Читать книгу Die erste Bahn - Markus Veith - Страница 6

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Manchmal macht die Zeit ein Foto fürs Archiv. So eine Momentaufnahme kann die Dauer von Sekunden haben. Dennoch können während dieser winzigen Zeitspanne unter Umständen Welten zerstört werden, weil Erkenntnisse jäh wie Kometen einschlagen und alles weitere Leben mit einer giftigen Aschewolke bedeckt wird. Solch einen Schnappschuss betrachtet man besser aus der wohltuenden Distanz, die wir Erinnerung nennen und stets in Vergangenheitsform passiert.

*klick.*

Kai überlegte. Er überlegte, wie wenig überlegen er sein konnte, während er überlegte, und die Zeit wie zäher Teer durch diese Misere tropfte.

… Er hatte keine Ahnung von Schusswaffen. Er wusste, dass Kaliber den Durchmesser von Projektilen und Waffenläufen normierte. Sein Freund Holger kannte sich als technisch versierter Fan von Handfeuerwaffen weit besser mit all dem aus. Wenn er seine Steckenpferde mit Beretta, Glock oder Walther benannte, dann verstand Kai nur Bahnhof. Vier Fakten waren ihm allerdings bekannt: Erstens, dass man es tunlichst vermeiden sollte, vor einer Mündung zu stehen und, zweitens, in eine Mündung zu schauen, besonders, wenn man, drittens, nicht wusste, ob ein Projektil den Lauf füllte, denn ein solches vermochte, viertens, eine unschöne, oft irreparable Verzierung in die Lebenshülle zu stanzen. Nun wurde ihm jäh eine fünfte Tatsache klar: Wenngleich Kaliber-Einheiten in Millimetern benannt wurden, so sah eine Mündung von vorne betrachtet aus wie ein Arschloch, das viel größer wirkte, als es Millimeter bemessen könnten. Und er wollte auf keinen Fall, dass aus diesem Stahlanus etwas herauskam …

… Kai überlegte, dass er sich nie von der allgemeinen Panik hatte anstecken lassen, welche nach den Anschlägen des 11. Septembers drei Jahre zuvor von der Weltbevölkerung Besitz ergriffen hatte. Dass dschihadistische Terroristen auch deutsche Städte als Anschlagsziele ins Auge fassen könnten, hielt er zwar nicht für komplett ausschlossen, aber in den Diskussionen, die er mit Holger führte (der im Übrigen gerne für jede Paranoia zu haben war, wenn sie dem aktuellen Zeitgeist entsprach), hatte Kai immer argumentiert, dass diese Al-Kaida-Fritzen, so wahnsinnig sie auch sein mochten, ordentlich einen an der Murmel haben müssten, wenn sie sich ausgerechnet diese Stadt für einen Anschlag aussuchten. Was sollten sie Wichtiges bombardieren oder in die Luft jagen? Eine McDonald’s-Filiale? Einen Starbucks? „Beschwer dich nur nicht, wenn du mehr Särge auf den Friedhof schleppen musst“, war das Einzige, was Holger noch erwidert hatte. Was für ein Blödsinn! Diese Stadt war weder von kultureller noch international politischer Wichtigkeit. Natürlich gab es hier kriminelle Delikte, dennoch hatte Kai sich nie Gedanken darüber machen müssen, wie er reagieren würde, wenn plötzlich jemand in seiner Nähe eine Schusswaffe zog. Und die Frau, die hier nun mit beiden Händen eine sehr real wirkende Pistole auf ihn richtete, entsprach keinem der aktuellen Feindbilder. Sie war keine Bin-Laden-Anhängerin, kein Junkie, keine Räuberin, sondern eine füllige, unmaskierte Frau, die bisher vielleicht etwas meschugge, aber nicht komplett verrückt gewirkt hatte. Und die sich alles andere als behaglich fühlte, wenn er das Zittern des auf ihn gerichteten Pistolenlaufs nicht missdeutete.

