Читать книгу Der Letzte beißt die Hunde. Eine schwarze Krimikomödie - Markus Walther - Страница 7
ОглавлениеDie üblichen Verdächtigen
Meine kleine Dachgeschosswohnung war ein starker Kontrast zu Mimis Villa. Der Luxus hielt sich zwischen Kochecke, Schlafwohnzimmer und Waschraum in sehr engen Grenzen. Ich hatte leidlich versucht, die Wände mit Postern aus irgendwelchen Teenie-Zeitschriften zu verschönern, damit man die alte zigarettenvergilbte Tapete nicht sehen musste.
An Silvester hatte ich mir vorgenommen, mein neues Leben in den Griff zu bekommen. Nun … Das war Silvester vor zwei Jahren gewesen. Aber immerhin hatte ich den Entschluss gefasst. Seither lebte ich aber immer noch in meiner stillen Lethargie. Hier oben in meinem schäbigen Zuhause konnte ich mich so wunderbar meinem Selbstmitleid hingeben. Ich brauchte nicht zu befürchten, dass mich hier jemand erlösen wollte. Selbst Mimi kam mich hier nicht besuchen. Der Aufstieg über die steilen Treppen war ein unüberwindliches Hindernis für sie.
Der Morgen drei Tage nach dem Mordanschlag – insgeheim nannte ich den Vorfall inzwischen auch so – begann für mich also wie jeder andere Morgen: Mit heißem Wasser, dazu ein Espresso aus der Tüte. Auf der durchgelegenen Couch fläzte ich mich hin und nahm mir ein abgegriffenes Groschenheftchen. Genau wie Mimi las ich gerne. Doch ich war bei Weitem nicht so wählerisch wie sie: Mr. Cotton wusste mich genauso gut zu unterhalten, wie es Sir Conan Doyle bei Oma tat. Das lag vermutlich daran, dass ich mich auf allzu Kompliziertes nicht so recht konzentrieren konnte. Außerdem lagen mir die einfachere Sprache und die kleineren Textblöcke. Selbst die kleinen Werbeanzeigen mitten in der Story waren mir willkommen. Ich hatte das mal Mimi erzählt. Zunächst hatte sie die Nase gerümpft, dann aber herzlich gelacht. „Du suchst keine Unterhaltung. Du suchst Zerstreuung.“
„Das macht doch keinen Unterschied“, hatte ich halbherzig protestiert.
„Da ist ein riesiger Unterschied. Wenn ich mich unterhalten lasse, dann fokussiere ich meine Gedanken wie durch eine Lupe auf die Ereignisse. Wenn du dir Zerstreuung suchst, dann lässt du dein Hirn durch Milchglas schauen.“
Milchglas. Ja, das stimmte schon. Hier oben in meiner Wohnung, allein wie ich war, fühlte ich mich in einer Welt, die verschwommen und blass war, am wohlsten.
Das Telefon klingelte. Hartnäckig. Meine Absicht, es zu ignorieren, kämpfte mit der Beharrlichkeit des Apparates. Nach dem achten Klingeln gab ich meinen Widerwillen auf und suchte das Telefon, das natürlich nicht in der Ladeschale lag. Nach dem zwölften Klingeln hatte ich es unter einem Stapel Schmutzwäsche gefunden.
„Ja?“
„Helen! Ich dachte schon, du findest das Telefon nicht.“ Es war Mimis Stimme, die mir blechern durch den Hörer entgegenschallte.
„Ich habe das Telefon nicht gefunden“, sagte ich. „Guten Morgen“, fügte ich vorwurfsvoll hinzu. Sie hätte mich wenigstens erst mal grüßen können, bevor sie meine Unordnung ins Feld führte.
„Mahlzeit“, kam es retour, „weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
Flüchtig schaute ich auf die Uhr. Halb zwölf. „Ja klar.“
„Hast du Lust vorbeizukommen?“
„Es ist Sonntag“, stellte ich fest. Vorher hatte ich sicherheitshalber die Kalenderfunktion der Uhr bemüht. Wir trafen uns nie am Sonntag.
„Du hast doch bestimmt nichts vor.“ Allein für diesen Satz, hätte ich … „Ich schick ein Taxi, dass dich abholen soll.“ Wie vergnügt die alte Frau doch klang. „Es ist in zehn Minuten da.“
„Aber ich muss mich noch anziehen“, protestierte ich halbherzig.
„Helen, es ist halb zwölf!“
Ein Seufzen entfuhr mir. „Ich weiß.“
Eine Katzenwäsche musste ausreichen. Nicht dass ich mir die Zeit nicht hätte nehmen können, doch mir fehlte schlicht die Motivation für mehr. Selbst auf das Make-up verzichtete ich ganz. Mimi musste mit mir in natura zufrieden sein.
Als ich mir meine Jacke überzog, meldete sich erneut das Telefon. Nachdem ich abgehoben und mich mit meinem Namen gemeldet hatte, bekam ich zunächst nur ein Schweigen zur Antwort. Es war, als ob der Anrufer erst noch überlegen musste, ob er ein Gespräch mit mir anfangen wollte. Dann ein tiefes Luftholen. Ein leises Ausatmen. „Helen? Ich bin’s. Tom.“
Tom?
„Hallo Arschloch“, sagte ich von Herzen, nachdem ich dem Impuls widerstanden hatte, gleich wieder aufzulegen.
„Leg nicht gleich wieder auf“, sagte er, meine Beleidigung ignorierend.
Ich bemühte mich um einen souveränen Unterton in meiner Stimme. Es gelang mir fast: „Warum sollte ich?“
„Hör zu. Deine Oma hat mir eine Einladung geschickt. Ende der Woche erwartet sie mich in ihrer Villa. Weißt du etwas darüber?“
Tom Malo, ja, der Name hatte auf einem der Umschläge gestanden. Mimi hatte ihn eingeladen. Obwohl sie wissen musste, dass Tom der letzte Mann auf Erden war, den ich wiedersehen wollte.
Plötzlich stellte ich fest, dass mein Daumen auf der Taste mit dem roten Telefon-Symbol ruhte. Ich hatte aufgelegt.
Vor Mimis Villa angekommen, hatte ich erst mal eine Zwangspause hinter mich zu bringen. Das überproportionale, schmiedeeiserne Tor trennte mich von dem Dobermann Willi. Mit gefletschten Zähnen und lautem Gebell hatte er mein Kommen angekündigt. So konnte ich es mir sparen, den Klingelknopf zu betätigen. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis … Rums! Erschrocken wich ich vom Gitter zurück, denn mit voller Wucht war Basker, der andere Dobermann, gegen die Eisenstäbe gesprungen. Nun gifteten sie mich beide lautstark an. Ich konnte diese Viecher nicht leiden, doch Mimi hatte einen Narren an ihnen gefressen. Allerdings benahmen sie sich bei ihrem Frauchen auch absolut handzahm.
Von irgendwoher ertönte eine Hundepfeife und augenblicklich verstummten die Köter, sprinteten vom Tor weg und verschwanden zwischen den Büschen und Bäumen des parkähnlichen Gartens.
Kurz darauf erschien Norbert. Mit unbewegter Miene und stocksteif, wie es dem Klischee seines Berufstandes entsprach, öffnete er das Tor und hieß mich willkommen.
„Hallo Norbert“, sagte ich, vom Schock noch ein wenig atemlos, „sind die Hunde jetzt im Zwinger?“
„Selbstverständlich. Madame Mimi erwartet Sie im Wintergarten.“
Madame! Keine Ahnung, wann und warum sich Norbert die französische Anrede seiner Hausherrin zugelegt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mimi darauf Wert legte. Doch in seiner beruflichen Ehrerbietung ihr gegenüber kannte er offensichtlich keine Grenzen. Ich fragte mich, wie er wohl privat sein mochte. Würde er unten im Ort mit den Bauern, Beamten und Handwerkern in der Kneipe ein Bier trinken? Oder entsprach das in seiner Denkweise nicht seinem Stand? Mich schaute er gerade an wie jemand, der das tote Mitbringsel einer Katze begutachtete. „Möchten Sie sich vorher noch etwas frisch machen?“
Es war angenehm warm hinter den dünnen Scheiben des Wintergartens. Die Frühlingssonne, die in der kalten Luft draußen kaum zu spüren war, entfaltete hier ihre wohltuende Kraft. Es roch nach gutem Kaffee und nach dem schweren Parfum, das Mimi zu gesellschaftlichen Anlässen immer auflegte. Sie selbst war in ein elegantes und dennoch leichtes Kleid gewandet. Mit ausgebreiteten Armen empfing sie mich, drückte mir einen gar nicht damenhaften Schmatzer auf das Ohr, der sich anfühlte, als wolle sie mir das Hirn aussaugen. Das Gleiche versuchte sie auch auf der anderen Seite, doch ich schaffte es gerade noch, meinen Kopf so zu drehen, dass sie nur meine Wange erwischte. Danach drückte sie mich fest an sich.
Man hätte meinen können, dass diese intensive Begrüßung der Tatsache geschuldet war, dass sie dachte, jemand würde sie umbringen wollen. Ich wusste es jedoch besser: Es war ihr Standardritual, das ich bei jedem Besuch durchleben musste. Ebenso musste ich mir danach ihre Begutachtung und die damit verbundene Missachtung gefallen lassen.
Nun, ich hatte Norberts abschätzendem Blick standgehalten. Was sollte mir also noch geschehen?
„Sie wa’s! Sie wa’s! Polizei. Polizei.“ Das Krächzen hatte ganz unvermittelt angefangen. Im Käfig rappelte Poirot an den Stäben. Der Graupapagei wusste sein Sprachtalent immer im richtigen Moment zum Besten zu geben. Ich eilte zu ihm, griff in die Futterdose und reichte ihm schnell eine größere Nuss als Bestechung, damit er mit den Beschuldigungen meiner Person aufhörte; Leute, die ihn fütterten, bekamen von ihm immer rasch eine Amnestie.
„Du solltest mal ein paar neue Worte lernen, mein Freund“, flüsterte ich ihm zu. Seine Antwort lautete: „Alta Ve’becha!“
„Er mag dich“, übersetzte Mimi.
