Читать книгу Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie - Markus Walther - Страница 9

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Leichen im Keller

An meiner linken Seite stand plötzlich Lena. Sie keuchte und das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Seltsamerweise schaute sie dabei nicht die Leiche an, sondern mich. Bis ich begriff, was dieser Blick wahrscheinlich zu bedeuten hatte, standen auch schon Norbert und Mimi bei mir. „Ich war das nicht“, sagte ich. Es klang schal und dünn. Mit etwas mehr Kraft in der Stimme, um der Sache mehr Nachdruck zu verleihen, wiederholte ich: „Ich war das nicht.“

Als Antwort bekam ich ein ziemlich langes Schweigen. Norbert fand als Erster die Sprache wieder. In seiner trockenen Art kommentierte er knapp: „Gut gezielt.“ Damit verriet er nicht, ob er mir glaubte.

„Bringen Sie mich bitte nach unten“, sagte Mimi kühl und hakte sich bei Lena unter den Arm. Langsam und so würdevoll ihre morschen Knochen es zuließen, schritt sie mit Lena nach unten. Der Butler und ich folgten ihnen. Hätte jemand in der Haustür gestanden, hätte ihn unser Anblick an eine Hochzeit oder einen Debütantinnenball erinnert.

Ich hatte diesen Gedanken nicht ganz zu Ende gedacht, da ertönte der Westminster-Glockenschlag. „Wir bekommen noch mehr Besuch?“ Mimi war nur für einen Sekundenbruchteil erstaunt. Dann schaltete ihr Gehirn in den Chefinnen-Modus. „Norbert, sorgen Sie dafür, dass die Hunde in den Zwinger kommen. Dann geben Sie dem Rest des Personals für ein paar Tage frei. Ich möchte hier nicht noch mehr unerwartete Leute rumwuseln sehen. Lena, holen Sie alle schweren Tischdecken, die wir haben, aus dem Wäschezimmer. Beeilen Sie sich! Helen, du gehst zur Tür und nimmst unseren unerwarteten Besucher am Tor in Empfang und geleitest ihn hierher. Lass dir dabei etwas Zeit.“

„Ich war das nicht“, sagte mein Mund, der offenbar den Ereignissen noch nicht gefolgt war. Norbert und Lena waren schon davongeeilt. Ich stand noch neben Mimi, die auf der Hälfte der Treppe angekommen war und sich nun ohne Lenas Hilfe die Stufen hinabmühte.

„Das werden wir später klären. Jetzt müssen wir erst mal schauen, wer da am Tor steht. Husch! Husch!“

Sie hatte tatsächlich „Husch! Husch!“ zu mir gesagt. Das war wie damals, als ich noch Kind war. Nun verscheuchte sie mich allerdings nicht von den Rollleitern der Bibliothek. Trotzdem fühlte ich mich wieder klein und unbeholfen.

Da Mimi offenbar wusste, was zu tun war, schaltete ich mein Hirn endgültig ab und folgte ihren Anweisungen. Zum Tor. Besucher in Empfang nehmen. So schlimm konnte das ja nicht sein. Dachte ich.

Hinter dem Tor stand Tom. „Hallo Helen.“

„Hallo Arschloch.“ Immerhin kam meine Antwort schnell. Doch sie war bei Weitem nicht mehr so selbstbewusst. Am Telefon war es leichter. Doch Auge in Auge mit ihm, selbst wo uns das Gusseisen des Tores noch trennte, verkrümelte sich mein Mut ins Nirvana der verendeten Gefühle. Außerdem lag in Mimis Haus mein toter Cousin. Für Tom war diese Tatsache bestimmt ein gefundenes Fressen. Egal wer der Mörder war.

„Nett wie eh und je. Möchtest du mich nicht reinlassen?“

Einem ersten Impuls folgend, sagte ich: „Nein.“

„Lass mich bitte trotzdem rein.“

Ich hatte schon meine Hand auf den Riegel gelegt und war im Begriff zu öffnen, da hielt ich inne. „Was willst du?“

„Mit Mimi reden, was sonst? Sie hat mich eingeladen.“

Das Metall in meiner Hand fühlte sich kalt an. Ich konzentrierte mich darauf. Kühl! Kalt! Genau so musste ich jetzt auch sein. Auch wenn mir gerade schwindelig wurde. Meine Angst, ich musste sie in den Griff bekommen. Nicht fliehen. Keine Schwäche zeigen. Nicht vor diesem … „Arschloch“, sagte ich, wenig kreativ. Ich musste lernen, meine Gedanken nicht ständig laut auszusprechen.