… Kai überlegte weiter und irgendein wirrer Gedankengang führt ihn zu Rehen und Hasen. Er hatte mal eine Tier-Doku gesehen in der erklärt wurde, dass der Fluchtinstinkt jedem Wesen angeboren sei. Hasen schlagen Haken und Karnickel flüchten in den Bau. Rehe allerdings bringen Scheinwerfer nicht mit einem sich nähernden Auto und unmittelbarer Gefahr in Verbindung. Sie werden geblendet und durch diesen Tunnelblick verschwindet die Umgebung aus ihrer Wahrnehmung …

… Kais Verstand schien sich von seinem Körper getrennt und in die Schatten seines Hinterkopfes verzogen zu haben, redete zu ihm mit einer Stimme, die klang, als sei er auf Diazepam:

‚Ich bin ein verdammtes Reh mit Tunnelblick.‘

‚Ja. Dabei ist der Tunnel da vor mir nicht mal ein Scheinwerfer.‘

‚Wäre ich ’ne Kuh, könnt man mich jetzt einfach so umschubsen.‘

‚Ich sollte ein Hase sein, oder?‘

‚Ja, Hase sein wäre jetzt echt gut.‘

‚Bin ich aber nicht. Ich bin Kai Trollmann. Hat die Frau da gerade gesagt.‘

‚Woher kennt sie meinen Nachnamen. Habe ich ihr den genannt?‘

In diesem Moment rastete irgendetwas in Kais Kopf wieder ein.

‚Ey, diese Schlampe hat sich selbst Trollmann genannt.‘

Plötzlich setzte die Gegenwart wieder ein.

Es ist 00:52 Uhr.

„Trollmann?“, sagt er, ohne sich in den vergangenen Sekunden mehr als eine Kalibereinheit bewegt zu haben. Er hört die Benommenheit in seiner Stimme. „Sie heißen genau wie ich?“

Die Frau, die sich Helen Trollmann genannt hat, hält die Waffe weiterhin mit gestreckten, verkrampft bebenden Armen auf den jungen Mann gerichtet.

Kai hebt die gespreizten Hände. Da er die Flasche in der Rechten hält, umklammert er sie mit Daumen und Zeigefinger und bringt Onkel Otto in bedenkliche Schräglage. „Damit ich Ihnen zuhören kann, müssen Sie etwas sagen“, bringt er mühsam hervor. „Das ist Ihnen klar, oder?“

Die Frau schweigt. Sie rückt die Füße etwas weiter auseinander.

„Wollen … wollen Sie behaupten, zu meiner … Familie zu gehören? Warum kenne ich Sie dann nicht?“

Die Frau schweigt. Die Umhängetasche droht ihr von der Schulter zu gleiten.

Kai lässt den Blick abschweifen. Das ist leichter, als in diese Mündung zu schauen. „Hören Sie“, sagt er sehr langsam und sucht die Luft nach Worten ab. „Ich habe eine Flasche Wein intus. Zuzüglich dem, was hier drin fehlt. Mein Gehirn ist etwas angeduselt, mein Gedächtnis … vielleicht … ein wenig beeinträchtigt. Wenn ich diese SCHEISSE …“

Beide schreien unwillkürlich auf. Kai duckt sich. Die Tasche ist Helen in die Armbeuge gerutscht und stemmte mit einem Ruck den Pistolenlauf nach unten. Eine Eruption, die leicht einen Schuss hätte auslösen können. Als Kai sich wieder aufrichtet, sieht er, wie die Frau die Zähne zusammenbeißt, als wolle sie den Schreck zerknirschen. „Verdammt, legen Sie das verfluchte Ding weg!“, brüllt er.

Natürlich meint er die Waffe. Doch mit einer schroffen Bewegung schüttelt sie die hinderliche Tasche vom Arm auf den Boden. Dann legt sie die Hand sofort wieder um die andere, die den Pistolengriff wie eine Faust umklammert.