„Er bekommt ja auch immer was von mir.“
„Nein, daran liegt es nicht“, sagte Mimi, „er hat schon eine gewisse Menschenkenntnis. Verbrecher sind für ihn liebe Leute. Wenn er jemandem misstraut, nennt er ihn verdächtig.“
„Wie nennt er Typen wie Tom?“
„Tom?“ Mimi tat unschuldig. „Wie kommst du jetzt auf Tom?“
Ich sagte nichts von dem Anruf. Um ein Pokerface bemüht, setzte ich mich an den Tisch und goss uns Kaffee ein. „Du hast ihn eingeladen.“
Mimi lächelte. „Du weißt, warum ich ihn eingeladen habe. Er hat ein Motiv. Vielleicht will er mich umbringen.“
„Und deshalb lädst du ihn ein? Etwas Verrückteres habe ich noch nie gehört. Überlass’ das Ermitteln der Polizei.“
„Du hast doch selbst gehört, dass sie die Kripo nicht schicken wollen. Die denken, dass es ein Unfall war.“
Ich dachte an den Polizisten zurück, der sichtlich hilflos und sichtlich entnervt mit Mimis Art zu kämpfen hatte. Und immer wieder nannte sie ihn Inspector. Kein Wunder, dass er sie nicht für voll nahm. Schlussendlich hatte er in seinem Streifenwagen seine Dienststelle kontaktiert. Als man ihn mit der Kriminalpolizei verbunden hatte, sah der arme Kerl noch gequälter drein.
„Wir sollen uns wieder melden, wenn tatsächlich ein Mord geschehen ist!“ Die Empörung Mimis äußerte sich in einem ironischen Lachen. „Na, das können sie haben.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich überrascht.
„Wie ich es sagte. Mit dieser Einstellung, die die Beamten da an den Tag legen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es Tote geben wird.“
Kaffee. Ich brauchte Kaffee. Mit viel Milch und Zucker. „Und deshalb lädst du To…“ Ich unterbrach mich und beendete den Satz dann anders. „… die Mörder zu dir nach Hause ein?“
Mimi schob das Milchkännchen zu mir herüber. „Du sprichst in der Mehrzahl?“
„Du hast mehrere Einladungen verschickt“, stellte ich nüchtern fest.
„Ja, das stimmt“, antwortete Mimi, „aber vermutlich wird nur einer von ihnen mein verhinderter Mörder sein. Ihn zu finden, zu entlarven und dingfest zu machen, wird die Aufgabe der nächsten Tage sein.“
Ich hatte nicht mitgezählt, wie oft ich den kleinen Löffel zwischen Zuckerdose und Tasse hin- und hergeschickt hatte. Entsetzt stellte ich fest, dass mich Toms Anruf zu sehr aus der Bahn geworfen hatte. „Verrückt“, sagte ich deshalb halb zu mir und halb an Mimi gerichtet.
Mimi legte sachte ihre Hand auf die meine und tätschelte sie liebevoll. „Tom hat ein Motiv. Wenn du dich an euren Prozess erinnerst: Ich habe damals gegen ihn ausgesagt. Vielleicht ist ein abstürzender Flügel seine Methode, sich zu revanchieren …“
„Das ist fast zwei Jahre her“, wandte ich ein. Dabei nippte ich an der hellbraunen Brühe und verzog angewidert das Gesicht.
„Hass verjährt nicht.“
„Wem sagst du das?“
Die Türklingel meldete sich lautstark mit dem Glockenschlag der Westminster Abbey. „Ah, da kommt unser Besuch. Norbert, lassen Sie doch bitte Herrn Jensen ein.“
Keine Ahnung, wo der Butler so schnell hergekommen war. Doch wie aus dem Nichts war er gerade hinter Mimi erschienen. Und jetzt, wo meine Oma ihm eine Anweisung erteilt hatte, war er auch schon wieder mit einem „Sehr wohl“ in besagtes Nichts verschwunden. Es war physikalisch beinahe unmöglich, dass er schon in der nächsten Minute das Gartentor öffnen konnte. Immerhin musste er die komplette Auffahrt durch den Garten hinter sich bringen. Und das in seinem gemessenen Schritt. Dennoch hörte ich, wie sich das schwere Schmiedeeisen in den Angeln bewegte.
„Manchmal ist mir Norbert unheimlich“, flüsterte ich.
„Norbert?“ Mimi nahm meine Tasse und goss den Inhalt in den Topf einer Yucca-Palme. „Sei nicht albern.“
Der Kies raschelte im Rhythmus sich nähernder Schritte. Die Haustür öffnete sich, schloss sich. Wir hörten Norbert, wie er um Mantel und Hut bat …
Herr Jensen, der Bürgermeister unserer Kleinstadt, betrat das Haus wie ein Zirkusdirektor seine Manege. Man hätte fast meinen können, dass er uns gerne besuchte. Das Strahlen seiner gebleichten Zähne erleuchtete den Raum. „Mimi! Wie schön, Sie zu sehen. Sie scheinen von Tag zu Tag jünger zu werden.“ Er nahm ihre Hand und deutete einen Kuss auf den Handrücken an. Schon drehte er sich in meine Richtung, verbeugte sich leicht und während sich eine Stirnlocke rebellisch aus der Pomade löste, rief er: „Helen, wenn ich mich nicht täusche. Oder war Anna Ihr werter Name?“
„Mein Name ist Malo“, korrigierte ich seine plumpe Vertraulichkeit, „Helen Malo.“
Er zögerte kurz, fand aber sogleich in sein Fahrwasser zurück. Er reichte mir die Hand, nickte und sagte etwas weniger überschwänglich: „Freut mich, Frau Malo. Es ist lange her, dass ich Sie bei Mimi gesehen habe.“
„Es wäre mir lieber, Herr Jensen, wenn wir auch in meinem Fall bei der korrekten Anrede blieben. Mein Zuname lautet Richter, wie Sie wissen. Nach meinem Kenntnisstand haben wir nicht miteinander Fische gefangen.“
Oma war im Ort eine Institution. Und obwohl ihr jeder mit Anerkennung und Respekt begegnete, war sie eigentlich für alles und jeden nur die Mimi. Wer besonders förmlich sein wollte, tat es Norbert nach und sprach von Madame Mimi oder – wie es die Kinder taten – von Tante Mimi. Dass sie nun dem Bürgermeister eine Lektion in Sachen Höflichkeit gab, setzte somit ein unmissverständliches Zeichen.
