Читать книгу Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie - Markus Walther - Страница 8
ОглавлениеDas gestreifte Band
Frühstücksidylle bei Mimi: Kaffee und Brötchen, Marmelade und Wurst, verschiedene Briefe. Darunter auch eine Rechnung von einem Klavierspediteur. Merkwürdig. Mimi prostete mir mit einem Glas frisch gepresstem O-Saft zu. „Schön, dass du schon da bist.“ Als ob ich eine Wahl gehabt hätte!
Norbert hatte mich ganz früh am Morgen mit dem Benz abgeholt, nachdem Mimi sein Kommen fünf Minuten vor seinem Erscheinen telefonisch angekündigt hatte. Weder für Widerworte noch für einen andersartigen Protest hatte mir Norbert Zeit gelassen. Mit einem Reisekoffer bewaffnet hatte er meine Bude gestürmt und angefangen, meine Sachen zu packen. Seine Diskretion hatte er offenbar im Handschuhfach des Wagens vergessen, denn selbst mein Wäschefach war nicht vor ihm sicher. Mit raschen Griffen nahm er meine Slips und Hemdchen und legte sie neben Hosen, Blusen und den ganzen anderen Kram aus meinem chaotischen Kleiderschrank. Dann verschwand er im Bad, wo er scheppernd meine wenigen Körperpflegeartikel in einem mitgebrachten Necessaire-Beutel verstaute.
„Ich habe beschlossen, dass du in den nächsten Tagen hier bei mir schlafen wirst“, stellte Mimi fest. Sie setzte das Glas ab und tupfte sich mit einer Stoffserviette das Fruchtfleisch von der Oberlippe. Konnte es sein, dass Norbert Tom doch gesehen hatte?
„Und wenn ich nicht …?“
„Du wirst gar nicht gefragt“, unterbrach mich Mimi. Ein kurzer, vielsagender Blickwechsel zwischen Norbert und ihr bestätigte meine Vermutung. „Lena richtet dir gerade das Gästezimmer her. Wenn du gefrühstückt hast, kannst du dich frisch machen. Vielleicht hast du ja auch Lust auf ein langes Bad.“
„Mimi!“ So ein Wink mit dem Zaunpfahl tat weh.
Doch sie bemühte sich, ihren Hinweis nachträglich freundlicher zu verpacken: „Ich möchte nur, dass du dich bei mir wohlfühlst. Ein heißes Schaumbad kann da bestimmt nicht schaden.“
Norbert gab ein unterdrücktes Grunzen von sich. Mimi drehte sich zu ihm um. „Wenn Sie so müde sind, Norbert, sollten Sie sich den Rest des Vormittages freinehmen. Es ist redlich, dass Sie Ihren Schlaf im Stehen nachholen, doch ich befürchte, dass Sie Ihren Pflichten auf diese Weise nicht in angemessener Form nachkommen können. Ich denke, dass ich Ihre Dienste erst wieder in Anspruch nehmen muss, wenn mein Enkelsohn hier erscheint.“
Norbert nickte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sehr müde und misslaunig wirkte. Als er aus dem Zimmer verschwand, ließ er beinahe die Schultern sinken. Nur beinahe. Kann man Haltung bewahren und sich trotzdem hängen lassen? Norbert wusste die Antwort.
„Was ist denn mit dem los?“, fragte ich.
Mimi tat harmlos. „Nichts. Er hat sich wohl die Nacht um die Ohren geschlagen.“
Ich dachte an den Mann, den ich in der Toreinfahrt gesehen hatte. „Norbert?“
„Natürlich. Norbert kann sich doch auch mal vergnügen. Er hat mir keine Rechenschaft darüber abzulegen, was er nach Dienstschluss tut.“
„Dienstschluss?“
„Mein Gott, Helen! Was ist aus deinem Sprachschatz geworden? Mit deinen Ein-Wort-Sätzen wirst du keinen Pulitzer-Preis gewinnen.“
Sie schob ihren Teller beiseite und platzierte ein Buch vor sich. Es war natürlich Blondes Gift. Zwischen Brotkrümeln und Frühstücksgedeck wirkte das antiquarische Buch so deplatziert wie eine kostbare Flasche Wein zwischen den Tetra Paks beim Discounter. Das störte Mimi offensichtlich nicht im Geringsten. Sie schaute nur noch einmal kurz auf und sagte: „Vielleicht solltest du dir endlich ein Brot schmieren.“
Mein Magen entlarvte meinen Hunger mit einem leisen Knurren. Mit einem Messer halbierte ich ein Brötchen und nahm mir eine großzügig bemessene Portion Honig. „Können wir nochmal über deine Gästeliste sprechen?“
Mimi zog die Stirn kraus. Ein Zeichen dafür, dass sie zwar zuhörte, sich aber eigentlich lieber auf ihre Lektüre konzentrieren wollte. „Ja? Was ist damit?“
„Du sagst, dass du all diese Männer als mögliche Mörder ansiehst.“
„Ja.“ Mimi sammelte ihre Gedanken und schien dann nach plausiblen Worten zu suchen. „Sie haben ein Motiv. Und sie alle entsprechen mindestens einem Klischee des Kriminalromans.“
„Welche Klischees?“ Ich war verwirrt.
„Der habgierige Politiker, der Erbschleicher, der Intrigant, der Rachsüchtige …“
„Du hast auch Hans eingeladen.“
Mimi nickte. „Natürlich! Er ist der Gärtner. Du kennst doch den Ausspruch: ‚Der Gärtner war’s‘.“
„Dann müsstest du auch Norbert verdächtigen“, sagte ich empört. „Er ist der Butler.“
Ich erntete für diesen Vorstoß ein tadelndes Schnauben. „Jetzt werd’ nicht albern.“ Für einen Moment vergaß ich, in mein Brötchen zu beißen: Etwas Unheimliches durchstreifte die Züge meiner Oma, als sie beifügte: „Dann könntest du genauso gut mich als Mörderin bezeichnen.“
Dass ich Norbert ins Gespräch gebracht hatte, war eigentlich nur Spaß gewesen. Immerhin war ich von dem Mordversuch noch immer nicht so richtig überzeugt. Aber hier und jetzt, an diesem Frühstückstisch, überkam mich ein sonderbares Gefühl. Es war eine reine Bauchsache. Nichts, was ich rational begründen konnte. Doch mein Herz raste, als ob mir eine plötzliche Erkenntnis zuteil geworden wäre. „Mimi …“
„Ja?“
Die Rechnung … Konnte es einen Grund geben, sich selbst ein Klavier auf den Kopf fallen zu lassen? Oder konnte es einen Grund geben, sich besagtes Klavier beinahe auf den Kopf werfen zu lassen? „Nichts“, sagte ich etwas zu schnell. Das Buch wurde dennoch zugeschlagen und ich war vollkommen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“
Ich versuchte, das Gespräch wieder auf Hans zu lenken. „Wann war denn schon mal tatsächlich der Gärtner der Mörder? Ich meine, ok, den Ausspruch kennt man. Aber welcher Krimiautor hat sich jemals getraut, so was …“
„Simon Beckett zum Beispiel“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Aber ich glaube nicht, dass dich das gerade so beschäftigt hat“, fügte Mimi hinzu.
Ich konnte ihr nichts vormachen, jedoch sträubte sich irgendwas in mir dagegen, ganz einfach auf die Rechnung des Spediteurs zu deuten. Fast fluchtartig sprang ich von meinem Stuhl auf, ließ mein angebissenes Honigbrötchen zurück und hörte beim Verlassen des Raumes, wie Mimi rief: „Wohin so eilig?“
„Baden“, antwortete ich hastig und stolperte die Treppe hinauf.