Kai versucht zu schlucken, doch seine Kehle ist staubtrocken. „Wenn ich das hier begreifen soll“, formuliert er heiser, „will ich gerne mein Bestes tun. Aber dafür müssen Sie mir ein paar Informationen liefern.“

„Wie sich Wünsche ändern“, sagt Helen und es ermutigt ihn nicht sonderlich, dass ihre Stimme zittert. „Eben hast du mir dafür noch Prügel angedroht.“

„Nun … im Angesicht dieser Mündung fällt eine entspannte Konversation recht schwer.“ Er schafft einen Schritt, vielmehr ein Schlurfen in Helens Richtung. „Wenn ich Ihnen dieses Ding abnehmen dürfte, dann …“

„Finger weg!“, bellt sie.

„Okay, okay!“ Er reißt die Hände so schnell hoch, dass Onkel Otto in der Flasche über seinem Kopf gluckert. Er zieht den Fuß zurück und kann selbst nicht glauben, dass ihm ein fahriges Grinsen gelingt. „Hey, diesen einen Versuch müssen Sie mir zugestehen. Ich will nur sagen, es wäre alles viel leichter, wenn Sie dieses Ding irgendwo, auf den Boden, oder woanders … Ich werde nicht fliehen. Ehrlich.“

„Du würdest ausweichen“, sagt Helen. Ihre Kiefermuskeln arbeiten.

Kai bemüht sich, Helens Worte auszuwerten, aber seine Gedanken schlagen Kapriolen. Langsam führt er die Flasche zum Mund. Eine reine Verlegenheitstat. ‚Wäre ich ein Goldhamster, würde ich jetzt anfangen, mich zu putzen.‘ Der Alkohol brennt in seiner Kehle. Aber er wacht nicht aus diesem Alptraum auf.

„Hey“, bringt er schließlich hervor. „Ich glaube, wir hatten einen ziemlich miesen Start.“ Er fuchtelt unbeholfen mit der freien Hand. „Das kommt vor. Na ja, es war dummes Gerede. Wie wäre es also, wenn wir einfach alles vergessen. Ich nehme zurück, was ich …“

„Ich kann das nicht vergessen!“ Ihre Stimme hallt durch die Station. „Und du kannst nichts zurücknehmen!“

„Schon gut!“ willigt Kai hektisch ein. „Ich bin sicher, dass man Ihnen irgendwie … also, ich meine, es gibt doch Lösungen. Für alles und so. Sie müssen nur reden. Und Sie wollen ja reden. Haben Sie gesagt. Also, bitte, reden Sie. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ausgerechnet ich, also, es gibt da ganz fähige Therapeuten, die …“

„Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!“, keift sie. Die Waffe in ihren Händen zuckt vor wie der Kopf einer schnappenden Giftschlange.

„Nein, tu ich nicht!“, kreischt Kai. Panik und Zorn lassen seine Stimme kieksen. „Okay! Reden Sie. Und ich höre zu. Zuhören ist prima. Supermethode. Hilft enorm. Und ich hab Zeit. Die ganze Nacht. So lange, wie Sie wollen.“ Seine Stimme schwillt an. Er stampft mit dem Fuß auf, um seine Anspannung loszuwerden. „Aber halten Sie in drei Teufels Namen Ihren Finger da still! Denn, verfickte Scheiße, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie mich mit jemandem …!“

„Verwechseln?!“

„Ja doch!“

„Ganz sicher nicht!“

„Herrgott nochmal?! Was denn sonst?! Es gibt keinen Grund, mich zu erschießen! Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen!“

Und mit einem Male flaut der Sturm ab. Kais Echo hallt noch eine Sekunde lang nach. Dann verebbt der Klang.