„Nun – äh – Frau Richter, Sie haben mir recht kurzfristig diese Einladung zukommen lassen. Ihr Brief lag gestern in meinem Posteingang.“ Der Bürgermeister versuchte sein aalglattes Gesicht wieder aufzusetzen. Doch er war eindeutig aus dem Konzept gerissen. „Natürlich habe ich mich sehr über Ihr Schreiben gefreut. Darf ich der Tatsache, dass Sie mich herbestellt haben, entnehmen, das Sie nun doch endlich zur Vernunft gekommen sind?“
Mimi setzte sich wieder auf ihren Platz. Ein kurzer Wink ihrerseits und ich setzte mich ebenfalls. Herr Jensen stand nun vor uns wie der Angeklagte vor dem Tribunal. Und Mimi vergaß gänzlich, ihm auch einen Platz anzubieten. „Wie kommen Sie darauf, dass ich die Vernunft verloren hätte?“
„Nein, nein. So habe ich das selbstverständlich nicht gemeint. Sie wissen schon. Die Stadt hat Ihnen ja mehrfach geschrieben.“
„Ve’dächtig“, krächzte es aus der Ecke. Irritiert blickte der Bürgermeister zu dem Papagei, der ein lautes „Krah!“ hinterherschickte. Etwas Gequältes lag in seinem Gesicht, als er sich uns wieder zuwandte.
„Sie haben es sich doch anders überlegt? Das Angebot der Stadt ist überaus großzügig.“
„Oma“, sagte ich, „ich verstehe kein Wort.“
Mimi schenkte mir einen neuen Kaffee ein. „Da gibt es nicht viel zu verstehen. Die Stadt möchte mir gerne dieses Anwesen abkaufen. Die Villa und den Garten.“
„Genau“, sagte Herr Jensen, „für eine Summe, die weit über dem Schätzwert liegt. Mit dem Verkauf der Immobilie wären Sie eine reiche Frau.“
„Ich bin eine reiche Frau“, antwortete Mimi gelassen. „Außerdem habe ich ein Alter erreicht, in dem ich es wohl kaum schaffen könnte, das Geld, was mir die Stadt bezahlen möchte, irgendwie sinnvoll auszugeben.“
„Sie könnten es“, seine Augen fixierten mich plötzlich, „vererben.“
„Also bitte.“ Mimi tat entrüstet. „Ich verbitte mir solche Äußerungen.“ Sie öffnete das Zuckerdöschen. „Ich werde die Villa vererben, nicht das Geld. Die Villa! So wie sie hier steht. Ihr Einkaufszentrum wird auf meinem Grund und Boden nicht gebaut werden, solange ich es verhindern kann.“
„Aber es ist wertvolles Bauland. Für die Stadt wäre es ein großer Schritt in die Zukunft. Ein Einkaufszentrum wäre eine Bereicherung für die Stadt.“
Mimi lachte wie eine Zwanzigjährige. Sie erinnerte an eine Katze, die nach langem Suchen endlich ihr Mäuslein gefunden hatte. Und jetzt versetzte sie dem Mäuslein mit ihren Tatzen ein paar spielerische Hiebe.
„Es wäre wohl viel mehr ein großer Schritt in Ihre Zukunft, lieber Herr Bürgermeister. Und soweit ich das beurteilen kann, dürfte auch die Bereicherung ganz auf Ihrer Seite sein, oder nicht? Immerhin gehört Ihrem Bruder das ortsansässige Bauunternehmen. Und Ihrem Schwager das leer stehende Nachbargrundstück.“
Herr Jensen rieb sich fahrig die Locke zurück in die verklebten Haare. Seine Autorität bröckelte zusehends. „Was unterstellen Sie mir da? Ich handle nur im Interesse der Stadt.“
„Sie sind kein richtiger Politiker. Sie kaschieren Ihre Interessen nicht gut genug“, erklärte Mimi genüsslich. „Die Frage ist nur, warum Sie es plötzlich so eilig haben, dass Sie dafür ein Verbrechen begehen würden.“
Nervös wich Jensen einen Schritt zurück. Er wirkte ertappt. „Verbrechen? Was sagen Sie da, Mim… Frau Richter?“
„Ve’dächtig!“, brüllte Poirot mit höchstem Genuss. „Ve’dächtig!“
„Vielleicht liegt es daran, dass die Legislaturperiode dem Ende entgegeneilt? Hat der Herr Bürgermeister Sorge, dass er nicht wiedergewählt wird? Haben Sie Ihre Schäfchen noch nicht im Trockenen?“
„Warum haben Sie mich herbestellt?“ Der Satz war schon fast ein Bellen, das Basker hätte gerecht werden können. „Ich muss mir diese Verleumdungen nicht anhören. Sie vergessen, wen Sie vor sich haben!“ Trotzdem entging mir nicht, dass Jensen zwei weitere Schritte zurück zur Tür gemacht hatte. Außerdem stand Norbert schon hinter ihm und hielt vorausschauend Mantel und Hut bereit. Unvermittelt sprach Jensen mich an: „Bringen Sie Ihre Großmutter zur Vernunft. Sie bekommt sonst noch große Schwierigkeiten mit solchen Äußerungen. Und …“ Er versuchte ein vertrauenswürdiges Lächeln, scheiterte aber bereits im Ansatz. „… möglicherweise kommen wir ja später ins Geschäft.“
Es war in diesen Minuten nicht viel gesprochen worden. Und dennoch war der letzte Satz einfach zu viel gewesen. „Raus!“, fauchte Mimi. Ihr gelang dabei das Kunststück, ihre Erhabenheit zu bewahren. Jensen gelang dies hingegen überhaupt nicht. Eventuell lag es daran, dass Norbert ihm recht ruppig in seine Sachen half. Unter Umständen lag es aber auch daran, dass der Bürgermeister auf dem Weg zum Tor feststellen musste, dass irgendjemand Willi und Basker aus dem Zwinger gelassen hatte. Als er all seine Würde abwarf, bewies er sein Talent als hervorragender Sprinter. Immerhin schaffte er es gerade rechtzeitig zum Tor heraus.