„Das sagtest du schon mal“, antwortete Tom ungerührt. Er hatte wieder diesen ‚Das werde ich dir auch noch austreiben‘-Ausdruck im Gesicht.

„Mimi hat dich nicht für heute eingeladen.“

Tom zuckte mit den Schultern. „Na und? Ich will jetzt zu ihr. Lässt du mich nun rein oder soll ich über das Gitter klettern? Ist kein Problem.“

Das Tor war wirklich kein Hindernis für Tom. Keine fünf Sekunden würde er brauchen, um hochzuklettern. Und oben angelangt, würde er einfach runterspringen. Während jeder Einbrecher sich dabei sämtliche Knochen brechen würde, könnte Tom beim Abrollen noch elegant Schwung nehmen und zwei Meter weit in den Garten springen.

„Verdammt! Mach schon auf!“, brüllte er unvermittelt. Ich gehorchte, längst vergessen geglaubten Impulsen folgend. Dabei zog ich den Kopf ein, als spürte ich schon wieder seine Prügel. Es war wie damals.

Das Tor öffnete sich, stieß hart gegen mich. Ich wich zur Seite und Tom eilte einfach an mir vorbei, den Weg hinauf zu Mimis Villa. Mein nächster klare Gedanke war: Was wird passieren, wenn er Ferdis Leiche sieht? Also folgte ich ihm; zehn Schritte hinter ihm. So wie ich es früher auch getan hatte.

Das Eingangsfoyer lag im Halbdunkel. Irgendjemand hatte den monströsen Leuchter, der unter der Decke hing, ausgeschaltet. Das Licht, das durch die hohen Fenster hereinfiel, malte bizarre Muster auf den Boden. Die Schatten der im Wind leicht schwankenden Äste tanzten über den Marmor. Mimi stand wie eine römische Statue vor der Treppe. Neben ihr stand Lena, leichenblass und etwas außer Atem, was sie vergeblich zu unterdrücken versuchte. Neben der Treppe hing von der Brüstung herab immer noch das Bügeleisen. Darunter lag ein riesiger Haufen weißer Textilien, ungefaltet und aufgebauscht. Es erweckte den Anschein, als ob die Wäsche vom ersten Stock hinabgefallen wäre.

„Meine Lena war da gerade wohl etwas ungeschickt“, erläuterte Mimi das ungewöhnliche Stilleben. „Was kann ich für dich tun, Tom?“

„Du hast mich eingeladen“, erwiderte mein Ex. Aalglatt und samtweich war seine Stimme nun wieder. Nichts verriet seinen Ausbruch von vorhin. Zwischen Dämon und Engel lagen bei ihm nicht Himmel und die halbe Unterwelt. Nein, sie teilten sich Tisch, Bett und Stuhl. Sie lachten und weinten zusammen. Sie planten im Team, wen sie quälen und wen sie täuschen wollten.

Mimi setzte sich in Bewegung. Sie lenkte ihre Schritte zum Ausgang. „Oh! Habe ich das falsche Datum in deine Einladung geschrieben?“

Tom folgte ihr nicht sofort. Er betrachtete immer noch die aufgehäuften Tischdecken. Eine dunkle Flüssigkeit quoll an einer Seite heraus. Nicht viel. Gerade so viel, dass es im unsteten Licht funkelte.

Norbert tat einen Schritt aus den Schatten des Durchgangs hervor. Nun stand er neben dem Wäschestapel und sein Fuß ruhte auf der kleinen Lache, versteckte sie vor jeglicher Neugier.

„Ich hatte gerade etwas Zeit …“ Tom wirkte ein wenig geistesabwesend. Misstrauisch schaute er auf Norberts Fuß. Schließlich folgte er Mimi doch nach draußen.

Mimi kratzte all ihre Freundlichkeit zusammen. Dennoch wirkte alles, was über ihre Lippen kam, in meinen Ohren irgendwie falsch. „Das ist nett, dass du unsere Verabredung deshalb vorziehen möchtest. Aber leider haben wir schon Besuch. Ferdi ist da.“

„Oh, Ferdi? Ich erinnere mich an ihn. Ein Enkel, oder?“ Tom tat höflich interessiert. „Wo ist er denn?“

„Ich glaube, dass er sich wegen seiner Kopfschmerzen etwas hinlegen musste. Norbert wird sich gleich um ihn kümmern. Ein paar Minuten habe ich also für dich.“

Sie lotste ihn um das Haus herum. Ich folgte in Hörweite.

