Читать книгу Bibliophilia. Am Ende des Buchlands - Markus Walther - Страница 7
ОглавлениеZwischen zwei Geschichten
Das Blut pochte in Beatrice’ Adern. Das Luftholen fiel ihr schwer. Waren ihr die Regale mit den Büchern, den vielen toten Büchern, eben schon so nah gewesen? „Das ist nicht von mir. Ich habe das nicht geschrieben“, keuchte sie, während sie gegen einen plötzlichen Anfall der Klaustrophobie ankämpfte. Die Härchen auf den Armen richteten sich auf, ein kalter Schauer kroch ihr den Rücken hinab. Blut rauschte und pulsierte in den Ohren. Es war, als zöge sich eine Schlinge zu.
Sie zwang sich, wieder ruhiger zu atmen. Dabei ließ sie den Blick schweifen. Alles war immer noch wie zuvor. Nichts hatte sich bewegt. Sogar die Staubkörnchen hingen weiterhin still in der Luft. Ein eingefrorenes Standbild. Ein schwarzweißes Foto, in dem sie, als ungehorsames, buntes Motiv, hin und her zappelte.
„Keine Ahnung, wer diese Zeilen geschrieben hat“, sagte sie trotzig zu sich selbst, bemüht der eigenen Stimme mehr Festigkeit zu verleihen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief rasch zur Tür. Die in ihre Bestandteile zerfallene Trilogie blieb auf dem Boden zurück.
Auf der Straße rannte sie fast in einen Passanten hinein. Mit einem beherzten Sprung auf die Fahrbahn wich er ihr aus, was zur Folge hatte, dass ihn beinahe ein alter roter Chrysler erfasste. Der Fahrer des Wagens machte keine Anstalten das schwere Gefährt abzubremsen. Er hielt voll drauf zu und drückte gleichzeitig ausdauernd die Hupe. Im letzten Moment rettete sich der Fußgänger rückwärts auf den Bürgersteig. Dabei strauchelte er und landete auf Händen und Knien.
„Wow“, ächzte er, „das war knapp.“
Beatrice half ihm beim Aufstehen. Eilig klopfte sie ihm den Schmutz von der Hose. „Das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht …“
„Plymouth Fury“, sagte der Mann, während er den kleiner werdenden Rücklichtern nachschaute, „die reinste Höllenmaschine.“
„Was?“
„Der Wagen … Ist was Besonderes. So einen Schlitten bekommt man in unseren Breitengraden nicht oft zu sehen. Der da hatte eine Sonderlackierung.“
„Sie hüpfen dem Tod von der Schippe“, stellte Beatrice fest, „und bestaunen das Auto, das Sie platt fahren wollte?“
„Oh“, machte der Mann und lächelte Beatrice unvermittelt an. Er war eine stattliche Erscheinung. Hochgewachsen, breitschultrig und muskulös. Ohne Anzug, Hemd und Krawatte hätte er vermutlich einer griechischen Statue sehr geähnelt. Doch in der Hand hielt er keinen Diskus, sondern nur ein Netz mit Äpfeln. Das Gesicht des Mannes wirkte beinahe jugendlich, jedoch strahlten die Haare grau, sogar fast weiß, im Sonnenlicht. Der gestutzte Dreitagebart kaschierte elegant ein paar kleinere Fältchen. Beatrice war es unmöglich, sein Alter zu schätzen. „Vielleicht sollte ich mich erst einmal mit Ihnen bekannt machen. Dann verstehen Sie unter Umständen, warum ich mich für solch ein Gefährt begeistern kann. Nemo. Mein Name ist Nemo.“ Mit einem festen Händedruck ergänzte er seine Vorstellung.
Beatrice vergaß, ihren eigenen Namen zu nennen. Ihre Gedanken kreisten schon wieder um Literatur: „Wie der Nemo von Verne?“
„Von Verne? Ich bin nicht adelig.“ Seine Tonlage verriet nicht, ob er das scherzhaft meinte. „Ich bin meines Zeichens Uhrmacher. Genau genommen sind zur Stunde Automationen aller Art mein Fachgebiet.“
„Beatrice Liber“, sagte Bea endlich und deutete dabei hinter sich. „Mir gehört dieser Buchladen.“
Mitleidig schaute Nemo an ihr vorbei. Die Ladentür war immer noch offen und zeigte das Chaos im Halbdunkel dahinter. „Sieht etwas desolat aus“, interpretierte er den Anblick. „Die Geschichte dieses Hauses wartet wohl auf bessere Zeiten?“
„Geschichte?“ Beatrice kniff misstrauisch die Augen zusammen. An zufällige Bemerkungen dieser Art glaubte sie inzwischen nicht mehr.