Während die Schaumbläschen prickelnd und leise knisternd auf meinen Armen platzten, erkannte ich, dass mein erzwungener Aufenthalt in Mimis Villa selbstverständlich auch nicht zu verachtende Vorteile hatte. Einer dieser Vorteile war die sündhaft große Badewanne, die zu meinem Zimmer gehörte. Außerdem war das Badezimmer dem Wald zugewandt. Also konnte ich das Fenster weit offen stehen lassen, ohne dass ich befürchten musste, dass mich indiskrete Blicke treffen könnten. Stattdessen umgab mich Vogelgezwitscher, harzige Waldluft und ein wunderbares Gefühl einsetzender Entspannung.
Mein Verhalten von eben kam mir nun schlichtweg albern vor. Ich schämte mich fast, dass ich Mimi … Allerdings ging mir die Rechnung nicht wirklich aus dem Kopf.
Neben meinem Zimmer hatte offenbar Norbert sein Quartier, denn irgendwann hörte ich leise sein gleichmäßiges Schnarchen. Ich war nur mäßig erstaunt, dass auch er in diesem Hause lebte. Typen wie er gingen dermaßen in ihrem Beruf auf, dass sie kein Zuhause kannten. Keine Freizeit. Nein. Norbert war immer für Mimi da.
Das warme Wasser ließ mich über meinen Gedanken etwas dösig werden. Norberts Schnarchkonzert tat sein Übriges. Mir fielen langsam die Augen zu.
Norbert, dachte ich. Er war immer mit Mimi zusammen. Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, was es mit der Rechnung auf sich hatte. Würde er antworten? … Nein.
Ein Zischen weckte mich. Das Wasser in meiner Badewanne war erkaltet und ließ mich frösteln. Mit steifen Gliedern kletterte ich heraus und stellte fest, dass meine Anziehsachen nicht mehr am Türhaken hingen. Stattdessen hingen dort zwei blütenweiße Handtücher und ein flauschig weicher Bademantel. Ich trocknete mich rasch ab, rubbelte mir die Gänsehaut vom Leibe und zog ich mir den Bademantel an. Während ich ihn zuknotete, hörte ich wieder das Zischen. Außerdem gluckerte etwas. Das kam aus meinem Zimmer! Misstrauisch öffnete ich die Tür einen Spalt. Ich weiß nicht, wen ich erwartet hatte. Doch ich war erleichtert, als ich feststellte, dass es Lena war, die in meinem Schlafzimmer stand und mit einem Bügeleisen eine meiner Hosen bügelte.
„Hallo Lena“, sagte ich. Etwas verlegen ging ich zu ihr. Mir war es unangenehm, dass nun auch sie das Chaos in meiner Kleidersammlung kannte. Es reichte schon, dass Norbert in meinen Schränken gewühlt hatte. Außerdem musste sie eben im Bad gewesen sein, als ich geschlafen hatte. Intimsphäre schien das Personal meiner Oma tatsächlich nicht zu kennen.
„Mimi hat gesagt, dass ich bei Ihnen mal nach dem Rechten schauen soll.“ Lena errötete leicht. „Ich hoffe, es war Ihnen recht, dass ich die schmutzigen Sachen aus dem Bad geholt und in die Wäsche gebracht habe.“
„Schmutzig?“, fragte ich etwas zu schnell. Zwischen sauber und schmutzig gab es meiner Meinung nach viele feine Abstufungen. Schließlich wollte ich nicht zu oft in den Waschsalon am anderen Ende des Ortes. Die abgelegten Kleider hätten nach dem Lüften bestimmt als frisch gewaschen durchgehen können.
„Oh“, ließ Lena vernehmen. Sie schlug die Augen nieder. „Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Soll ich die Sachen wiederholen gehen?“
„Nein. Sie haben schon recht, Lena. Danke.“
„Ich wollte Ihre Kleidung schon mal in den Schrank einräumen. Aber zum Falten war das Meiste zu …“ Lena hielt inne. Sie wollte nicht in das nächste Fettnäpfchen treten. Doch dafür war es wohl zu spät. Das war auch ihr bewusst. Sie errötete. „… zerknittert und zerknautscht“, beendete ich ihren Satz und versuchte, die Situation mit einem Lächeln zu entschärfen. Ich mochte das Mädchen. Jung und naiv wirkte sie. Etwas über zwanzig mochte sie sein und vom Leben hatte sie bestimmt noch nicht viel gesehen.