„Aber eigentlich braucht unser Gespräch etwas mehr als ein paar Minuten. Immerhin geht es um deine Zukunft.“

„Meine Zukunft? Was hast du mit meiner Zukunft zu schaffen?“

„Wenn ich ehrlich bin, hätte ich am liebsten nichts mit deiner Zukunft zu tun. Aber solange du dich nicht aus Helens Leben raushältst …“

„Das ist eine Sache zwischen ihr und mir.“

„Diesen Denkfehler hast du schon einmal begangen. Und ich habe dafür gesorgt, dass du ihn bereust. Ein Jahr …“

„… auf Bewährung“, unterbrach Tom. „Wegen deiner Falschaussage.“

„Ich habe keine Falschaussage gemacht. Ich habe die Wahrheit nur ein wenig gebeugt“, sagte Mimi.

„Du hast als Zeuge ausgesagt, obwohl du nichts gesehen hast.“

„Wir wissen beide, dass ich inhaltlich die Wahrheit gesagt habe. Für das, was du mit Helen angestellt hast, brauche ich keine Fantasie. Ich berichtete, was ich gesehen hätte, wenn ich dabei gewesen wäre.“ Sie klang plötzlich hart. „Du wirst Helen künftig in Ruhe lassen.“

„Sie trägt meinen Namen. Sie ist immer noch meine Frau. Sie wird es immer bleiben.“ Wie besitzergreifend das klang.

„Deinen Namen trägt sie nur auf dem Papier. Und verheiratet seid ihr nur noch vor der Kirche“, konterte Mimi. „Wenn es nach mir ginge, dann nicht mal mehr das.“

„Es geht aber nicht alles nach dir.“ Erstaunt sah ich, dass es Tom gelang, sich zu beherrschen. Mimi strahlte so viel erhabene Autorität aus, dass er es nicht wagte, seinem Jähzorn freien Lauf zu lassen.

Mimi nickte. „Deshalb habe ich dich eingeladen. Wir müssen dann ausführlich bereden, wie es weitergehen soll. Es geht nicht an, dass du ihr nachts auf der Straße auflauerst.“

„Wir werden das jetzt klären“, sagte Tom. „Vorher werde ich nicht gehen.“

Mimi nickte erneut, sagte jedoch nichts dazu.

Der Spaziergang führte uns unterhalb der Veranda und der Küche vorbei, zum hinteren Teil des Gebäudes. Dort, unter Mimis Schlafzimmerbalkon, war der Hundezwinger: Maschendrahtzaun, der eingespannt in Holzrahmen, überdacht von altem Wellblech einen schmucklosen, leicht baufälligen Verschlag bildete. Mimi hatte die Hütte dort errichten lassen, damit sie abends ihre Lieblinge nochmal sehen konnte.

Basker presste geifernd seine Fänge gegen den Draht seines Gefängnisses, knurrte und bellte, als er uns kommen sah. Willi schritt hinter ihm auf und ab, wie ein Krieger, der unruhig darauf wartete, in die Schlacht geschickt zu werden.

„Meine Süßen“, säuselte Mimi, „alles in Ordnung. Der Mann tut euch nichts.“ Dabei streckte sie zwei Finger durch den Zaun. Basker sprang ihr entgegen. Doch statt ihr den Zeigefinger abzureißen, schlabberte er mit seiner speicheltriefenden Zunge liebevoll darüber. „So was Braves“, juchzte Mimi verzückt. Tom ließ sich dazu hinreißen, auch seine Finger hineinzustecken. Um ein Haar hätte ihm das einen Aufenthalt im Krankenhaus beschert. Baskers Zähne verfehlten ihn nur knapp. „Teufel“, entfuhr es Tom.

Mimi lächelte. „In der Auswahl ihrer Freunde sind meine Tiere recht eigen.“

Tom nahm etwas Abstand. „Wie zähmt man solche Bestien?“ Basker und Willi sprangen nun wütend gegen den Zaun, prallten ab, nur um von Neuem dagegen zu hechten. In ihren Augen stand die Mordlust.