„Das stimmt“, sagt Helen schließlich. Sie hält die Waffe gesenkt, aber noch mit beiden Händen vor sich. „Und dennoch kenne ich dich besser, als dich je irgendjemand kennen wird. Ich muss das hier tun.“

Kai fällt es immer noch schwer, diese surreale Situation zu erfassen. Ihm ist, als sei er auf einer Eisscholle erwacht, ohne zu wissen, wie er dort hingelangt ist. Und die Temperatur lässt erahnen, dass er zur Mittagszeit am Äquator entlangtreibt. „Ookaay“, dehnt er und macht eine beschwichtigende Geste, bückt sich, stellt die Flasche auf den Boden und richtet sich wieder auf. „Sie … kennen mich also?“

Helen nickt.

„Nun, das ehrt mich … womöglich. Aber – und glauben Sie mir bitte, dass es mir wirklich leidtut, Ihnen das gestehen zu müssen“, er formt die Hände zu einem Trichter: „Ich! Kenne! Sie! Aber! Nicht!“

Helen bleibt tatsächlich ruhig. Ihre Miene zeigt nur eine Art mitleidige Genervtheit. „Oh, bitte, erspare mir deinen theatralischen Sarkasmus.“

Kai ballt die Fäuste. „Verdammt nochmal!“, knurrt er verzweifelt. „Es liegt doch auf der Hand, dass diese Scheiße irgendein Irrtum ist. Eine Verwechslung. Ein verficktes Missverständnis. Weiß der Henker, für welchen Kai Trollmann Sie mich halten. Ich bin sicher nicht der einzige mit diesem Namen. Und wenn Sie mich mit diesem Ding da …“ Er stößt einen wütenden Schrei aus. „Scheiße! Am Ende bin ich versehentlich übern Jordan und ehe Sie sich versehen, sind Sie versehentlich lebenslang im Knast. Das sind mir zu viele Versehen, verstehen Sie? Und wenn Sie …“

„Du bist Kai Michael Trollmann“, unterbricht ihn Helen mit klarer Stimme. „Geboren am 29. September 1981, derzeit dreiundzwanzig Jahre alt. Deine Mutter starb, als du zehn warst. Danach entwickeltest du dich zum Problemkind. Während der Schulzeit fielst du etliche Male durch undiszipliniertes Verhalten auf. Aber immerhin: Mit neunzehn schafftest du dein Abitur. Wenngleich mit Ach und Krach. Obwohl jeder wusste, allen voran du selbst, dass du leicht mit Bravour hättest abschließen können. Ein Jahr lang lagst du untätig deinem Vater auf der Tasche. Dann zwang er dich, den Hintern hoch zu kriegen. Du hast ein Studium begonnen: Literaturwissenschaft. Nach drei Semestern hast du umgesattelt. Germanistik. Immerhin für vier Semester.“ Sie löst eine Hand von der Pistole, hält mit der anderen aber weiter den Lauf auf Kai gerichtet. „Lernen ist nichts für dich. Du willst den Kopf für deine Poesie frei haben, wie du sagst. Also nimmst du an Poetry-Slams teil. In der hiesigen Szene bist du eine Art Lokalmatador geworden. Du giltst als Talent. Dein alter Herr nennt deine Texte minderwertiges Geseiere. Er hat dich vor die Tür gesetzt. Seitdem schlägst du dich mit Gelegenheitsjobs durch: Parkplatzwächter, Einkaufswagenschieber, Sargträger. Du wohnst in einer billigen Reihenhauswohnung am Stadtrand. Unterm Dach. Mit schimmeligen Wänden, abschüssigem Boden und defekten Leitungen.“

Kai kann nur vermuten, wie dämlich er in diesem Moment dreinschaut. „Welches Arschloch hat Ihnen das alles erzählt?“

„Jemand, der mir oft genug unter die Nase gerieben hat, wie dankbar man sein müsse, wenn es einem gut gehe.“