Als ich in ihrem Alter gewesen war, hatte ich Tom kennengelernt. Und er hatte mir in den folgenden zehn Jahren viele Lektionen in Sachen Leben erteilt. Meine Naivität hatte ich endgültig abgelegt.
„Norbert hat gepackt“, sagte ich. Das war ja keine Lüge. Der offenkundige Vorwurf, dass er für den Zustand der Kleidungsstücke verantwortlich sei, hatte mit der Wahrheit allerdings auch nichts zu tun.
„Ich geh schnell mit dem Bügeleisen über die Sachen und räume sie dann in den Schrank“, erklärte Lena eifrig. Zur Bestätigung ihrer Absichten schnaubte das Bügeleisen in ihrer Hand.
Da ich mir etwas überflüssig und nutzlos vorkam, beschloss ich, mich in die Bibliothek zu verkrümeln.
Ohne Zweifel: Dieser Raum, angefüllt mit unzähligen Büchern, war das Herzstück des Hauses. Vom Boden bis zur Decke klommen Regalbretter in die Höhe. Da die Bibliothek doppelt so hoch wie die übrigen Zimmer des Hauses war, waren an jeder Wand Leitern auf Rollen angebracht, die man entlang einer Schiene schieben und beliebig positionieren konnte. Als Kind hatte ich mich oft an ihre Unterseite gehängt und mich kräftig mal in die eine, dann in die andere Richtung abgestoßen.
Auch heute war ich gerne hier. Nicht zum Spielen, nein. Aber ich mochte die Ruhe in diesem Raum. Das Papier schien alle Laute aufzusaugen, zu schlucken. Manchmal stellte ich mir vor, dass sie die gesprochenen Wörter in sich aufnahmen und auf ihr Papier bannten. Noch schöner wäre es gewesen, wenn sie auch meine Vergangenheit auf diese Weise gefressen hätten. Das taten sie natürlich nicht. Stattdessen bescherten sie dem Leser nur weitere Dramen. Mord und Totschlag gab es hier in diesem Raum. Gewalt.
„Unterhaltsam“, hätte Mimi gesagt. „Morbide“, hätte ich wahrscheinlich geantwortet.
„So nachdenklich?“ Eine Männerstimme verscheuchte die Stille. Erschrocken fuhr ich herum. Tom?
Nein. Im Türrahmen stand ein anderer Mann. Zunächst sah ich nur seine Silhouette. Die schmächtige und verbogene Statur eines Fragezeichens. „Hallo Helen. Lang nicht mehr geseh’n.“ Es war Ferdi. Na toll.
Ein anzügliches Grinsen aufgesetzt, ließ er den Blick über meinen Bademantel streifen. Verschämt zog ich den Stoff vorm Hals enger zusammen. „Seit wann genierst du dich denn so?“ Der Typ war mir einfach nur zuwider.
„Hallo Ferdi.“ Ich drehte mich zum nächsten Regal um und zog mir irgendein Buch raus: Wenn der Postmann zweimal klingelt.
Ferdi kam zu mir herüber und schaute über meine Schulter. Dabei langte er wie selbstverständlich nach meinen Hüften, als wären wir ein Paar. „Ein scheiß Buch“, kommentierte er meine Auswahl, „ich hab den Film mal gesehen. Kommt gar kein Briefträger drin vor.“ Als ob das etwas über die Qualität des Buches aussagen würde.
Möglichst grob schob ich seine Hände fort. „Lass das!“
Er entfernte sich wieder einige Schritte, ließ dabei einen leisen, bewundernden Pfiff hören. Der galt allerdings nicht mir. „Seit meinem letzten Besuch hier sind es noch mehr Bücher geworden. Hier steht ein Vermögen.“
Ja, so kannte ich Ferdi. Mit Dollarzeichen in den Augäpfeln wanderte er durch die Welt. Wie Dagobert Duck bemaß er alles, was er sah, nach seinem finanziellen Wert. Mit dem Unterschied, dass er nicht so viel Geld in einem Geldspeicher besaß. Und wenn er einen Geldspeicher gehabt hätte, wäre jeder Kreuzer und jeder Taler für die Tilgung seiner Schulden nötig gewesen. Obendrein hätte er anschließend noch den Geldspeicher verpfänden müssen, damit er wenigstens für die nächsten zwei Wochen in einem Wohnanhänger hätte leben dürfen.
Er zog sich einen besonders kostbar wirkenden Schinken heraus, blätterte darin herum und klemmte ihn sich dann unter den Arm. Im nächsten Moment hatte er ein Smartphone in der Hand und tippte routiniert auf dem Display herum.
„Was machst du da?“, fragte ich.
„Mal sehen, ob ich das Teil bei Ebay verkauft kriege.“
„Spinnst du?“
„Ach, stell dich nicht so an. Mimi hat so viele modernde Bücher hier drin. Das merkt die nicht.“
Ein Räuspern. Und Norbert stand, gestriegelt und gespornt, neben Ferdi. Wortlos nahm er das Buch an sich und stellte es mit steinerner Miene zurück an seinen Platz. „Madame erwartet Sie im Wintergarten.“
Schon schritt Norbert davon. „Mann, hat der Kerl ’nen Stock im Arsch“, stellte Ferdi fest. Er gluckste dabei auffordernd, als müsste ich voll und ganz seiner Meinung sein und diesen Spruch besonders kreativ finden.
„Er ist ein Mann der alten Schule“, sagte ich, wohlwissend, dass uns Norbert noch hören konnte. „Er ist loyal und zuverlässig.“
„Apropos loyal.“ Was mochte jetzt aus Ferdis Mund kommen? Mit Loyalität konnte es eigentlich nichts zu tun haben. Ich war mir nicht mal sicher, ob er die Bedeutung des Wortes richtig verstand. „Mich hat der Bürgermeister neulich angerufen. Hat mir ein tolles Angebot für die Villa gemacht.“
„Wie kann er dir ein Angebot für die Villa machen? Sie gehört dir doch gar nicht.“ Ich spürte, wie Wut in mir zu köcheln begann.
„Sie gehört mir noch nicht“, korrigierte Ferdi mich. „Aber ich werde einen Teil hiervon erben. Um genau zu sein: Ich werde eine Hälfte hiervon erben. Die andere Hälfte wird wohl dir gehören. Deine Mama wurde ja schon vor einiger Zeit enterbt. Hat sich in den Augen unserer Oma mit dem falschen Mann zusammengetan. Schön, dass unsere Familie inzwischen so klein geworden ist, oder? Hat der Bürgermeister dir auch schon ein Angebot gemacht?“
„Du kannst es wohl nicht abwarten, Mimi unter die Erde zu bekommen“, knurrte ich.
„Also hat er dir ein Angebot gemacht.“
„Nein. Dieser Mistkerl hat nur eine Andeutung gemacht. Er besaß die Frechheit, es in Mimis Beisein zu tun. Sie hat ihn hochkant rauswerfen lassen.“
Ferdi lachte. „Cool! Wie geil ist das denn? Dann wird sie unser Erbe also nicht vorher verkaufen und verprassen. Ich hatte schon Angst, sie würde an die Stadt verkaufen, jetzt, wo sie uns zu sich eingeladen hat. Dann ist ja noch nichts verloren.“
Vor meinem inneren Auge sah ich auf einmal das Klavier, wie es hoch über dem Gehsteig hing. Meine Fantasie zeigte mir Ferdi, wie er mit einer Zange die Drahtseile des Lastenaufzuges durchtrennte, wie er mit einem riesigen Hammer gegen die Stützen hieb. Sie zeigte mir Ferdi, der tatsächlich …
… ein Motiv hatte.