„Man muss ihnen zeigen, wer das Alphatier ist. Sie wissen, dass ich hier der Boss bin.“ Da stand diese kleine Frau, altersschwach und gebeugt, und erklärte einem athletischen Muskelprotz, wie Macht funktionierte. „Aber natürlich ist ein kleiner Trick dabei. Kennt nicht jeder, diesen Trick. Ich habe es irgendwann mal gelesen. Oder in einem Film gesehen. Du kannst es ja mal versuchen …“

„Ein Trick, damit die Viecher handzahm werden?“

„Ja, genau.“ Mimi grinste wie die Hexe, die Hänsel gerade in den Backofen schob. „Du musst ihnen ganz feste ins Ohr beißen. Dann unterwerfen sie sich.“

„Du machst dich über mich lustig“, stellte Tom fest. Niemand machte sich über Tom lustig. Niemand, der ihn kannte. Er ballte die Fäuste. Er …

Mimi griff nach dem Schlüssel an der Zwingertür. Sie kicherte dabei. „Vielleicht.“ Der Schlüssel wurde leicht gedreht. Ein leises Knacken bezeugte, dass der Schließmechanismus entriegelt wurde. Basker und Willi kläfften wie von Sinnen. Schaum tropfte von ihren Lefzen. „Vielleicht ist es jetzt besser, wenn du gehst und zum vereinbarten Termin wiederkommst. Vielleicht ist es besser, wenn du dich in der Zwischenzeit nicht in Helens Nähe blicken lässt. Vielleicht …“

Wie viele „Vielleichts“ Mimi noch hatte sagen wollen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Toms aufkochende Wut ganz rasch abkühlte. Und ich weiß, dass Tom das erste Mal in meinem Leben vor mir wegrannte. Nun, eigentlich lief er vor Mimi und ihren Hunden davon. Doch das war mir für den Augenblick egal.

Das Hochgefühl verflog rasch. Meine Hände zitterten. Meine Beine zitterten. Und der ganze Rest von mir zitterte, wie ich zugeben musste, ebenfalls. Mimi hatte mich schließlich im Esszimmer geparkt, während sie alles zu regeln gedachte. Ferdi war tot. Diese unglaubliche Wendung erfüllte mich nicht unbedingt mit Trauer. Aber ein gerütteltes Maß an Verwirrung hatte mich befallen. Eventuell ist auch Fassungslosigkeit das richtige Wort.

In meinem Gehirn fuhren die Gedanken Kettenkarussell, drehten sich um den ersten Toten, den ich je gesehen hatte. Ermordet. Und Mimi. Wer wollte sie ermorden? Und warum rief sie nicht die Polizei? Immerhin hatte jemand ihren Enkel ermordet. Ferdi. Er war der erste Tote, den ich je gesehen hatte. Ermordet! Und Tom. Warum hatte er es so eilig, mit Mimi zu sprechen? Und warum rief Mimi nicht die Polizei? Jemand hatte Ferdi ermordet. Und dann Tom. Verdammt eilig hatte er es mit mir und Mimi. Und jemand hatte Ferdi ermordet. Und Mimi. Und Tom. Und Ferdi.

Aussteigen! Ich musste aus dem Karussell aussteigen. „Reiß dich zusammen“, fauchte ich mich an. Ich wollte gerade aufstehen, da betrat Mimi den Raum. Sie rutschte neben mich auf die Bank.

„Lena macht noch schnell sauber“, erläuterte sie. „Das graue Zeugs klebt ziemlich.“

„Graues Zeugs?“

„Es gibt Dinge, die du nicht wissen möchtest“, sagte Mimi. Sie wirkte vollkommen ruhig, kein bisschen aufgewühlt oder gar schockiert. „Norbert verbrennt die Tischdecken hinter dem Komposthaufen. Grillanzünder und Benzin sind bei Blut die besten Fleckenentferner.“

„Wo ist Ferdi?“ So wie ich fragte, hörte es sich an, als ob er eben mal zum Kiosk gegangen war.