„Ja, Geschichte. Sie kennen das doch: Ein Leser hat eine Seite noch nicht zu Ende gelesen. Das Telefon klingelt und der Leser legt sein Buch auf den Tisch. Er geht zur Anrichte, nimmt den Hörer ab und palavert mit Tante Steffi oder so. In dem Buch verharrt derweil alles. Die bis gerade so lebhafte Geschichte geht nicht weiter. Das Liebespärchen spitzt vielleicht die Lippen, ohne dass es zum Kuss kommt. Oder der Ritter hebt sein Schwert, um den Drachen zu erschlagen, aber es passiert nicht. Selbst der Sturm mitsamt den wilden Böen und Regenströmen ist gefangen. Der Sand in der Uhr rieselt nicht. Der Staub in der Luft vergisst zu tanzen. Dann verabschiedet sich der Leser brav und artig von der Tante am Apparat und kehrt zurück zu seiner Lektüre und endlich geht es weiter. Verstehen Sie, was ich meine? Ach, was frage ich? Natürlich verstehen Sie! Sie sind ja Buchhändlerin.“
Beatrice legte den Kopf schief und dachte nach. Konnte es sein, dass sie gerade von der Vergangenheit eingeholt wurde? Kaum hatte sie ihr Antiquariat besucht, „Buchland“ in den Händen gehalten und schon begann alles von vorne? Sie stemmte die Hände in die Hüfte und fragte gereizt: „Sind Sie eine Personifizierung?“
Nemo zog die Stirn kraus. Seine leuchtend blauen Augen spiegelten absolutes Unverständnis.
„Personifizierung? Was soll das sein?“
„Vater Staat, Mutter Natur … Gevatter Tod. So was. Die Vermenschlichung eines abstrakten Begriffs“, erklärte Beatrice ungeduldig.
Der Mann legte eine zusätzliche Falte über die Augenbrauen. „Das bin ich noch nie gefragt worden.“
Allmählich dämmerte es Beatrice, wie dumm sich ihre Frage anhören mochte. Nicht alles, was vor dem Antiquariat geschah, musste zwangsläufig mit ihren Phantasien zu tun haben, gestand sie sich ein. „Entschuldigung. Klingt wohl etwas blöde.“
„Ach i wo“, entließ Nemo sie gut gelaunt aus dem peinlichen Dialog, „nicht schlimm. Ich werde Sie nicht fragen, wie Sie auf die Frage gekommen sind. Ich gebe Ihnen sogar eine Antwort: Ich bin genauso eine reale Person, wie Sie es sind.“ Er zwinkerte verschmitzt. „Versprochen.“
„Na …“ Beatrice schob sich verlegen eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. Was sollte sie sagen? „Danke.“
Nemo hob die Hand, an der das Netz mit Äpfeln baumelte, und deutete hinüber zum Laden.
„Wann machen Sie denn wieder auf? Sieht so aus, als wäre erst mal eine Renovierung fällig.“
„Mit einer Renovierung ist es da nicht getan. Das ist ein Brandschaden. Im Keller hat es vor einiger Zeit ein verdammt großes Feuer gegeben und der Rauch und die aufsteigende Hitze haben meinem Geschäft den Garaus gemacht.“
„Eine Schande. Ich denke, dass in unserer Straße, auf der so viel Kunst und Kunsthandwerk angesiedelt sind, ein Literaturgeschäft einfach dazugehört. Ohne Bücher verliert die Gegend ihren Zauber, oder?“
„Mag sein“, sagte Beatrice. „Aber das Antiquariat wird in absehbarer Zeit nicht neu eröffnet.“ Plötzlich stutzte sie. „Unsere Straße? Sagten Sie unsere Straße?“
„Oh, habe ich das nicht erwähnt? Mein Laden eröffnet nächste Woche. Da unten.“ Nemo deutete vage in eine Richtung. „Da, wo früher dieser seltsame Kuriositätenhändler drin war.“
„Sie ziehen ins Kuriosum?“ Beatrice war ehrlich überrascht. Außerdem kroch der Argwohn wieder bitter in ihrem Hals hoch. Für ihren Geschmack kamen nun doch zu viele Zufälle zusammen.
„Der Laden steht ja schon lange genug leer. Ich fand die Immobilie sehr interessant. Mit dem Keller und den zahlreichen Nebenräumen gibt es da für meine Werkstatt ausreichend Platz.“
„Außerdem sind alle Räume Fünfecke“, merkte Beatrice an. Die Erinnerungen an das Kuriosum und dessen Eigentümer Quirinus waren nicht die angenehmsten.
Nemo nickte gelassen. „Jetzt wo Sie es sagen.“
„Perfekt für Teufelssymbole“, behauptete sie schnippisch.
„Was?“
„Ich meine Pentagramme.“
„Wie kommen Sie denn auf so etwas?“
Beatrice schob den Unterkiefer herausfordernd vor. Um ihre höfliche Freundlichkeit war es längst geschehen. Einst hatte sie zu viel gegrübelt, zu verwirrende Erinnerungen sortiert und gedeutet. Sie hatte zwar weder einen Kreidekreis noch einen entsprechenden Stern in Quirinus’ Räumen gesehen, aber der Gedanke, dass eben genau das der Zweck der ungewöhnlichen Architektur gewesen war, hatte sich mit der Zeit als fixe Idee in ihr eingenistet. „Wussten Sie, dass Ihr Vormieter für den Brand in meinem Antiquariat verantwortlich ist?“
„Äh.“ Nemo wich einen Schritt zurück. „Wir sind uns nie begegnet. Das Kuriosum ist doch vor ungefähr zwei Jahren ausgezogen … Und“, Nemo versuchte sich in einer Rechtfertigung, „Pentagramme sind ja nicht zwangsläufig Teufelssymbole. War der Architekt des Gebäudes vielleicht Freimaurer? Oder war er besonders in Symbolik bewandert? Erde, Wasser, Feuer, Luft und der menschliche Geist. Alchemie und so.“
„Sie kennen sich gut aus“, warf Beatrice ihm vor.
„Nun“, sagte Nemo und hob dabei in einer abwehrenden Geste die Hände, „ich weiß gerade nicht, wohin dieses Gespräch führen soll. Ich denke, dass ich mich lieber verabschieden sollte.“ Beinahe fluchtartig drehte er sich von Beatrice weg und machte sich in Richtung Kuriosum, das nun keines mehr war, davon. Nachdenklich schaute Beatrice ihm nach. Als er die Tür unter der rot-weiß gestreiften Markise erreichte, schloss er hastig auf, um alsdann im Dunkel dahinter zu verschwinden.
Der saure Geruch von kaltem Popcorn schwebte in der Luft. Sophia saß in einer Plastikwanne umgeben von dem Puffmais. Ihre nackten Füßchen spielten selbstversunken darin, während Hände, Mündchen und der ganze Rest des Mädchens sich mit einem etwas zu großen Eisbecher beschäftigten. Schokoladenverschmiert und vereinzelt mit Popcorn paniert, wirkte das Kind in erster Linie glücklich. An zweite Stelle trat das Attribut „klebrig“. Chaya hing daneben kopfüber in der Popcornmaschine und brachte das Gerät mit Lappen und Putzmitteln auf Hochglanz. Durch die Scheibe, die den vorderen Teil ausmachte, drang ihre Stimme nur gedämpft an Beatrice heran. Trotzdem konnte sie den vorwurfsvollen Unterton unmöglich überhören. „Du hast den Mann wirklich gefragt, ob er eine Personifizierung ist?“ Chaya lachte. Dass Sophia das zum Anlass nahm, ebenfalls ein amüsiertes Glucksen in die Runde zu werfen, machte die Situation für Beatrice auch nicht besser.
„Ja“, sagte sie kleinlaut.
Arno stand etwas abseits und rollte alte Filmplakate ein. Gerade verpackte er die Roboterdame von Metropolis in einer Schachtel. Vorhin waren Wall-E und ein Terminator von seiner Ablage verschwunden. Die Drei konnten nun wohl binäre Unterhaltungen in ihrem Behältnis führen. „Personifizierung? Darauf muss man erst mal kommen, nicht wahr?“ Arno lächelte auf eine unbestimmte Weise, ohne zu verraten, wie viel er eigentlich wusste.
„Ich weiß nicht, warum Sie das so abwegig finden.“ Beatrice verschränkte die Arme vor der Brust.
„Schreiben Sie denn wieder?“ Arno legte die Schachtel zur Seite und schaute Beatrice erwartungsvoll an.
„Schreiben?“ Wie kam er denn jetzt da drauf? Unwillkürlich fühlte sie sich an die Trilogie, die sie eben im Antiquariat gefunden hatte, erinnert.
„Ja. Ich meine, die Geschehnisse in Ihrem Leben und Ihre Bücher … Sie können eine gewisse Symbiose zwischen beidem doch kaum verleugnen. Wenn Sie mir sagen würden, dass Sie wieder schreiben, wäre es eine Erklärung. Ich habe übrigens Ihre Werke mit großem Interesse gelesen, nicht wahr? Ein dritter Band würde sich quasi anbieten. Eine typische Erzählstruktur wäre das. Die klassische Heldenreise. Wie bei den Sternenkriegen: Protagonist wird von Mentor unterwiesen, während sich ihm eine neue Welt samt Prophezeiung offenbart. Der Mentor stirbt, dann schlägt das Imperium zurück und alles liegt in Trümmern. Jetzt müssen Sie nur noch Ihren Imperator besiegen. … nicht wahr?“
„Ich habe mit Sophia alle Hände voll zu tun. Und sobald ich wieder arbeiten gehen kann, werde ich mir eine Stelle suchen müssen.“ Beatrice machte eine kleine Pause, die Platz für ein Seufzen ließ. „Seit das Antiquariat zu ist, sind Ingo und ich etwas in finanzielle Schieflage geraten.“
„Oh, ich dachte“, sagte Arno, „dass Sie mit Ihren Veröffentlichungen ganz gut verdienen.“
Beatrice schnaubte. „Inzwischen gibt es tausendfach Kopien im Netz. Kostenlose E-Books.“
„Raubkopien“, warf Chaya ein, die schon von dem Problem wusste.
Beatrice nickte. „Deshalb schreibe ich nicht mehr. Man kann das bald nur noch als Hobby betreiben. Und für so ein Hobby habe ich keine Zeit mehr.“ Das fand Sophia auch und warf den Eisbecher ins raschelnde Popcorn. Sie wollte von ihrer Mama jetzt ein paar Streicheleinheiten einfordern. „Gelegentlich frage ich mich, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, einen Verlag zu suchen. Wenn man von manchen Lesern dann doch nur bestohlen wird … In meiner Schublade waren meine Geschichten vielleicht besser aufgehoben. Den Weg der Veröffentlichung würde ich gerne ungeschehen machen.“
„Worte kann man nicht festhalten“, erklärte Arno. „Sind sie einmal in die Welt entlassen, kann nichts sie zurücknehmen. Wie will man auch etwas behalten, was einem nicht gehört?“
„Die Worte gehörten mir nicht. Aber es sind meine Zeit, mein Herzblut und meine Ideen, die gestohlen wurden.“
„Ga!“, behauptete Sophia. Sie reckte ihrer Mama eine Hand entgegen. Das vertrieb die düsteren Gedanken aus Beas Kopf. Mit aller Routine fischte sie ein Feuchttuch aus der Wickeltasche und begann damit, ihren Nachwuchs von der Patina aus Zucker, Schokolade und Mais zu befreien.
„Süßer kleiner Dreckspatz.“
„Deckspa!“
„Drrrreckspatz.“
„Deckspa!“
„Ja, das auch.“
„Ga!“
„Na, den Pulitzer-Preis bekommen Sie für solche Dialoge aber nicht, Beatrice.“ Arno griff nach dem nächsten Plakat von seinem Stapel. R2D2 wurde nun aufgerollt.
Bea lachte, küsste die kleinen ausgestreckten Fingerchen. „Wie gut, dass wir nicht in einer meiner Geschichten sind.“
„Sind Sie sich da sicher?“
„Ich bin mir sicher, dass es keine gute Idee war, mein Kind in das Popcorn vom Vortag zu setzen“, sagte Beatrice vorwurfsvoll in Chayas Richtung und rieb mit leidlichem Erfolg über den Stoff des Jäckchens.