Kaum hatte Ferdi den Wintergarten betreten, begann Poirot zu zetern. Dabei stellte er sein ganzes Sprachvermögen unter Beweis: „’alunke! Ganove! ’alsbschneida!“ Er sagte auch einige Schimpfworte, die ich noch nicht kannte. Bei dem ohrenbetäubenden Lärm ging Ferdis Begrüßung fast unter. Mimi nickte ihm nur knapp zu. Als sich der Vogel endlich beruhigt hatte, sagte sie vergnügt: „Er scheint sich noch an dich zu erinnern, Ferdi. Er hat ein gutes Gedächtnis. Ich vergesse anscheinend schneller als Poirot. Wann war nochmal dein letzter Besuch, lieber Enkel?“
Ferdi gab sich von seiner herzlichen Seite. Gerade so, als ob er tagtäglich hier vorbeischauen würde. Er umarmte Mimi, küsste sie sogar auf den Mund und sagte dann: „So lange ist das doch gar nicht her. Du tust gerade so, als ob ich dich nicht gerne besuchen würde.“
„Neun Monate“, stellte Mimi fest. „Es ist neun Monate her.“
„Äh. Ja. Ich war auf einen Kaffee hier. Und einen wunderschönen Strauß mit Astern hast du bekommen.“
„Ein Bund billiger Friedhofsblumen. Sehr passend. Enttäuscht, dass ich noch lebe?“
„Mimi! Was denkst du von mir?“ Ferdi wurde nicht mal rot.
„Du warst allerdings nicht wegen eines Kaffees bei mir“, fuhr Mimi unbeirrt fort, „du hast mir irgendwas von einem Inkassounternehmen und einem Geldeintreiber erzählt. Dreitausend Euro hat mich dein Besuch gekostet.“
„Dreitausendeinhundert“, korrigierte Norbert, der gerade einen Teller mit Fingerfood servierte.
„Ich hab’ mir das Geld ja nur geliehen“, versuchte Ferdi richtigzustellen.
„Oh!“ Mimi tat erstaunt. „Du wolltest mir das Geld zurückzahlen? Heute?“
„Heute bin ich wegen deiner Einladung hier.“
„Ja“, sagte Mimi, „und wäre meine Einladung nicht so überraschend gekommen, hättest du mir bestimmt das Geld mitgebracht, stimmt’s?“
In diesem Moment konnte ich in Ferdis Gesichtszügen lesen, wie Mimi in ihren Büchern. Er ging im Geiste alle möglichen Antworten durch und seine liebste Antwort wäre wohl gewesen: „Du wirst die Rückzahlung eh nicht mehr erleben.“ Stattdessen entschied er sich dafür zu schweigen.
„E’bschleicha!“ Dafür bekam Poirot eine Nuss von mir.
Der weitere Verlauf des Gesprächs war einfach nur peinlich. Ferdi versuchte, sich permanent ins rechte Licht zu rücken. Was für ein Familienmensch er doch sei. Und was für ein toller Geschäftsmann. Er sprach von einmaligen Gelegenheiten, großen Ideen und seiner Beliebtheit bei Geschäftskollegen. Hin und wieder band er in sein Gelaber ein, dass er für den richtig großen Durchbruch nur die richtige Menge Geld brauche.
Tatsächlich schien er nicht zu bemerken, wie durchschaubar er war. Oder er besaß die unglaubliche Gabe, dies zu ignorieren. Wahrscheinlich glaubte er auch das, was er so erzählte, weil er es andernorts oft genug wiederholt hatte. Noch verblüffender war allerdings Mimi: Sie hatte ein schmallippiges Lächeln aufgesetzt und die Arme vor der platten Brust verschränkt. Ansonsten blieb sie überraschend schweigsam.
„Ich finde es übrigens gut“, änderte er jäh das Thema, „dass du nicht an die Stadt verkaufst. Es wäre zu schade um dieses bezaubernde Anwesen.“
Ein „Ach was“ entfleuchte mir.
Mimi kicherte schelmisch. „Ich bin beruhigt. Ich hatte schon befürchtet, du würdest versuchen, mich zu überreden …“
„Ich? Warum sollte ich?“
Mimi kniff listig die Augen zusammen: „Stimmt. Sonst hättest du dem Bürgermeister ja kein Vorkaufsrecht anbieten können.“
„Woher weißt du …?“ Ferdi war vollkommen perplex.
