Читать книгу Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie - Markus Walther - Страница 6

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Ein Flügel allein kann nicht fliegen

Eigentlich war ja nichts Besonderes passiert. Es hatte keine Verletzten gegeben, auch keine Toten. Allerdings lagen dort auf dem Bürgersteig die Überreste eines Flügels. Weder Steinway noch Schimmel konnten fliegen. Und da es offensichtlich ist, dass Musikinstrumente nicht von alleine vom Himmel fallen (oder vom Flaschenzug des Möbelspediteurs), lag der Verdacht in der Luft, dass da jemand entweder ziemlich großen Mist gebaut hatte oder dass dieser Jemand der guten, alten Mimi ans Leder wollte.

Als ich den Ort des Geschehens erreichte, hatte sich eine kleine Menschentraube um Mimi gebildet. Sie selbst saß auf der Bank einer Bushaltestelle und fächelte sich geduldig und damenhaft mit einem Briefkuvert etwas kühlere Luft zu, während ein Polizist, die Mitarbeiter der Spedition und ein paar Passanten sich abwechselnd um ihr Wohlbefinden zu kümmern versuchten. Erfrischungstücher, ein Glas Wasser und (was vermutlich wichtiger war) ein kleines Cognacfläschchen standen bereit. Die Geschäftsleute der Straße kannten Mimi und wussten, was sie nach so einem Schrecken brauchte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit fühlte sie sich sichtlich wohl.

„Eigentlich ist ja nichts Besonderes passiert“, sagte sie beschwichtigend. Ich gab ihr in Gedanken recht. „Es hat keine Verletzten gegeben und auch keine Toten. Das Klavier ist gut drei Meter hinter mir runtergekommen.“

Mein Blick wanderte die Fassade hoch. Aus einem Fenster im dritten Stock hingen die Überreste einer Hebevorrichtung. Darunter baumelten einige Stahlseile. „Es ist mir unbegreiflich, wie das passieren konnte“, keuchte der Spediteur. „Der Flügel war doppelt und dreifach gesichert. Da muss sich jemand dran vergriffen haben.“ Der Mann rang mit den Händen und leckte sich nervös immer wieder über die Lippen.

„Meinen Sie?“, fragte der Polizist. Er schien dieser Aussage nur wenig Glauben zu schenken. „Das werden die Leute Ihrer Versicherung bestimmt genauer unter die Lupe nehmen.“

„Meiner Versicherung?“

„Ja. Und die Leute der Gewerbeaufsicht“, fügte der Beamte vorwurfsvoll hinzu.

„Ach, Inspector“, sagte Mimi beschwichtigend. Sie legte dabei ihre Hand auf seinen Arm und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, dass sie aufstehen wolle. Geistesgegenwärtig stützte er sie. „Ich glaube nicht, dass mich dieser freundliche Herr umbringen wollte.“

„Das glaube ich allerdings auch nicht“, erwiderte der Polizist. „Ich bin im Übrigen Polizei-Obermeister … und kein Inspector.“

„Natürlich“, flötete Mimi vergnügt, „wie Sie möchten.“ Sie legte dabei ein Lächeln auf, das sie für Leute reserviert hielt, die ihrer Meinung nach nicht ganz richtig im Kopf waren. „Trotzdem sollten Sie auch Ihre weiteren Kollegen von der Kripo verständigen, Inspector.“

„Die Kripo?“ Der Polizist wirkte erstaunt. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist.“

„Wir werden sehen, Inspector“, sagte Mimi und hakte sich bei mir unter. „Wir werden sehen.“

„Warum wolltest du denn die Kripo dabeihaben?“ Der ereignisreiche Vormittag war vorbei. Mimi und ich saßen im Esszimmer ihrer Vorstadtvilla und aßen Kirschkuchen.

Der gedeckte Tisch präsentierte sich als Stillleben mit Spitzendeckchen und Biedermeierstrauß. Wie jeden Donnerstag.

Sie und ich, die ältere Dame und ihre unscheinbare Enkeltochter, trafen uns einmal die Woche. Dann erledigte ich mit ihr einige Einkäufe und schaute im Haus nach dem Rechten. Nicht dass es nötig gewesen wäre: Die 87-Jährige war in allem erstaunlich fit und bewältigte ihren Alltag im Großen und Ganzen allein. Für alles, was sie nicht mehr konnte, hatte sie Personal. Da waren Hans, der Gärtner, Lena, die Raumpflegerin und eine Heerschar von namen- und gesichtslosen Helferlein, die ich nie oder nur selten zu sehen bekam. Über allem wachte Norbert, der Butler, ein älterer Herr, der seine Dienerschaft mit Würde und Stolz in ganz klassischem Sinne erledigte.

Mimi konnte es sich leisten, war sie doch viermal glücklich verwitwet, wie sie es nannte. Als Tochter eines mittellosen Beamten hatte sie es in finanzieller Hinsicht weit gebracht.

„Ach Helen!“ Mimi kicherte. Irgendwo in ihrer Brust rasselte es dabei leise. „Ich vermute, dass es offensichtlich ist, dass dies kein Unfall war.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Wie kommst du darauf?“

Sie schenkte mir ein wissendes Lächeln, antwortete aber nicht. Stattdessen erhob sie sich mühsam, griff nach ihrem Stock und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Mit der freien Hand bedeutete sie mir, dass ich ihr folgen sollte.

Wir gingen durch das große Eingangsfoyer, vorbei an der weitläufigen Treppe, die zum ersten Stock führte. Gegenüber lag die Bibliothek. Mit dem Stock drückte sie die Klinke runter und stieß die Tür auf.

Als sie die Mitte des Raumes erreicht hatte, hob sie die Arme wie ein Zirkusdirektor, der seine Artisten ansagte: „Agatha Christie. Sir Arthur Conan Doyle. Edgar Allan Poe. Dorothy Sayers. Dashiell Hammett. Roald Dahl. Alle Ausgaben. Sie stehen hier nicht zur Deko herum. Wenn es um Mord geht, weiß ich Bescheid!“

Sie hätte ihre Auflistung ohne weiteres Federlesen fortführen können. Mir war ihre Obsession mit den Krimis bekannt. Sie war eine Koryphäe im Bereich der Mord- und Totschlagliteratur. Die eindrucksvolle Bibliothek in ihrem Hause bezeugte dies.

„Es ist niemals die Frage, ob es ein Mordanschlag ist.“ Sie nahm in ihrer Argumentation Fahrt auf, ließ sich von dieser eigentümlichen Motivation treiben. „Viel wichtiger ist die Frage nach dem Warum. Und natürlich die Frage: Wer?“

„Wer?“

„Ja, wer will mich umbringen?“

„Warum?“

„Ja, mein Kind. Diese Frage stellte ich bereits.“

Sie senkte die Arme wieder und ihr Stock berührte mit einem dumpfen „Plock“ den Boden. Mit kleinen, fast trippelnden Schritten eilte sie auf ein kleines Schränkchen zu. Mit wenig Geschick, aber viel Elan, zerrte sie eine widerwillige Schublade auf. Darin lag ein Stapel Briefe, fertig adressiert und frankiert. „Da“, sagte sie knapp, „bring die bitte zur Post.“

Erstaunt über den scheinbaren Themenwechsel griff ich nach den Umschlägen. Es waren fünf an der Zahl und als ich die Adressaten las, musste ich kurz nach Luft schnappen.

Mimi beugte sich vor. Ihre Haltung hatte etwas Listiges, Lauerndes an sich. „Ist was, Schätzchen?“

Ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen und wählte mir den unverfänglichsten der Adressaten aus. „Du schreibst Herrn Jensen?“

„Warum nicht?“ Mimi legte den Kopf schief. „Ich darf doch unseren Bürgermeister auf einen Tee einladen.“

„Das sind Einladungen?“, fragte ich. Ich schaffte es nicht, ein Zittern in meiner Stimme zu vermeiden.

„Ja, natürlich.“

„Du willst den Bürgermeister einladen?“

„Es ist doch nichts dabei.“ Mimi wandte sich von mir ab und humpelte im Gleichtakt des Stocks zu ihrem Lesesessel im Zentrum des Raumes. Auf dem kleinen Beistelltischchen war mittig ein Glöckchen platziert. Sie griff danach und läutete. „Der Bürgermeister wird bestimmt kommen. Schließlich will er was von mir. Er wird geradezu begeistert sein, wenn er Post von mir erhält.“

Norbert betrat den Raum. Schwarzer, schlichter Anzug, fahles, schmales Gesicht: Er schien einem alten Schwarz-Weiß-Film entsprungen zu sein. Beinahe erwartete ich, dass er fragen würde: „Same procedure as every year?“ Stattdessen kündigte er sein Erscheinen mit einem dezenten Räuspern an. Stocksteif wartete er nun im Türrahmen, aufrecht und gerade wie ein mit dem Lineal gezogener Bleistiftstrich.

Mimi ignorierte ihren Diener und sprach weiterhin mit mir. „Hast du ein Problem mit den geladenen Gästen?“

„Nein, selbstverständlich nicht“, log ich. Mit dem Bürgermeister hatte ich tatsächlich kein Problem. Was aber nicht für die anderen Namen auf der Gästeliste galt. „Ich möchte nur gerne wissen, warum du diese Leute zu dir einladen willst.“

Mimi lächelte. „Jeder ist aus einem anderen Grund eingeladen. Zumindest offiziell. Aber eigentlich möchte ich diesen Herren ein wenig auf den Zahn fühlen.“

„Auf den Zahn fühlen?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie allesamt ein Motiv haben, mir einen Flügel auf den Kopf fallen lassen zu wollen. Einer von ihnen könnte mein verhinderter Mörder sein.“

Mein Mund klappte auf. Ich schloss ihn wieder. Wieder klappte er auf. Wieder schloss ich ihn.

„Du benimmst dich wie ein Goldfisch“, tadelte Mimi. „Ich verstehe nicht, warum du so überrascht bist. Du hast doch selbst gehört, dass die Kripo noch kein Interesse an dem Fall hat. Und bis die Versicherung zu einem Ergebnis kommt, möchte ich nun wirklich nicht warten. Statt Indizien brauchen wir Beweise!“

Norbert räusperte sich ein zweites Mal und rückte somit in Mimis Aufmerksamkeit. „Für mich einen Cherry. Für Sie bitte ein Halsbonbon, Norbert. Und im Anschluss wäre es nett, wenn Sie meine Enkeltochter zur Tür geleiten.“

Schon entschwand Norbert geräuschlos dem Ort des Geschehens. Irgendwo im Haus klackerte kurz darauf ein gläserner Verschluss auf einer Kristallkaraffe.

„Das wird ein Heidenspaß“, sagte Mimi. „Du und ich ermitteln zusammen, wer mein Mörder ist. Was hältst du davon?“

„Gar nichts“, wollte ich im Hinblick auf die Gästeliste sagen. Doch meine Lippen und meine Zunge hatten andere Pläne mit mir. Sie verselbständigten sich und ich hörte mich sagen: „Brauche ich einen karierten Anzug, eine Lupe und eine Pfeife?“

„Nein, Watson“, Mimi ging prompt auf meinen Scherz ein. „Dieses Outfit ist für mich reserviert.“

Norbert kam zurück. Auf der rechten Hand balancierte er ein Tablett mit einem kleinen Glas. Über dem linken Arm hing meine Jacke. Er servierte fix den Cherry auf dem Beistelltischchen und half mir danach in die Jacke. Mir blieb gerade noch die Zeit, Mimi einen Kuss auf die Wange zu drücken und ein „Auf Wiedersehen“ zu flüstern und schon hatte mich Norbert höflichst nach draußen geschoben. Als sich die Tür hinter mir schloss, lag ein Hauch von Eukalyptus in der Luft.

Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie

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