„Im Keller haben wir eine große Gefriertruhe. Da waren nur noch ein paar Fertiggerichte drin.“ In dieser Aussage war eine Antwort auf meine Frage versteckt. Mein Unterbewusstsein verbot mir aber zu verstehen. Doch Mimi sprach gnadenlos weiter: „Bei minus 18 Grad wird Ferdi uns erst mal keine Schwierigkeiten machen.“

„Warum verstecken wir die Leiche?“

„Ach, jeder hat doch so seine Leichen im Keller. Ich denke, dass es in unserem Interesse liegt, wenn die Polizei erst mal nicht hier rumschnüffelt. Sie könnte die falschen Rückschlüsse ziehen. Oder möchtest du die nächsten Tage unter dringendem Tatverdacht in Untersuchungshaft verbringen?“

„Ich?“

„Wo warst du zur Tatzeit?“

„Oben“, sagte ich mit trockener Kehle, „im Flur.“

„Hast du ein Motiv?“

„Nein.“ Entsetzen machte sich in mir breit. Woher kam der Kloß in meinem Hals?

Mimi zog die Augenbrauen hoch, ließ sie bedeutungsvoll auf und ab zucken. „Du bist jetzt Alleinerbin.“

„Das ist doch kein Motiv“, protestierte ich.

„Nein? Dann habe ich all meine Bücher missverstanden.“

Von fern hörte ich Poirots Krächzen: „Mö’de’. Mö’de’.“ Wie nett. In meiner neuen Rolle als potentielle Mörderin musste ich mich erst mal zurechtfinden. Mir fiel Lenas Blick wieder ein. Für sie stand offenbar schon fest, dass ich es getan hatte. „Wird Lena uns nicht verraten?“

Mimi tätschelte beruhigend mein Knie. „Nein, meine Liebe. Sie würde mich nie verraten. Sie schuldet mir was. Ich habe ihr mal einen ziemlich großen Gefallen getan.“

„Was für einen Gefallen?“

„Einen ähnlich großen Gefallen wie dir.“

Ich fragte mich, wie gut ich meine Oma wirklich kannte. Für den Moment schien sich ein Abgrund nach dem anderen aufzutun. „Du hast ihr vor Gericht geholfen?“

„Nein. Ich habe … anderes getan. Es wäre fair, wenn du sie selbst danach fragen würdest. Dann kann sie entscheiden, ob du davon wissen darfst.“

„Madame“, sagte Norbert, der sich neben Mimi materialisierte, „ich habe etwas in Ihres Enkels Jackentasche gefunden, das Sie interessieren dürfte.“ Der Butler hielt in seiner ausgestreckten Hand ein kleines Päckchen.

Mimi las den Aufdruck. „Rattengift? Ich würde mich manchmal gerne in den Menschen irren.“

Ferdi als ungeduldiger Erbe. Nach den heutigen Ereignissen war diese Unterstellung fast schon naheliegend. „Du denkst, er wollte dich damit umbringen?“

„Vielleicht.“ Wie oft wollte Mimi dieses Wort denn noch von sich geben?

„Dann“, sagte ich, „brauchen wir nicht weiter nach deinem Möchtegernmörder zu suchen.“

„Vielleicht.“

„Warum denn nur vielleicht? Er hatte ein Motiv!“

„Ein Motiv macht noch keinen Mörder. Und wenn wir mal ganz hypothetisch annehmen, dass du ihn nicht umgebracht hast, dann muss für Ferdis Tod jemand anderes verantwortlich sein. Ich schließe mal aus, dass mein Enkelsohn mit dem Bügeleisen Kopfstöße für Fußball trainiert hat.“ Mimi ächzte leise, als sie aufstand. „Ich denke, dass er sich tatsächlich von unserem Bürgermeister zu einer Dummheit anstacheln ließ. Aber das muss nach dem Flügelattentat gewesen sein.“

„Also haben wir zwei Mörder? In was für einen miserablen Krimi sind wir denn hier reingeraten?“

Am Abend saßen Mimi und ich im Salon. Mimi nannte diesen Raum bescheiden ‚Wohnzimmer‘. Die Einrichtung entsprach dieser Beschreibung. Allerdings stimmten die Proportionen nicht richtig. Der Ohrensessel, die beinahe antike Stehleuchte und die Anrichte, auf der das alte Röhrenradio stand, verloren sich in der unendlichen Weite zwischen den Wänden. Daran änderten auch Perserteppiche und die düsteren Vorhänge nichts. Sitzecke und Nierentisch wirkten genau so deplatziert wie der röhrende Hirsch in Ölfarben.

Ich kauerte auf dem Sofa und blätterte unkonzentriert in dem Buch, das ich im Antiquariat geschenkt bekommen hatte. Mimi schmökerte wieder in ihrem Blondes Gift. Auf dem Tisch stand mein Teller mit einer angebissenen Tiefkühlpizza. Ich hatte zwar Hunger, doch immer wenn ich daran denken musste, warum es heute Pizza gab, schnürte sich mein Magen zu.