Als ihn eine Ahnung überkommt, braust der junge Mann mit einem Wutschrei auf. Helen umgreift die Waffe wieder mit beiden Händen, aber Kai bemerkt es kaum. „Der Alte hat Ihnen das gesteckt. Er schickt Sie, stimmt’s?“, knurrt er durch gefletschte Zähne und rammt Helen den Zeigefinger entgegen. „Sagen Sie dem Knauser, er kann mich mal! Seine Vasallen, die mag er herumscheuchen und schikanieren, wie er will. Seine Büroaffen und Spediteure und was da alles um ihn herumkreucht. Ich schaffe es auch ohne ihn. Weiß er eigentlich, dass ich neulich für einen meiner Texte einen Literaturpreis erhalten habe?“

„Möglich.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Tut aber nichts zur Sache. Er missbilligt deinen Plan, vom Schreiben leben zu wollen. Du weißt das und fühlst dich dennoch als Sieger, dem sich nun natürlich alle Türen öffnen werden.“

Kai blinzelt verwirrt, da sie seine üblichen Worte parodiert. „Ja-a. Und das wird auch so sein!“, schnauzt er in einem mauligen Ton. „Was soll ich mich denn anstrengen, wenn …?“

„Der Erfolg doch zu dir kommt, ja, ja. – Ist Quatsch. Dein Preisgeld wird schneller verbraucht sein, als du Mietmahnung sagen kannst.“

„Oh ja“, nickt Kai wild, „Sie kommen von ihm. Das ist eindeutig sein Vokabular. Hockt wie Rumpelstilzchen auf seinem Vermögen und spart sich die Herztropfen. Minderwertigkeitsgefühle und schlechtes Gewissen seiner Mitmenschen trimmen: Ja, an solchen Schikanen geilt er sich auf.“

„Dein alter Herr hat hiermit nichts zu tun. Er stirbt in einem Jahr an Krebs. Die Diagnose kennt er längst.“

Erneut hält Kai inne. Ihm ist, als sei sein Hirn ins Straucheln geraten.

Sein Vater ist nicht wirklich alt. Er hat zwar irgendwas mit Blutdruck, zu hoch, zu niedrig, was auch immer, aber davon abgesehen ist er fit wie ein Turnschuh. Wieso sollte er …? „Moment.“ Kai verengt die Augen. „Das ist ja mal eine ganz neue Methode.“ Mit in die Seiten gestemmten Fäusten beginnt er auf und ab zu gehen. „Zieht der alte Fuchs jetzt ernsthaft die ‚Oh, ich werde nicht mehr lange leben‘-Masche durch? Damit ich angekrochen komme und ihm das Händchen halte? Hält er mich für bescheuert? Sagen Sie dem Dreckskerl, er soll mir …!“

„Das kann ich ihm nicht sagen. Und du auch nicht. Du siehst ihn nie wieder.“

Kai stoppt seine zornigen Pendelgang. „Was?“

„Im nächsten Jahr bist du kaum hier. Du hast gehofft, der Staat würde dich übersehen. Aber ab Januar musst du in Flensburg antreten. – Blöde Sache.“ Es klingt, als bedaure sie diese Information tatsächlich. Sie hält die Pistole in Bauchhöhe, wirkt nahezu entspannt. Wie eine Kindergärtnerin, die einen Knaben beaufsichtigt, der gerade seine cholerischen fünf Minuten hat und seine Wut in die Bodenfliesen stampft. Aber nun steht der Junge wie vom Donner gerührt da, als habe sie ihm gerade erklärt, dass sie genau wisse, dass er heimlich pople und an sich herumspiele.

Da er nicht jeden Tag in seinen Briefkasten schaut, hat Kai den Einberufungsbescheid erst an diesem Sonntagvormittag dort gefunden. Und außer Holger, den er sofort anrief, um Dampf abzulassen, hat er niemandem von dem Wisch erzählt.