„Oh“, machte Mimi ruhig, „ein Schuss ins Blaue. Aber auch ein Volltreffer, wie ich befürchte. Über welche Summe?“
„Äh … äh … Zweitausend Euro.“ Die ersten beiden ehrlichen Worte aus seinem Munde.
„Du bist, weiß Gott, der lebende Beweis, dass Hirnversagen nicht zwangsläufig zum Tode führt. Da erzählst du mir eine geschlagene Stunde lang, was für ein toller Geschäftsmann du bist, und im nächsten Moment erwähnst du die Zementierung eines Millionengeschäfts mit zweitausend Euro.“
Bevor Ferdi etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, öffnete sich die Tür und Lena kam herein. In Mimis Richtung machte sie tatsächlich einen Knicks! Erst dann drehte sie sich zu mir um und sagte mit piepsiger Stimme: „Die Sachen sind fertig und im Schrank.“
Ferdi nahm dies zum Anlass, laut zu lachen. Es war ein äußerst hässliches Lachen. „Da ist ja jemand noch mehr Mauerblümchen als du, liebe Helen.“
Lena reagierte darauf mehr als heftig: Sie flüchtete. Ferdis Lachen erstarb. „Etwas empfindlich, die Kleine.“
„Feingefühl und Höflichkeit waren noch nie deine Stärke“, kommentierte Mimi. „Norbert, würden Sie bitte Lena nachgehen und sich um sie kümmern?“ Norbert nickte stumm und tat wie ihm geheißen.
Nach dieser kurzen Szene hätte ich mir gewünscht, dass Mimi meinen Cousin hinauswerfen und die Hunde auch auf ihn hetzen würde. Aber Mimi stand wohl anderes im Sinn, denn sie lud Ferdi noch zum Mittagessen ein. Etwas erstaunt und noch etwas mehr frustriert beschloss ich, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Mir reichte die Aussicht darauf, seine Visage beim Essen ansehen zu müssen. Da brauchte ich ihn nicht auch noch den Rest des Vormittags zu sehen. Außerdem sollte ich mir dringendst etwas Geeignetes anziehen.
Jeans und eine leichte, schlichte Bluse, sportlich und nicht zu schick. Ein gutes Outfit, um den weiteren Tag hinter mich zu bringen. Meine Haare, die nach dem Bad etwas zu struppig geraten waren, flocht ich zu einem langen Zopf. Durchsichtiger Nagellack, etwas Makeup, ein Tropfen Duftwasser. Als ich mich im Spiegel des Kleiderschranks betrachtete, musste ich mir eingestehen, dass ich schon lange nicht mehr so … Wie würde Mimi es nennen? … dass ich lange nicht mehr so adrett ausgesehen hatte. Aber warum auch nicht? Der Hauch des Abenteuers streifte mich in Mimis Nähe. Vielleicht war ich neben meiner Oma nur eine beliebige Nebenrolle in einer seichten Krimikomödie, aber wenigstens konnte ich mich ein wenig in ihrem Glanz sonnen. Dass mich Ferdi nochmals indirekt als ein Mauerblümchen beschimpfen würde, wollte ich in jedem Fall vermeiden.
Ich winkte meinem Spiegelbild zu, nahm zur Kenntnis, dass es mir zeitgleich und ausreichend höflich zurückwinkte. Dann verließ ich das Zimmer.
Ein dumpfer Knall echote durch die Flure des Hauses.
Über dem Durchgang zur Bibliothek wand sich um die Sockel des Treppengeländers ein gestreiftes Band. Auf den ersten Blick hätte man es für eine Schlange halten können. Doch ich hatte dieses Band heute schon mal gesehen: Es war das Kabel des Bügeleisens. Der Stecker ragte aus einem festen Knoten hervor.
Langsam ging ich zur Brüstung und schaute hinab ins Parterre. Straff vom Gewicht des Eisens gespannt, hing das Kabel wie ein Lot in die Tiefe. Auf dem Boden darunter lag regungslos mein toter Cousin Ferdi.