Mein Blick fiel auf den Fernseher. „Besser als Lesen“, dachte ich. Mein Mund hatte anscheinend wieder laut mitgedacht, denn Mimi schlug ihr Buch zu und sagte: „Gute Idee. Mir bitte auch einen.“

Leicht verwirrt über ihre scheinbar unpassende Aussage, ging ich zum Fernseher und drückte den Einschalter. Zu meiner großen Überraschung klappte die Mattscheibe, die sich als graues Plexiglas entpuppte, zur Seite und gab den Blick auf eine versteckte Hausbar frei.

„Ein guter Tropfen wird dieses widerliche Abendessen runterspülen“, sagte Mimi, die ihren Teller ratzeputz leer gegessen hatte. Natürlich stand Junkfood nicht auf ihrem üblichen Speiseplan. Das Essen aus der Pappschachtel war wohl ursprünglich fürs Personal angedacht gewesen. Doch Frauen in ihrem Alter ließen kein Essen schlecht werden. Auch wenn sie vom Krieg nie viel erzählte: Sie hatte ihn erlebt. Und verschiedene Erkenntnisse aus jenen Zeiten bestimmten noch heute ihren Alltag. Insbesondere beim Essen.

Ich nahm also zwei der Cognacschwenker und befüllte sie. „Du hast keinen Fernseher im Wohnzimmer?“

„Ach, weißt du … Das Gerät hat irgendwann den Geist aufgegeben. Und ich brachte es nicht übers Herz, ihn wegwerfen zu lassen. Der Schreiner hat ihn mir umgebaut. Die Flimmerkiste hat deinem Großvater gehört. Er war wohl einer der Ersten, der hier in der Region einen Farbfernseher sein Eigen nennen konnte. Als er hier bei mir einzog, brachte er ihn mit. Zu dem Zeitpunkt war die Kiste vermutlich schon eine Antiquität. Gottlob, hatten wir Besseres zu tun als fernzusehen.“

„Besseres?“

„Kindchen. Sonst säße ich heute wohl alleine hier.“

„Oh.“ Ich spürte, dass ich rot wurde. „Ihr habt nie ferngesehen?“

Mimi kicherte wieder auf die ihr so eigene Art. „Nie.“ Dann nippte sie an ihrem Glas. „Hast du Lust auf Erinnerungen?“

Etwas gehemmt fragte ich: „Deine?“

„Unsere.“ Dann läutete sie nach Norbert.

Kurze Zeit später brachte Norbert uns ein paar in Leder eingebundene Fotoalben. Wir breiteten sie vor uns auf dem Tisch aus. „Ich werde immer ein wenig melancholisch, wenn ich mir alte Bilder ansehe“, erklärte Mimi.

Familie. Es fühlte sich komisch an. Ich sah so viele Gesichter, die ich überhaupt nicht kannte. Meine Großväter waren vor meiner Geburt gestorben. Mit meiner Tante und meinem Onkel hatte ich nie viel zu tun gehabt. Und Ferdi … Na ja. Wer ihn kannte und halbwegs bei Sinnen war, mied ihn.

„Das werde ich Tom nie verzeihen“, knurrte die alte Frau neben mir. Erstaunt schaute ich sie an. „Was?“

„Schau dir dieses Mädchen an.“ Mimi deutete auf ein leicht vergilbtes Polaroid. Eine Teenagerin im Batik-Shirt und zerrissenen Jeans. Ihre farbenfrohe Erscheinung wurde von einem bezaubernden Lächeln überstrahlt. „Man sieht ihr fast ihre Träume an. Was für ein Lebenshunger!“

„Bin ich das?“ Um ein Haar hätte ich mich nicht wiedererkannt. „Wann war das?“

„Das war zwei oder drei Jahre bevor du diesen Mistkerl kennengelernt hast. Da wolltest du noch Ärztin oder Forscherin werden. Du hattest sogar mal davon geschwärmt, nach Afrika zu gehen, um Kindern zu helfen. Für ihn hast du dann alle deine Ideale über Bord geworfen. Ich habe das nie verstanden.“

„Ich verstehe es selbst nicht.“

„Du wolltest die Welt verändern.“ Das war ein Vorwurf. Aus Mimis Mund tat er besonders weh.

„Die Welt hat mich verändert“, antwortete ich traurig. „Was nützt es, gut zu sein, wenn alle anderen schlecht sind?“

„Alle anderen? Es war nur dieser eine Mann.“ Mimis Glas war leer. Sie stellte es auf den Tisch. Norbert schenkte wortlos nach. „Es war nur dieser eine Mann. Mit seinen blauen Augen hat er dir den Kopf verdreht.“

Und später hat er mir die Arme verdreht, dachte ich bitter. „Ich will darüber nicht reden“, flüsterte ich. Nach so einem Tag konnte ich nicht auch noch mit Mimi meine Vergangenheit aufrollen. Wir wussten beide, wie es gewesen war. Wir wussten von den Blutergüssen, von den Veilchen, von dem Krankenhausaufenthalt. Wir wussten von meinem Schweigen und ihrer Hilflosigkeit, weil sie das Meiste nur ahnen konnte, weil ich nie darüber gesprochen hatte. Es war so eine Lebensgeschichte, wie sie irgendwie jeder kannte. Sowas erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, wusste davon, weil andere mal etwas gesehen hatten, während alle gleichzeitig wegzuschauen versuchten. Andere lasen es dann in der Zeitung oder im Käseblatt im Wartezimmer. Aber Mimi war nicht so.

„Das werde ich ihm nie verzeihen“, knurrte Mimi. Wieder wurde der Cognac nachgeschenkt.

„Es ist vorbei.“

„Nein. Wäre es vorbei, würdest du nicht in diesem Schmutzloch wohnen. Du würdest arbeiten, leben, lieben. Du würdest endlich wieder deinen Träumen nachjagen und nicht in Lethargie versinken.“ Mimi löste das Foto aus dem Album, hielt es mir unter die Nase. Sie deutete auf das Abbild der jungen Helen. „Wenn ich dieses Lächeln wieder sehe, dann ist es vorbei.“

„Das wird schon noch.“ Ich versuchte, meine Mundwinkel etwas zu heben, spürte, dass es zur Grimasse geriet und ließ es bleiben. „Gib mir Zeit.“

„Ich kann dir nicht mehr Zeit geben, als ich habe. Ich bin alt. Bevor ich sterbe, möchte ich erleben, dass du wieder richtig lachen kannst.“ Bildete ich es mir nur ein, oder war ihre Zunge schon ein wenig schwer? „Ich habe alles: Geld, ein Haus, liebenswürdige Haustiere … Und eine beschisen… eine beschieß… beschissene Familie. Um keinen von ihnen ist es mir schade! Die Einzige, die aus dem ganzen Haufen was taugte, hat mir dieser brutale Vollidiot …“ Mimi kippte den wievielten Cognac in sich hinein? „… Vollidiot!“ Sie holte tief Luft. „… Vollidiot kaputt gemacht.“

Als Norbert vorsichtig einen sehr kleinen Schluck eingoss, nahm sie ihm die Flasche aus der Hand. Führnehm wirkte sie gerade nicht mehr, als sie sich zunächst einen Doppelten und kurz darauf einen Dreifachen kredenzte. „Ich habe alles“, stellte sie etwas zu laut fest. „Keine Frage! … Aber ich kann nischts davon mitnehmen. Helen … Ich kann nischts davon mitnehmen.“ Jetzt senkte sie die Stimme, beugte sich zu mir vor. „Aber es ist auch nicht die Frage, was wir mitnehmen. Wir … können nichts mitnehmen. Es ist die Frage, was wir zurücklassen. Ich lasse disch zurück, wenn isch gehe. Du … bist das, was von mir bleiben wird. Und das soll was Gutes sein.“

Norbert legte eine Hand sachte auf ihre Schulter und zog sie zurück. Dann wisperte er ihr diskret etwas ins Ohr.

Mimi betrachtete daraufhin ihr Glas. Überraschenderweise hatte es sich wieder geleert. „Finden Sie? So viehel war es doch gar nischt.“

„Es ist spät“, behauptete Norbert, der sich wieder kerzengerade aufgerichtet hatte und irgendetwas an der gegenüberliegenden Wand betrachtete.

Mimi brauchte drei Anläufe zum Aufstehen. „Ja. Das ischt es wohl. Entschuldige meinen Ausbruch, Helen. Ich habe misch wohl etwas geh’n lassen.“ Ein Hicksen unterstrich diese Aussage.

Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie

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