Diese Frau kann über seine Misere gar nichts wissen. Es sei denn … „Der Alte hat mich verpfiffen.“ Die Erkenntnis kommt mit einem gewaltigen Schub frischen Zornes. „Dem hab ich den Scheiß zu verdanken, oder?!“ Er verspürt das dringende Bedürfnis, irgendetwas zerstören zu wollen. Mit überschäumender Wut und bar jeglicher Vernunft tritt er gegen den eisernen Mülleimer neben der Bank. Es dröhnt metallisch und im Innern scheppert und knistert Unrat. Aber der Kübel ist so robust, wie man es von ihm erwartet. Der Schmerz lässt sich kurz Zeit, um Anlauf zu nehmen, dann knallt er Kai in die Zehen und explodiert. „Verficktnocheins!“ Mit verzerrtem Gesicht humpelt er umher und kann es nicht vermeiden, dass sich Tränen in seine Augen drücken. Er weiß genau, wäre Holger nun hier, er würde sich wiehernd am Boden wälzen.

Die Frau mit der Pistole bleibt ernst. Und als Schmerz, Zorn und Scham für einen winzigen Augenblick Kais Hirn aus dem Würgegriff entlassen, meint er in ihrem Blick etwas zu erkennen, was die Erinnerung an seinen Vater noch verstärkt.

„Ist ihm klar, was er mir damit antut?!“, ächzt er. Dann bricht ein verbittertes Kichern aus ihm heraus. „Natürlich weiß er das. Hallo, Kreiswehrersatzamt. Mein Sohn, dieser kleine Pisser, ist dreiundzwanzig. Da kann er doch noch eingezogen werden, oder? Na, und ob der tauglich ist! Nicht, dass das Land einen Rekruten übersieht.

„Na ja, die Alternative, alten Leuten als Zivildienstleistender den Hintern abzuwischen, ist ja erst recht nicht dein Ding“, sagt Helen in ruhigem Ton.

Kai sieht sie an. Und plötzlich wird ihm bewusst, woran ihr Blick ihn erinnert: Es ist der Blick seines Vaters, als dieser ihn zum ersten Mal aus der Ausnüchterungszelle geholt hat. Als Kai, damals noch minderjährig, ein verkatertes Wrack mit Spuren von Erbrochenem auf der Front, von der Pritsche aufschreckte und seinen Vater in der Tür erkannte, hat Trollmann Senior kein Wort gesagt. Er sah seinen Sohn nur mit diesem seltsamen Ausdruck an, in dem kein Mitleid zu finden war. Auch kein Vorwurf, nicht einmal Missbilligung. Nur Befürchtung. Als ahne er, dass er sich nun gar nicht richtig verhalten konnte. Dass, wie auch immer er nun reagiere, dies nur die erste, aber längst nicht die letzte Enttäuschung sein werde, die er ertragen müsse. – Womit er schließlich recht behielt. Denn in den Folgejahren erfuhr Kai die gesamte Palette väterlicher Besserungsversuche: Moralpredigten, Ankündigungen von Konsequenzen und Sanktionen und so weiter. Dass er sie ausnahmslos ignorierte, kann man nicht behaupten. Denn im Gegenteil provozierte er sie sogar, nur um seinen Alten zu ärgern. Jenen enttäuschten Gesichtsausdruck, der ihn einst so sehr getroffen und verärgert hatte, ließ er tief in seinem Gedächtnis unter Trotz und Rebellion verschütten. – Und es irritiert Kai maßlos, dass ausgerechnet diese verrückte Frau es jetzt und hier geschafft hat, mit dem gleichen Blick allen Staub von diesem Erinnerungsrelikt zu fegen.