Das Wetter trübte sich allmählich ein. Die Luft wurde langsam weiß, als Nebel mit nassen Fingern in die Stadt kroch. Sophia lag im Buggy, schlummerte friedlich. Beatrice saß hinter ihr auf der Bank im Wartehäuschen und schaute unruhig die Straße hinunter. Der Bus hatte Verspätung. Aus irgendeinem Grund fand sie es unheimlich, dass sich die Geräusche und Farben in den Dunstschwaden ausblendeten.
Sie ließ den Blick sinken und die Gedanken treiben. Warum war das heute so ein seltsamer Tag? Zuerst der Traum, dann Chayas Drängen hierher zu kommen, das Antiquariat mit dem Buch. Um es mit Herrn Planas Worten zu sagen: „Das war zu viel Story auf zu wenig Seiten.“ Außerdem brachte es nichts, wenn man einen Sinn dahinter zu ergründen versuchte.
Plötzlich vernahm sie Schritte. Von rechts kam jemand. Aber der Nebel war dort inzwischen so dicht, dass sie den Ankömmling erst erkennen konnte, als er auch unter das Vordach der Haltestelle trat. „Na, der hat mir gerade noch gefehlt“, dachte Beatrice, als sie niemand anderen als Nemo erkannte. Er setzte sich auf den freien Platz neben ihr. Peinliches Schweigen folgte. Dass sie ganz allein hier waren – weder Autos fuhren vorbei, noch schlenderten Leute über den Bürgersteig – betonte die Sprachlosigkeit.
Beatrice rutschte unruhig hin und her. Sie war beinahe dankbar, als Nemo schließlich doch redete. „Habe ich den Bus verpasst?“
„Nein. Er ist überfällig.“
„Hm-m.“
Okay, das war jetzt nicht der erfolgreichste Auftakt zu einer Konversation. Beatrice dachte nach, was sie Sinnvolles von sich geben konnte. „Entschuldigung.“
„Wofür?“
„Für meinen Ausbruch von vorhin“, sagte sie verlegen. „Manchmal hänge ich wohl noch zu sehr in phantastischen Geschichten fest. Meinen Laden in diesem Zustand zu sehen, hat mich möglicherweise zu sehr aufgewühlt.“
Nemo nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Nichts für ungut. Es ist ja nix passiert.“
„Wissen Sie …“, begann Beatrice, „die Umstände, die zu dem Brand geführt haben …“ Sie unterbrach sich.
„Ja?“
„… waren ungewöhnlich. Ja, ungewöhnlich ist das richtige Wort.“
„Inwiefern?“ Nemo tat interessiert.
„Nuuun“, sagte Beatrice gedehnt. „Stellen Sie es sich wie ein Märchen vor.“
„Das muss ein böses Märchen gewesen sein“, sagte der Uhrmacher.
„Stimmt. Es handelte von einem magischen Ort, einer Frau und dem Bösen. Am Ende kam kein richtiges Happy End.“
„Kein Happy End?“
„Nein. Das Böse kam davon und der Ort stand zum großen Showdown in Flammen.“
Mit der Hand rieb Nemo sich das Kinn. Er brummte dabei leise, als wäre er sich unschlüssig, ob er sagen sollte, was ihm auf der Zunge lag. Schließlich rang er sich dazu durch. „Vielleicht ist Ihr Märchen nur noch nicht fertig erzählt.“
Diese unscheinbare Feststellung löste etwas in Bea aus. Ein Schalter legte sich in ihr um. Das, was sie nun tat, war ganz und gar nicht ihr Wille. Ein innerer Zwang drehte ihr den Kopf und sie sah zum Antiquariat hinüber. Eingerahmt von einer undurchsichtigen Nebelwand konnte sie das Schaufenster sehen. Für einen kurzen Augenblick erahnte sie ein Licht dahinter, das die Silhouette eines Mannes auf das Glas projizierte. Der Mann stand leicht gebeugt da, lehnte sich auf einen Stock, trug einen Hut und paffte an einer Pfeife.
Dann schob ein Lufthauch den Nebel davor. Schon strafte ihr Verstand die Augen Lügen. Das konnten sie unmöglich gesehen haben.
