Читать книгу Bibliophilia. Am Ende des Buchlands - Markus Walther - Страница 9
ОглавлениеDas Universum im Innern der Welt
Es tat gut, die Ruine des Antiquariats zu verlassen. Die kühle Luft sog den Groll aus ihren Lungen heraus, was es ihr leichter machte, Nemo zu seinem Laden zu folgen, um Werkzeug zu holen. Dass es mit einem Schraubenschlüssel und einem Hammer nicht getan sei, glaubte sie ihm aufs Wort. Als sie unter der gestreiften Markise ankam, fürchtete sie für einen aberwitzigen Moment, dass sie gleich in einem riesigen Uhrwerk stehen würde. Doch im muffigen Halbdunkel empfing sie nur die übliche Ausstattung eines Uhrengeschäfts. Einige Vitrinen beherbergten Armbanduhren. An den Wänden verteilt hingen Wanduhren, darunter ein halbes Dutzend Vertreter der schwarzwäldischen Variante inklusive des gefiederten Waldbewohners hinter der aufklappbaren Holzklappe. Es gab aber auch noch zahlreiche Möbel, die mit Laken abgedeckt waren. Beatrice erkannte die Formen eines Schreibtischs, den dazugehören Stuhl, Sockel und Standuhren. Auf einem Teewagen, unter Malervlies fast verborgen, stand ein viktorianischer Globus. Der sichtbare Ausschnitt der Topographie zeigte eine liebevoll gezeichnete Küstenlinie. Hellblaue Brandungswellen mit weißen Schaumkronen umwanderten sie. Ein Dreimaster, mit feinem Pinsel aufgemalt, ankerte in einer Bucht.
Weiter vorne, auf einem mit Tuch bespannten Tisch, lagen durcheinander Handwerksutensilien, Schrauben und eine Lupenbrille. Eine zerlegte Armbanduhr füllten die freien Stellen zu einem ansehnlichen kleinen Chaos aus.
„Sie müssen entschuldigen“, sagte Nemo. Er knipste das Licht an. „So richtig eingerichtet bin ich noch nicht. Ich war damit beschäftigt, die Decke zu streichen. Dann kam ein Auftrag dazwischen: der Chronograph eines Freundes.“ Eilig schob er ein paar winzige Schraubendreher hin und her, unschlüssig ob und wie er die Unordnung auf der Arbeitsfläche beheben sollte. „Der Arbeitsprozess wirkt auf Außenstehende immer etwas unverständlich.“ Es schien ihm wichtig zu sein, eine Rechtfertigung loszuwerden. „Aber glauben Sie mir, dass dies hier einer Ordnung entspricht. Sie ist für den Laien manchmal nicht erkennbar. Der Uhrmacher allerdings weiß, dass am Ende seiner Arbeit ein funktionierender Mechanismus steht, an dem alles einen festen Platz hat.“
Beatrice trat näher und bestaunte die filigranen Zahnräder in der geöffneten Uhr. „Wie lange machen Sie das schon?“
„Was?“
„Uhrmacher.“
Nemo nahm mit einer Pinzette ein nur wenige Millimeter großes Ankerrad auf. „Och, so lange ich denken kann. Mal hier. Mal da. Immer da, wo ich gebraucht werde.“
„Ein ungewöhnlicher Beruf.“
„Ein seltenes Handwerk ist es, wenn Sie das meinen. Aber ich liebe es.“
„Ich habe den Eindruck, dass alle klassischen Berufe irgendwie seltener werden“, stellte Beatrice fest. „Die goldenen Zeiten für Buchhändler sind auch vorbei. Die Internetriesen und Handelsketten – Sie wissen schon.“
„Trotzdem sind Sie Buchhändlerin geworden?“
„Berufung wahrscheinlich. Bücher sind für mich immer ein Spiegel der Welt gewesen.“
„Das trifft es ganz gut.“ Diese Formulierung schien dem Uhrmacher zu gefallen.
„Wissen Sie: So wie für Sie die Bücher der Spiegel dieser Welt sind, so ist für mich ein gutes Uhrwerk ein Abbild des Universums. Alles greift ineinander, verzahnt, verbunden und präzise im Ablauf. Eine wundervolle Konstruktion. Der Weltenraum funktioniert so vollkommen. Keine Zufälle. Alles hat seinen Platz in der Zeit und ist so, wie es sein soll.“ Er senkte die Stimme. „Der einzige bekannte Ort, an dem das nicht so ist, ist unsere geliebte Erde. Hier sorgt der freie Wille und etwas Biologie für ein wenig Unberechenbarkeit. Sagt man. Trotzdem sind wir nur aus Sternenstaub. Die Moleküle, aus denen wir bestehen, sind Teil dieses Kosmos. Wir sind ein futziges Stückchen Universum und gleichzeitig, ohne jeglichen Zweifel, mehr.“
„Sie reden wie mein Herr Plana“, sagte Beatrice. „Nur das Wort futzig hätte er eventuell vermieden“, räumte sie schmunzelnd ein.