„Ich kann dir noch einiges mehr verraten“, sagt Helen leise. „Nach der Grundausbildung kommst du nach Niedersachsen. Ins Lager Munster. Panzergrenadierdivision. Ein übler Standort. Weit und breit nichts als Militär und Heidekraut. Du wirst dich von Offizieren, die nicht älter sind als du, zusammenscheißen und durch den Schlamm jagen lassen.“

„Warum erzählen Sie mir das?“ Kai stützt sich auf den Mülleimer, den er eben noch getreten hat. Den schmerzenden Fuß hält er auf die Ferse gestützt.

„Ich habe es oft genug erzählt bekommen.“ Da offensichtlich keine Gegenwehr zu erwarten ist, solange Kai wie ein ächzender Flamingo über dem Kübel steht und sie verständnislos anschaut, setzt Helen sich auf die Bank daneben. Die Waffe hält sie weiterhin im Anschlag. „Ich weiß auch von Elena. Eine hübsche Deutsch-Griechin. Deine große Liebe. Zurzeit absolviert sie ein Jahresstipendium in den USA. Vor ihrer Abreise hat sie dir erklärt, dass sie nicht vorhat, das komplette Jahr dort drüben völlig enthaltsam zu leben, dass sie aber auch von dir keine Askese verlange. Ihr schreibt euch Mails, telefoniert ab und zu, bekundet eure Liebe. Aber ihr habt auch dieses Abkommen: Solange ihr beide verhütet und sich keiner in jemand anderen verliebt, sei das für euch beide in Ordnung. Im Herzen wollt ihr euch treu bleiben. Und wenn das Jahr vorbei ist und Elena zurückkehrt, willst du nur noch ihr gehören. Na ja …“, sie wiegt den Kopf, „… das war dein ambitionierter Plan. Aber da wird nun nichts draus. Wenn Elena Ende Januar zurückkommt, wirst du bereits in Flensburg sein. Fünfhundert Kilometer entfernt. Das ist zwar näher als die USA und ohne Ozean dazwischen, aber die Dauer der Fernbeziehung hat sich dadurch plötzlich verdoppelt. Deine sexuelle Diät verspricht ein Fasten zu werden. Du wirst für eine lange Zeit in Kasernen hausen und nichts als Pappkameraden vor die Flinte bekommen.“

Helen erzählt all das ohne Häme, auch nicht zynisch, sondern ganz sachlich.

Kai ist auf sein Knie gesunken und kauert neben dem Müllkübel. „Wie …? Woher wollen Sie …?“ Mehr bringt er nicht heraus. Es ist, als habe diese Frau sein Dilemma, das ihn seit Erhalt dieses verfluchten Bescheids belastet und beschäftigt, aus seinen Gedanken abgepaust. In seinem Kopf rotieren die Synapsen, versuchen zu ergründen, woher sie diese Informationen erhalten haben könnte. Er hievt sich auf die Füße. Als er seine Zehen belastet, zischt er schmerzvoll und kneift die Augen zu. Als er sie wieder öffnet, starrt er in die auf ihn gerichtete Mündung. Er humpelt auf Abstand, obwohl er weiß, wie nutzlos das ist. „Was soll das alles?“, krächzt er.

„Habe ich dir gesagt: Ich werde dich erschießen.“

„Aber … wozu?“

Sie verzieht den Mund. „Die Frage ist eher, weshalb ich dir den ganzen Kram vorher erklären soll. Was bringt es dir zu wissen, dass du dir die Bundeswehr hättest ersparen können, wenn du früher erfahren hättest, dass du Vater wirst?“

„Dass ich … was?!“ Sie hätte Kai genauso gut in den Bauch schießen können, seine Reaktion wäre kaum weniger entsetzt ausgefallen. „Aber Elena … Sie war doch die ganze Zeit …“

„Nicht Elena“, unterbricht Helen ihn. „Deine Geilheit gewinnt Oberhand. Obwohl“, sie stößt einen missmutigen Laut aus, „hättest du deine Hand mal machen lassen. Dann wäre ich nie deine Tochter geworden.“


Die erste Bahn

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