Zurück zum Hier und Jetzt, ermahnte sie sich. „Ich habe zwei Bücher geschrieben“, erklärte sie Nemo. „Sie erzählen, wie es zu dem Feuer gekommen ist.“
„Autobiographische Werke?“, fragte Nemo erstaunt. „Ich hätte nie gedacht, dass Sie der Typ für sowas sind.“
„Belletristik“, korrigierte Beatrice, „Nur Belletristik. Stark verfremdet und hoffentlich interessanter als das reale Leben. Aber was ich eigentlich sagen will, ist, dass diese Geschichte ganz bestimmt geendet hat. Da war eine Frau, die den Büchern geholfen hat. Und die Bücher haben anschließend der Frau geholfen. Oder so ähnlich. Zwei Romane. Fertig.“
„Hört sich nicht spannend an“, kommentierte Nemo ihre lakonische Zusammenfassung. Dann deutete er mit dem Daumen nochmals in die ungefähre Richtung ihres Ladens. „Ihre Bücher scheinen dabei keinen guten Deal gemacht zu haben.“
Bevor Beatrice antworten konnte, öffnete sich zischend die Tür des Busses vor ihnen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass das Vehikel vorgefahren war. Nemo half ihr Sophia samt Buggy die zwei Stufen ins Innere des Fahrzeugs hochzutragen. Doch anschließend stieg er direkt wieder aus. „Das ist nicht mein Bus“, erklärte er. Die Falttür schloss sich. „Hier fährt nur eine Linie“, rief Beatrice ihm zu. Nemo zuckte mit den Schultern und setzte sich zurück auf die Bank. Die Szenerie wurde zunehmend surreal, befand Beatrice, als der Bus die Fahrt durch das wabernde Weiß begann.
Wie Schemen huschten blass die Häuser an den Fenstern des Busses vorbei. Geparkte Autos, Bäume, Straßenlaternen. Alles stand still, während allein Beatrice mit Sophia dahinfuhr. Jedoch waren sie nicht allein. Zwar hörte man nur das sonore Brummen des Motors, aber trotzdem war jeder Sitzplatz um sie herum besetzt. Die Fahrgäste schwiegen allesamt. Im dämmrigen Zwielicht verschwammen sie beinahe mit der Textur der Kulisse, doch ihre Gesichter leuchteten blau, angestrahlt von den Displays ihrer Smartphones, Reader und Tablets. Ihre Blicke waren leer, derweil sie mit Daumen oder Zeigefinger über die Benutzeroberflächen streichelten, wischten und tippten.
Keiner sprach, stellte Beatrice fest. Noch viel bedeutsamer erschien ihr die Tatsache, dass niemand ein Buch in den Händen hielt. Warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt so sehr ins Auge?
Nun …
Das Schicksal hatte sie heute förmlich mit der Nase darauf gestoßen. So heftig, wie ihr Großvater einst seinen Hund mit der Nase in sein Malheurchen gedrückt hatte. Der Hund hatte ziemlich schnell begriffen, dass etwas ganz Bestimmtes von ihm erwartet wurde.
„Vielleicht …“, flüsterte sie. Ja. Vielleicht hatte dieser Nemo recht damit, dass die Bücher die Verlierer in ihrer Geschichte waren. Vielleicht stimmte Arnos Einschätzung, dass ihre Bücher eine Trilogie werden mussten.
„Vielleicht …“, sagte Beatrice noch einmal. Vermutlich zu laut, denn die Teenagerin vor ihr schreckte aus ihrer digitalen Trance auf. Verwirrt schaute sie die ehemalige Buchhändlerin an, schüttelte benommen den Kopf und versank dann wieder im Anblick der virtuellen Welten.
Ja. Vielleicht.
Eine Inspiration formte sich.
Eine Idee nahm Gestalt an.
Ein Plan reifte heran.
Das Wohnzimmer war dunkel. Nur das blasse Licht des Monitors erhellte einen kleinen Bereich vor dem Esstisch. Beatrice starrte auf den Textcursor, der monoton auf der Mattscheibe blinkte. An. Aus. An. Aus. Jene Arbeit verrichtete er ein wenig zu schnell. Der Sekundenzeiger der Wanduhr kam in diesem Tempo kaum mit. Die Zeit verstrich ungenutzt.
Die Maske der Software füllte sich schließlich doch mit Zeichen. Mit zitternden Fingern drückte Bea zunächst ein „P“, dann ein „r“, ein „o“ und die drei weiteren Buchstaben, die dazu gehörten; denn die Story war noch nicht zu Ende.