Aus irgendeinem Grund musste ich an eine Spinne denken: Mimi saß mit einem selbstgefälligen Dauergrinsen auf ihrem Stuhl und fixierte mich erwartungsvoll. Ich tat ihr nicht den Gefallen und so musste sie selbst das Wort ergreifen: „Na? Habe ich es nicht gleich gesagt?“
„Was hast du gesagt?“
„Er hat ein Motiv“, triumphierte Mimi.
„Du denkst wirklich, dass sein Bauvorhaben Grund genug ist, dir ein Klavier auf den Kopf fallen zu lassen? Das ist verrückt.“
Mimi erhob sich mühsam. „Liebes, es war ein Flügel. Und du wärst überrascht, wofür Menschen bereit sind zu morden. Wir reden hier von zig Millionen Euro, die in diesem Projekt stecken. Und ich kann mir an fünf Fingern ausrechnen, dass dem Herrn Bürgermeister der Arsch auf Grundeis geht. Wenn er seiner Klientel während seiner Amtszeit nicht das liefert, was er ihnen vor seiner Wahl versprochen hat, dürfte er in ziemliche Schwierigkeiten geraten.“
„Woher willst du das wissen?“
Kopfschüttelnd griff sie nach ihrem Stock. „Helen, hast du jemals einen Blick in eine seriöse Zeitung geworfen? Es gibt da eine Rubrik, die man Politik nennt. Da kann man zwischen den Zeilen die tollsten Sätze lesen.“
„Zwischen den Zeilen.“ Das hörte sich für mich nach billigen Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten an.
„Ja, genau dort. Sein Wahlkampf war nicht billig, musst du wissen. Und weil eine Hand die andere wäscht, braucht Jensen noch ein verdammt großes Stück Seife. Deshalb versucht er, mit den Geldern der Steuerzahler mein Haus zu kaufen. Das angrenzende Ackerstück hat er schon zu Bauland erklären lassen.“
„Aber wenn er dich …“ Ich zögerte, es laut auszusprechen.
Mimi half mir vergnügt mit dem Wort aus: „… abmurkst.“
„Ja – äh – wenn er dich abmurkst, hat er noch immer nicht deine Villa.“
„Das ist wahr“, sagte Mimi. „Er müsste sich mit meinen Erben auseinander setzen. Da er jedoch weiß, dass meine Erben unter Umständen dringend Geld brauchen …“
Unsere Blicke trafen sich auf eine unangenehme Weise. Ich drehte mich weg.
„Geld kann manchmal Probleme lösen, wenn man es hat. In meinem Fall macht mir das Geld allerdings Probleme, weil ich es habe.“
Ich dachte an die Briefe. Fünf Umschläge für fünf Personen, von denen Mimi glaubte, dass sie Mordgelüste haben könnten. Der Bürgermeister Jensen war also ihr erster Verdächtiger; Tom betrachtete sie ebenso als möglichen Täter. Ich erinnerte mich an die anderen drei Namen: Helge Bionda, Hans Kuhn und Ferdi Johannson …
… Ferdi?
„Du denkst, dass Ferdi dich wegen des Erbes umbringen will?“
„Dein Bruder, dieser Tunichtgut, kommt mich morgen besuchen.“
Mir blieb auch nichts erspart. Auf meiner Liste mit Personen, denen ich nicht begegnen wollte, stand direkt hinter Tom, der uneinholbar auf dem ersten Platz verweilte, Ferdi.
Ferdi war nicht mein Bruder. Gott sei Dank. Wer wollte ein solches Subjekt schon als Bruder haben? Aber Mimi zog mich ganz gerne damit auf. Immerhin hatten er und ich dieselbe Großmutter. Denn Ferdi war das Enkelkind aus Mimis dritter Ehe. Ich war das Enkelkind aus der vierten Ehe. Er war somit nur mein Cousin. Das war schon mehr Verwandtschaft, als ich ertragen konnte.
„Ich möchte dich bitten, dass du morgen auch kommst.“ Es bestand für mich kein Zweifel daran, dass dieser Satz keine Bitte war, denn es lag all ihre Autorität darin und ich war schon zu lange ihre Enkelin, als dass ich mich ihr hätte widersetzen können. Resigniert ließ ich die Schultern hängen. „Ja, Oma.“
„Ich mag nicht, wenn du mich Oma nennst. Ich komme mir dann so alt vor.“
Um ein Haar hätte ich geantwortet, dass sie mit Jahrgang 1927 gerade ihren 87sten Geburtstag hinter sich hatte und somit tatsächlich alt war. Ich schluckte meine Worte runter und sagte nur: „Ja, Mimi.“
Mimi schlug unvermittelt laut klatschend die Hände zusammen. „Und jetzt steht mir der Sinn nach etwas Abwechslung. Lass uns zusammen ins Städtchen fahren. Im Antiquariat gibt es bestimmt noch den ein oder anderen Schatz für meine Bibliothek zu heben.“
Das Antiquariat. Natürlich zog es Mimi wieder dorthin. Vermutlich war sie dort mit Abstand die beste Kundin.
Norbert half Mimi bereits in ihren Mantel. „Was hältst du davon, wenn wir den Wagen stehen lassen? Wir könnten mit dem Bus fahren.“
„Der Benz bleibt stehen?“, fragte der Butler.
Mimi dachte kurz nach. Dann sagte sie: „Ich denke, Norbert, Sie könnten uns in einer halben Stunde mit dem Benz folgen, um die Einkäufe entgegenzunehmen. Ich möchte nicht, das Helen gleich die Tüten schleppen muss.“
„Warum fahren wir dann nicht gleich mit dem Wagen nach unten?“, fragte ich.
„Mir steht der Sinn nach etwas Abenteuer“, erklärte Mimi. Dabei griff sie nach einem mehr oder weniger dezenten Handtäschen und ihren weißen Handschuhen, die sie aber nicht anzog, sondern nur über dem Reißverschluss der Tasche drapierte.
Abenteuer! Ihrer Ansicht nach wollte ihr jemand das Licht ausknipsen; aber als Abenteuer betrachtete sie eine Busfahrt zum nächsten Buchladen.
Als sich die Türen des Busses schnaubend öffneten, ahnte ich, dass die Busfahrt tatsächlich zum Abenteuer geraten könnte. Der Fahrgastraum war überfüllt mit …
„Punks“, sagte Mimi abfällig und etwas zu laut.
„Nur ein paar Jugendliche“, flüsterte ich beschwichtigend.
Keine auffälligen Frisuren, auch die modische Erscheinung entsprach nicht der Szene. Trotzdem waren diese Halbstarken nicht das, was man als Muttersöhnchen bezeichnen konnte. Ein halbes Dutzend Typen in schmuddeligen Klamotten, eingedünstet in einer Mischung aus billigem Deo und Alkohol, fläzte sich auf den Sitzplätzen rund um die Tür.
Schon nahmen sie uns in den Fokus. Und bei deren Anblick wusste ich sofort, dass die Jungs auf Krawall gebürstet waren. Mimi kam offenbar zu dem gleichen Schluss und entschied, dass Angriff wohl die beste Verteidigung sei. „Junger Mann“, sprach sie denjenigen an, den ich instinktiv für den Anführer der Rotte hielt. Mit einfältig wirkendem Blick musterte er Mimi und grunzte dann etwas, das man als „Ja?“ deuten konnte.
„Würdest du mir bitte deinen Platz räumen?“ Sie deutete mit ihrem Stock auf den in Bussen üblichen Aufkleber, der darauf aufmerksam machte, dass Gehbehinderten und älteren Herrschaften zu helfen sei. Der Aufkleber war direkt über dem jungen Mann an der Kabinendecke angebracht. Als Antwort erhielt sie ein weiteres Grunzen.
Der Stock verharrte noch einen kurzen Moment. Dann …
„Es ist ein durch und durch unerzogenes Benehmen, das Alter nicht zu ehren“, schimpfte Mimi, als wir den Bus verließen. Ein Wimmern folgte uns hinaus auf die Straße.
„Ist es nicht auch unerzogen, so etwas mit einer Gehhilfe zu machen?“
„Er hätte sich ja nicht so breitbeinig hinsetzen müssen.“
„Mimi!“
„Wer die Pfade der Moral und des Anstandes verlässt“, erklärte Mimi hocherhobenen Hauptes, „muss damit leben, dass ich ihm folge!“
Diesen Satz sollte ich mir merken. Und später überkam mich noch oft die Frage, wie oft Mimi die Pfade der Moral bereits verlassen hatte.
Als wir uns dem wundervollen Jugendstilbau näherten, öffnete sich bereits die Tür. Frau Liber, die Inhaberin des Antiquariats, kam uns freundlich lächelnd entgegen. „Mimi! Wie schön, dass Sie mich wieder besuchen kommen. Haben Sie noch ein freies Plätzchen in Ihren Regalen gefunden?“
„Für die Schätze, die Sie aus Ihrem Keller holen, würde ich sogar noch einen Anbau an mein Häuschen setzen“, sagte Mimi. Sie drückte mir ihren Stock und das Täschchen in die Hand, um sich dann von Frau Liber in den Laden führen zu lassen. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, durchlief sie eine erstaunliche Wandlung. Mir kam es immer vor, als würde sie in diesem Laden ihr Alter vollends vergessen. Sie wirkte überhaupt nicht mehr alt und gebrechlich. Selbst ihre Haare schienen plötzlich wieder leicht blond zu werden. Aufrecht, fast tänzelnd, eilte sie zwischen den Auslagen herum, stöberte hier und dort, las Klappentexte und begutachtete Titelbilder.
