem. Nicht über die Zukunft, nicht über Gott und die Welt, schnöden Mammon oder sonstigen Scheiß. Ich trage mein Kreuz selbst. Es ist mein Leben, meine Zukunft und meine Seelenkrise. Die Leute, denen ich meine Verderbtheit anvertraue, suche ich mir selbst aus und ich versichere Ihnen: Sie gehören nicht dazu. Ich könnte allerdings mein Sündenkonto erheblich belasten, wenn ich in drei Minuten noch irgendetwas von Ihnen hier unten sehe, höre oder auch nur rieche. Dass das klar ist: Ich werde es nicht sein, der das Feld räumt und sich da draußen den Arsch abfriert. Sie wären nicht die erste Frau, die von mir Prügel bezieht. Verstehen Sie das nicht als Drohung. Ich möchte das nicht tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich will später sagen können, dass ich Sie gewarnt habe, bevor ich Sie die Treppe hoch getreten habe. In Notwehr. Bevor Sie mir psychischen Schaden zufügen. Da oben werden Sie vielleicht vom Blitz getroffen, vielleicht ertrinken Sie auch im Rinnstein oder werden überfahren. Möglich. Aber ich versichere Ihnen: All das sind hinnehmbare Alternativen im Vergleich zu dem, was Ihnen hier passieren wird, wenn Sie weiter bleiben und mich vollschwafeln. Soweit klar? Dann Abmarsch! Die Zeit läuft. Und los!“

Helen wendet sich tatsächlich ab, als wolle sie gehen. Sie bebt am ganzen Körper. Kai will schon frohlocken, hat die Flasche wieder vom Boden aufgenommen, um das zurückeroberte Territorium zu feiern, da dreht sie sich erneut um.

„Falscher Kurs, Gnädigste!“, ruft er sofort. „Immer hübsch da lang. Nächste Station: Schillerplatz. Diese Richtung, etwa zwei Kilometer. Der Spaziergang lohnt sich und ist ohne blaue Flecken viel leichter zu ertragen. Das Prinzip ist wirklich sehr einfach: Ich will und werde bleiben; Sie möchten und sollten verschwinden.“

„Um Wollen oder Möchten geht es nicht“, presst Helen hervor.

„Meine Fresse!“ Kai stößt einen wütenden Laut aus. Allmählich macht es ihm Mühe, seine Verzweiflung zu verbergen. „Spreche ich Gälisch oder Suaheli, oder was?! Hören Sie, Ihre Hartnäckigkeit, mich bekehren zu wollen, ist ja irgendwie ganz schmeichelhaft für mich, aber …!“

„Das ist es ganz und gar nicht!“ Die Worte knallen durch die Station und lassen Kai abrupt verstummen. „Ich will dich nicht bekehren. Ich werde dir nur dieses eine Mal die Zeit stehlen. Damit vermeide ich eine ganze Menge Konsequenzen. Dir, mir und allen anderen.“ Sie zieht das Tuch von ihrem Hals und stopft es in die Tasche.

„Lassen Sie endlich diese Duzerei!“ Kai merkt, wie seine Stimme deutlich an Kraft verloren hat. „Für wen halten Sie sich?“

„Ich sorge dafür, dass wir uns in Zukunft nie wieder duzen werden, Kai Trollmann.“

„Verdammt, woher …?“ Plötzlich verspürt er wieder dieses unangenehme Zirpen in seinem Hinterkopf, nur ungleich heftiger als bisher. Für einen Moment verschwimmt sein Blick. „Woher wissen Sie, wie ich …?“ Nur schemenhaft sieht er, wie sie den Arm aus der Tasche zieht und etwas in der Hand hält.

„Mein Name ist Helen Trollmann.“

Sein Blick wird wieder klar. Er starrt in die Mündung einer Waffe.

„Und ich werde dich erschießen.“


Die erste Bahn

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