„Wer weiß? Vielleicht stecken ein paar Moleküle von ihm in mir drin. Oder einige, die einst zu Ihnen gehörten. Hach, was bin ich heute wieder philosophisch.“ Beiläufig setzte er das Ankerrad an seinen Platz im Uhrwerk. Obwohl die Stelle, an die das Teil platziert werden musste, nur schwer zugänglich war, geschah dies auf eine ungeheuer spielerische Weise. Seine Finger vollführten mit der Pinzette einen eleganten Tanz, so schien es. „Ich wollte doch gar nicht hier weitermachen“, ermahnte er sich. „Wir wollten nur das Werkzeug holen.“
Just verschwand er im Nebenraum. Beatrice schickte sich an, ihm zu folgen. Ihr Augenmerk wurde aber magisch von der Uhr angezogen. Die Assoziationskette, die sich in ihr knüpfte, war absolut surreal, gleich dem Traum vom zeitschneidenden Nemo. Diese Uhr lag dort, geöffnet wie der Torso eines Menschen. Ungeachtet der Tatsache, dass das meiste der mechanischen Innereien daneben auf dem Samt lag, bewegte sich die Unruh in einer Kreisbahn vor und zurück. Sie pulsierte im Gleichtakt mit Beas Herz. Sie spürte das Pochen in der eigenen Brust und glaubte im selben Rhythmus ein Ticken zu hören.
Schon kam Nemo zurück. Er trug eine schwere Ledertasche, die Bea an einen veralteten Arztkoffer erinnerte. Als er das Teil abstellte, schepperte es metallisch darin. „Werkzeug“, erklärte er. „Damit dürfte ich für alle Eventualitäten gerüstet sein. Fürs Grobe ist ausreichend Zeugs dabei. Ein Satz Uhrmacherwerkzeug ist ebenfalls drin. Soll ich auch einen Besen mitnehmen?“
„Kehren tue ich“, beeilte Beatrice sich zu sagen. Ihr Sarkasmus von vorhin tat ihr nun leid.
„Gut.“ Er schnappte sich noch die Lupenbrille von der Arbeitsplatte und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. „Dann sollten wir die Dinge wieder in Gang bringen.“
Nemo ging voran. Zwei Schritte hinter ihm folgte Beatrice. Als sie an dem Globus vorbeikam, stieß sie versehentlich dagegen, was zur Folge hatte, dass das Vlies herabrutschte. Sie bückte sich, um es aufzuheben.
Da sah sie ihn: den Schatten unter dem Teewagen. Das wäre eigentlich kein ungewöhnlicher Anblick gewesen, hätte er sich nicht bewegt. Er schlüpfte aus dem Dunkel des hölzernen Miniaturplaneten heraus und folgte dann Nemo, verband sich alsdann mit dessen Schatten. „Was zum …“, entfuhr es Beatrice.
Nemo blieb stehen, drehte sich erstaunt zu Beatrice um. Dabei machte er einen halben Schritt. Sein Fuß kam auf dem Schatten zu stehen. Zappelte die dunkle Stelle unter ihm? Nein, Beatrice’ Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben.
„Lassen Sie das Tuch ruhig auf dem Boden liegen. Kein Problem.“
Langsam richtete Beatrice sich wieder auf. Wie sollte sie reagieren? Sollte sie sagen: „Nemo, Sie haben einen Schatten!“ Mal abgesehen davon, dass dies eine missverständliche, doppeldeutige Formulierung war, wäre die einzig sinnvolle Antwort von ihm, dass ihn das nicht wundern würde.
„Nichts.“ Verlegen tätschelte sie die Kugel. Jetzt wo das imposante Möbelstück freigelegt war, erkannte Beatrice, dass eine hölzerne Äquatorlinie den Halterahmen bildete. Kupferkugeln waren darin eingelassen. Am tiefsten Punkt der Konstruktion durchbohrte die Erdachse die Welt, um am Nordpol aus dem Ewigen Eis hervorzubrechen. Ein müßiger Betrachter vermochte es, die Ozeane beliebig nach Ost oder West zu drehen. Durch Beas Berührung kam der Globus in Bewegung. „Ich habe nur selten so eine beeindruckende Arbeit gesehen“, behauptete Beatrice. „Toll, dass ein so altes Werk so maßstabsgetreu die Kontinente wiedergibt.“
„Die Welt hat nur den Maßstab, den der Mensch ihr anlegt.“ Nemo grinste, ohne zu verraten, was er dabei so lustig fand. „Aber Sie haben schon recht: Es ist ein außergewöhnliches Werkstück: Nussbaumholz, Metall, Finesse.“
„In einer Uhrmacherwerkstatt hat er aber nicht unbedingt was zu suchen.“
„Sie haben keine Ahnung, wie viel Arbeit ich darin investiert habe. Allein die Rotation auszuklügeln, hat mir viel abverlangt.“
„Sie haben den Globus angefertigt?“
„Ja“, räumte Nemo unbescheiden ein, „mein Gesellenstück. