Читать книгу Die erste Bahn - Markus Veith - Страница 7
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Wieder macht die Zeit ein Foto fürs Archiv. Eine Sekunde, die der Vergangenheit erhalten bleiben sollte.
‚Zirpen‘, dachte Kai und horchte auf jenes unangenehme Gefühl, das ihm durch den Hinterkopf schmirgelte. Als würden mikroskopisch kleine Viecher mit scharfen Werkzeugen durch die Adern in seinem Genick und tief in sein Hirn krabbeln, sich dort ausbreiten, schleifen, und im Rhythmus seines Pulses eben dieses Geräusch machen.
‚Zirpen.‘ Menschen bringen dieses hochfrequente, schwirrende Geräusch mit warmen, trockenen Sommerabenden in Verbindung. Dabei sind es Insekten, die irgendwas aneinander reiben. Dennoch … irgendwie passte es.
‚Zirpen. Doch, es passt.‘ Es war nicht verwunderlich, dass er in dieser Situation in seinen Schriftstellermodus verfiel, der ihm vertraut war, mit dem er oft Formulierungen für alle möglichen Wahrnehmungen ausprobierte, um sie später in Texten zu verwenden. Nur sah es gerade jetzt nicht danach aus, als werde er jemals einen weiteren Text schreiben können.
‚Das Zirpen … der Zeit.‘ Wurde das Geräusch nicht auch in Filmen, meist Komödien, eingesetzt, wenn irgendjemand etwas sehr Dummes, Peinliches gesagt hatte, niemand darauf reagierte und eine unbehagliche Pause entstand? Nun, ihm war danach, laut aufzulachen, aber dieser auf ihn gerichtete, stählerne Anus verhinderte die komödiantische Wirkung.
Aber der Vergleich stimmte.
Dann ist die Sekunde vorbei.
Um genau 01:16 Uhr.
Kai lässt eine Hand vor seinem Ohr kreisen. „Bitte nochmal, ich hab da grad …“ Nein, die Situation ist einfach zu absurd. Er kann ein belustigtes Prusten nicht unterdrücken. „Total witzig: Ich habe gerade verstanden, Sie hätten mir erklärt, Sie wären meine Tochter.“
Die Frau, die auffallend älter als Kai ist, verzieht keine Miene. „Mir wäre lieber, es wäre nicht so.“
„Ach so. Ja, dann.“ Er beißt sich auf die Lippen und nickt bedächtig, als ein Verdacht zu ihm durchsickert. ‚Niemals ist diese Knarre echt. Dieser Hyäne reiß ich den Arsch auf.‘ Langsam schaut er empor. Sein Blick schweift die gerundete Decke entlang. – ‚Ja, da sind sie.‘ Er zählt vier Kameras. Zwei davon blicken in seine Richtung.
„Okay, schön, ich’s hab kapiert.“ Frische Wut kocht in ihm auf. „Pfiffig gemacht. Man musste die Dinger gar nicht erst verstecken.“ Er nähert sich Helen. „Also, Vorschlag“, raunt er ihr mit geneigtem Kopf zu. „Ich stelle mich blöd und ziehe diesen Stuss mal spaßeshalber durch, ja? Ich setz mich ein bisschen mehr in Szene, damit eure GEZ-Zahler was zum Lachen haben, dann kommt Elstner, das olle Glasauge, die Rolltreppe runter, haut mir auf die Schulter, zeigt in die Linsen und lädt mich zur nächsten Sendung ein. Dann mache ich kurz Ho-ho-ha-ha-hi-hi, die Nummer ist im Kasten und dann haken wir den Scheiß ab. Alles klar?!“
Er übersieht Helens irritierten Ausdruck. Stattdessen klaubt er die fast leere Flasche Korn vom Fliesenboden und nimmt einen Zug. ‚Die sollen eine gute Show bekommen.‘ Dann lässt er Mister Hyde von der Leine.