Ich stellte mich etwas verloren in eine Ecke und schaute Mimi mit mäßigem Interesse zu. Unser Aufenthalt konnte dauern, denn es gab zwar sehr viele Bücher hier, doch nur wenig, was Mimi noch nicht kannte. Sie musste also genauer hinschauen, um begehrenswerte Titel zu finden.
„Kaffee?“ Frau Liber stand neben mir. Etwas Mitleidiges lag in ihren Augen.
„Gerne“, erwiderte ich dankbar. Schon hatte ich eine Tasse in der Hand. Ich kostete: Milch und Zucker. So wie ich ihn am liebsten mochte.
„Sie teilen Mimis Begeisterung für Kriminalliteratur nicht“, stellte Frau Liber fest.
„Woher wissen Sie …?“
„… der Laden ist voll davon. Sie wären die erste Büchersüchtige, die sich bei diesem Anblick beherrschen könnte. Ich kenne Leute, die es schaffen, hier den ganzen Tag zu verbringen. Wenn ich abends abschließen möchte, muss ich sie fast mit dem Besen raustreiben.“
„Ihre Kunden lesen hier?“
„Es ist ein Geschäft voll mit Büchern.“
„Aber sollten die Leute die Bücher nicht kaufen?“
Frau Liber dachte kurz darüber nach. Dann legte sie den Kopf zurück und lachte. Sie lachte über einen Witz, den nur sie zu verstehen schien. Dennoch bekam ich eine Antwort: „Den Büchern ist es nicht wichtig, ob sie gekauft werden. Ihnen ist es wichtig, dass sie gelesen werden.“
Ich beschloss, dass diese Frau mindestens so merkwürdig war wie meine Oma.
Mimi gesellte sich zu uns. „Was ich hier noch nicht gefunden habe, ist etwas von Paul Langenscheidt. Fehlt mir noch in meiner Sammlung.“
Frau Liber dachte kurz nach, lauschte offenbar Stimmen, die nur sie vernehmen konnte. „Langenscheidt, Paul? Von ihm stammt Blondes Gift. Da habe ich bestimmt was im Keller. Haben Sie einen Moment Zeit? Dann werfe ich mal meine Internetmaschine an und schaue, welche Auflage die richtige für Sie sein könnte.“ Sie verschwand im benachbarten Raum.
„Internetmaschine? Hat sie gerade Internetmaschine gesagt?“ Ungläubig ließ ich meinen Zeigefinger ein paar kreisende Bewegungen an der Stirn vollführen.
Mimi grinste nur. „Lass die mal machen. Ich habe bislang noch nicht erlebt, dass es ihr nicht gelungen ist, ein Buch zu beschaffen.“
„Ja, schon. Aber Internetmaschine? Warum sagt sie nicht Computer wie jeder andere vernünftige Mensch auch?“
Ein mechanisches Kreischen erfüllte plötzlich den Raum. Irgendwo ratterten Zahnräder, Dampf zischte und das Geräusch einer stampfenden Pumpe war kurz zu hören.
„Hört sich mehr wie eine Maschine an“, erklärte Mimi fröhlich. „Findest du nicht auch?“
„Dieser Laden ist strange.“
„Ich mag es nicht, wenn du Anglizismen verwendest“, wies mich Mimi zurecht.
„Das sagt die Frau, die einen Polizisten Inspector nennt“, konterte ich.
Mit dem Recht der Älteren sagte sie: „Das ist etwas vollkommen anderes.“
Eine Viertelstunde später verließen wir den Laden wieder. In der Hand hielt ich die gebundene Erstausgabe von Herrn Langenscheidt für Mimi und einen in Folie eingeschweißten Paul Temple für mich. Nein, ich hatte den Heftroman nicht ausgesucht. Diese Frau Liber hatte ihn mir einfach in die Hand gedrückt. „Dürfte Ihnen gefallen.“ Geld wollte sie keines dafür. Das bewahrte mich vor einer kleinen Peinlichkeit, denn mein Portemonnaie wäre leer gewesen. Vielleicht war der Kaufpreis für Mimis Buch so hoch, dass dieserart Beigaben üblich waren.
„Das hat sich doch gelohnt.“ Mimi ging zum Wagen, der wie verabredet am Bordstein auf uns wartete. Norbert hatte die Gelegenheit genutzt, den glänzenden, schwarzen Lack mit einem Tuch zu polieren. Die silberne 220 auf dem Kofferraum leuchtete mit der Sonne um die Wette. Das Vehikel aus dem Jahre 1960 wäre rein optisch auch jetzt noch als fabrikneu durchgegangen. Da ihr Bedarf an Abenteuern für heute anscheinend gedeckt war, sparten wir uns weitere Eskapaden und nahmen auf der ledernen Rückbank hinter Norbert Platz.
Der Abend kam. Und ich ging. Die Luft war mild und die Dämmerung kämpfte noch tapfer gegen die Nacht an, als ich mich mit dem Haustürschlüssel in der Hand meinem Zuhause näherte.
Es war ruhig in der sonst so viel befahrenen Straße. Keine Autos, keine Fußgänger. Trotzdem stellten sich jäh meine Nackenhaare auf. Auf unangenehme Weise spürte ich plötzlich, dass ich nicht allein war. Jemand stand hinter mir. Nah. Sehr nah. Die altbekannte Angst fraß sich in meine Knochen. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen und mühte mich mit zitternden Fingern, den Schlüssel in das Schloss zu rammen.
„Hallo Schatz“, flüsterte eine Stimme in mein Ohr.
Meine Knochen wurden weich, mir wurde schlecht und schwindelig.
„Hallo Tom“, keuchte ich, schloss kurz die Augen, darum bemüht, nicht vollends die Fassung zu verlieren. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und drehte mich um. Er stand so nah bei mir, dass ich unweigerlich einen Schritt zurückweichen musste. Schon stand ich mit dem Rücken an der Wand, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne Verteidigung.
Und Tom stand vor mir, blickte mit seinen 1,90 Meter Körpergröße auf mich herab. „Ich hab den ganzen Tag versucht, bei dir anzurufen.“ Er streckte seinen rechten Arm neben mir aus, stützte sich so an der Fassade ab. Ich nahm den süßlichen, etwas ranzigen Geruch wahr, der mir aus seiner Achselhöhle entgegenströmte. Ich versuchte, in die andere Richtung zu entkommen, doch auch dort war schon ein Arm. Das Licht der Straßenlaterne malte Schatten auf Adern, Sehnen und Muskeln. Es war lange her, dass mich dieser Anblick in Verzückung versetzt hatte. Ich hatte in harten Lektionen gelernt, dass dieser gestählte Körper nicht so erotisch und zärtlich war, wie ich es mir gewünscht hätte. Tom sah zwar auf den ersten Blick aus wie der sympathische Hollywoodstar; ein Superheld. Aber er rettete keine Welten. Er vernichtete sie.
Mit dem letzten Bisschen Spucke im Mund schaffte es meine Zunge, einen Satz zustande zu bringen: „Was willst du von mir?“
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich Mimi besuchen werde. Ich hoffe, dass du dann auch da sein wirst. Immerhin haben wir ja noch einige Dinge zu klären.“
Seine Rechte wanderte in meinen Nacken. So wie er es früher getan hatte, berührte er mich dort sanft und zärtlich. „Lass’ das“, fauchte ich und schon wandelte sich seine Liebkosung in einen brutalen Haltegriff. Mir schossen die Tränen in die Augen.
„Fräulein Richter?“ Eine Stimme drang von irgendwoher zu uns herüber. „Sie haben Ihre Jacke bei uns vergessen.“
Toms Hand löste sich, verschwand mit ihm in die einsetzende Dunkelheit. Dann kamen Schritte näher. Jemand fing mich auf, als ich die Wand herunterrutschte, stützte mich. Mühsam blickte ich auf. Norbert!
„Sie schickt der Himmel.“
„Ist Ihnen nicht gut?“ Konnte es sein, dass der Butler Tom nicht gesehen hatte?
„Doch, doch … alles in Ordnung“, heuchelte ich.
„Soll ich Ihnen noch nach oben helfen?“
„Geht schon … Ich glaube, ich möchte jetzt ein wenig allein sein.“
Obwohl ich schon oft zu der Erkenntnis gekommen war, dass das Alleinsein nicht gut für mich war, floh ich förmlich vor Norberts Fürsorge. Irgendwie landete ich in meiner Schlafstatt, versteckte mich unter meiner Decke und dem Kissen und ergab mich meinen Weinkrämpfen. Und als ich mich endlich ausgeheult hatte, begann eine endlose Reise durch die Nacht, in der ich mich schlaflos umherwälzte. Manchmal hielt ich inne, nur um den Geräuschen meiner Wohnung zu lauschen. Das irrationale Gefühl, dass mich Tom belauschte, beobachtete und jeden Moment heimsuchen würde, ließ sich nicht abschütteln.
Gegen vier Uhr in der Frühe gab ich auf. Ich stemmte mich hoch, schlurfte zum Kühlschrank und suchte seinen Inhalt nach etwas Brauchbarem ab. Neben einem angebissenen Sandwich, einem Stück Pizza, das sich zu einem grünlich blühenden Wrap zusammenrollte, und einem Paket etwas zu weißem Käse, lag eine angefangene Flasche Rotwein. Ein halbes Glas konnte ich mir damit noch füllen. Nun, es war eigentlich kein Glas. Gespült hatte ich schon seit drei Tagen nicht mehr. Aber dem guten Tropfen war es vermutlich egal, dass er aus dem Zahnputzbecher getrunken wurde.
Während sich die süßliche Wärme des Alkohols beruhigend durch die Kehle den Weg in meine inneren Abgründe bahnte, führten mich meine Schritte zum Fenster. Eingelassen in der Dachschräge musste ich es öffnen, damit ich auf die Straße hinunterblicken konnte. Kühle Luft strömte mir entgegen.
Tief unter mir, überstrahlt vom Licht einer Straßenlaterne, im Schatten einer Toreinfahrt, nahm ich eine Bewegung wahr. Kaum sichtbar. Ich hatte es nicht richtig gesehen, mehr gespürt. Doch ich war mir sicher, dass dies keine Einbildung war. Dort versteckte sich ein Mann! Und er sah mich an.