„Menschmenschmensch!“, ruft er so laut, dass seine Stimme durch die Station hallt. Mit überdosierter Theatralik schreitet er den Bahnsteig entlang. „Ich habe eine Tochter! Juchu! Dann sollten wir uns wirklich duzen.“ Er lässt den letzten Schluck in seine Kehle fließen. Dann schmettert er die Flasche mit Wucht auf die Schienen. Noch während die Scherben umherklirren, wirbelt er zu Helen herum. „Meine Güte, bist du groß geworden!“, brüllt er mit einem bösartigen Grinsen. „Und alt! Hast mich sogar überholt! Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?“
Helen ist anzusehen, dass sie seine Show noch nicht begreift. „Ich … ich komme aus der Zukunft.“
Kai macht das unglaubwürdigste ungläubige Gesicht, das er hinbekommt. „Ernsthaft?“ Ein Glucksen holpert aus ihm heraus. Dann klatscht er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Aber selbst-ver-ständ-lich kommst du aus der Zukunft! Woher sonst? Macht ja jeder. In der Zukunft stehen die Leute wahrscheinlich Schlange, damit jeder mal die Welt retten kann. Oder die Familie treffen. Oder beides. Weshalb sollte nicht auch meine Älteste mich besuchen, um ihren jungen Papa abzuknallen?!“
„Hör auf!“ Helen ist sichtlich überfordert.
„Auf gar keinen Fall! Von dieser Nacht werde ich noch meinen Enkelkindern erzählen. Oder wissen die’s schon?“
„Hör auf damit!“ Die Pistole sackt ab, als sei sie tonnenschwer geworden.
‚Gleich habe ich sie‘, denkt Kai. Er fletscht sie an: „Wenn du genug hast, Frau Trollmann, dann mach deinem Namen Ehre und troll dich!“
In ihrem Gesicht flammt plötzlich Entsetzen auf. „Sag das nicht“, keucht sie. „Du weißt nicht, wovon du da redest.“
„Hey! Ich habe mit dem Scheiß nicht angefangen!“, brüllt Kai. „Du fuchtelst mit ’ner Knarre rum, erzählst mir diesen Science-Fiction-Quatsch und verlangst, dass ich ihn glaube! So betrunken kann ich gar nicht werden, Gnädigste!“
„Nenn mich nicht …“, setzt sie an, doch er unterbricht sie.
„Aber weißt du was: Erzähl weiter! Ich liebe Geschichten. Also, was kommt als nächstes? Zeit für den bösen Widersacher, oder?“ Er wendet sich der Rolltreppe zu und breitet die Arme aus. „Großes Kino! Der Alte, dieser Wichser, kommt die Treppe runter. Er stellt sich neben dich, seine Enkelin. Er verbiegt den Hals so …“ Kai imitiert ein Knacken, woraufhin er mit tonloser, manischer Stimme rezitiert: „Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie tot zu sehen, Mister Sohnemann. Ha! Und dann: Effektvolles U-Bahn-Kreischen in der Ferne. Hören Sie das? Das ist der Klang des Unvermeidlichen. Es ist der Klang ihres Todes. Auf Nimmerwiedersehen, Mister Sohnemann. Und dann rammt er mir, dem verzogenen, egoistischen Nichtsnutz die Pump-Gun an die Schläfe.“ Er macht einen kehligen Laut, während er ein imaginäres Gewehr durchlädt, setzt es an die Stirn eines unsichtbaren Alter Egos und raunt: „Ich bin dein Vater, Kai. Du hast es verbockt. Die ganze Familie will dich loswerden. Hasta la vista, Baby! BÄNG!“ Er reißt die Arme gen Bahnsteig, als spritze etwas gegen die Mauer jenseits der Schienen. „FLAAATSCH! Sauerei an Wand. Und Schnitt. Schlagzeile: Toter in Bahnstation, keiner weiß warum. Für wie debil hältst du deinen Daddy, Froilein Tochter?“
Helen stemmt die Waffe hoch. „Halt endlich deinen Mund!“
„Die Story hinkt!“, motzt Kai ungebremst weiter. „Wenn du mich erschießt, bevor du gezeugt bist, dann …“ Plötzlich rucken seine Brauen in die Stirn. „Ach so. Das soll der Plot sein. – Du willst mich, deinen Vater, töten, damit es dich selbst nicht mehr gibt. Wie clever.“ Er grinst. „Und wie unglaublich dämlich. Du weißt schon, dass das nicht geht, oder? Wenn ich dich noch nicht gezeugt habe, wirst du de facto nicht geboren, ergo kannst du mich gar nicht erschießen. Science-Fiction-Gesetz. Macht man nicht. Das ist dramaturgisches Pfui-bäh!“
„Es ist nicht, wie du glaubst“, sagt Helen matt.
„Dann erkläre es!“, donnert Kai. „Du wolltest reden! Also bitte, Gnädigste!“
„Hör auf zu schreien! Und nenn mich nicht …“
„Jetzt reicht’s. Ich lass mich doch nicht verarschen!“ Mit wildem Blick stapft er einige Schritte den Bahnsteig entlang, bis er unter der nächsten Überwachungskamera steht. „Okay, Holger Sattler, komm raus, du Judas!“, ruft er hinauf. „Ich habe keine Ahnung, wie du das hier mit deinen drahtigen Fingern verkabelt hast, aber du hattest deinen Spaß, und das war’s jetzt, okay?“
„Holger?“, hört er hinter sich. „Was soll der denn …?“
„Hey!“, unterbricht er sie schroff. „Du Statistin hast jetzt mal Funkstille!“ Dann schnauzt er wieder zu dem elektronischen Auge empor: „Du abgefucktes Pimmelgesicht! Ey! Zünd Fürze an! Mach deine Böller-Experimente! Film fickende Pärchen! Meinetwegen! Aber so eine hinterfotzige Kacke ziehst du ausgerechnet mit mir durch?! Mann, was ich dir erzählte, war vertraulich! Also, wo auch immer du blödes Arschloch dich versteckst: Jetzt hab gefälligst die Eier und zeig dich!“
„Hör auf mit dem Quatsch“, sagt Helen hinter ihm brüskiert. „Holger ist nicht hier! Die Kameras sind deaktiviert, alle Zugänge gesperrt. Dafür wurde gesorgt.“
„Oh, das wird einige Frühschichtler nachher aber richtig fies verärgern.“ Dann brüllt er mit nach oben gerichteter Stimme: „Da hast du dir ja eine Strategin gecastet. Wenn du Hohlbirne ihr schon eine so blödsinnige Story eintrichterst, dann sag ihr wenigstens, dass sie sich nicht verplappern soll, indem sie dich kennt. Den Klops mit meinem Vater hätte ich fast geschluckt, aber, Alter, ey, ich versprech dir: Du hast zehn Sekunden. Wenn du dann nicht hier vor mir stehst, bist du tot. Und klär gefälligst die Verlade-Nummer mit der Einberufung auf, dann überlege ich mir vielleicht, ob ich dir nur den Arsch aufreiße!“
„Er ist nicht hier! Also sei still!“, schreit Helen.
Kai hört ein metallisches Klicken. Er verdreht genervt die Augen und dreht sich um. „Ach, kommen Sie, das ist wirklich zu kindisch!“
Die Frau steht wenige Meter von ihm entfernt, die Pistole im Anschlag.
Er hebt die Arme. „Tun Sie mir nichts, bitte-bitte“, leiert er in einem ätzend karikierten Singsang und wedelt mit den Händen. „Ich glaube alles, was Sie wollen. Oh, Schreck, Sie sind wiiirklich meine Tochter.“ Er lässt die Arme schlaff fallen, knickt mit verkniffenem Mund den Kopf zur Seite. „Lang-wei-lig! Dass Holger Ihnen eine seiner Knarren gibt, damit’s auch wirklich authentisch wirkt“, er ahmt die glucksende Stimme seines Freundes nach, „das traue ich dem Penner noch zu. Aber nie im Leben würde er einer Anfängerin wie Ihnen eine Pistole überlassen, die scharf geladen ist. Und Gnädigste, wenn Sie vorher nicht entsichern, können Sie mit dem Abzug klicken, so viel Sie wollen.“
„Das Klicken war die Sicherung“, raunt Helen.
„Na klar doch.“
In einer raschen Bewegung reißt sie die gestreckten Arme nach oben. Der Schuss bellt ohrenbetäubend durch die Station. Kai hebt instinktiv und ohne jegliche Theatralik die Hände über den Kopf, lässt sich auf die Knie fallen und duckt sich. Über ihm zerbirst etwas. Er spürt, wie ein Regen aus Steinstaub, Glas- und Metallsplittern auf ihn niederprasselt und ahnt, dass jene Kamera, in die er kurz zuvor seine Warnungen gegen Holger gemotzt hat, für immer ihre Funktion aufgegeben hat. In seinen Ohren fiept es. Als er sich wieder zu der Frau umsieht, findet er diesen hässlichen Stahlanus erneut auf sich gerichtet. Lupenreines, ehrliches Entsetzen legt ihn lahm.
„Ist das echt genug?“, fragt Helen. „So ein Schuss kostet zwischen zwei und zwanzigtausend Euro, je nachdem, wo er einschlägt. Zitatende. Und glaub mir, es ist mir egal, welchen Schaden ich anrichte.“ Mit dem Daumen legt sie den kleinen Sicherungshebel um und lässt die Waffe sinken. „Es geht nicht anders. Ich muss dich erst in Kenntnis setzen. Das ist die Bedingung.“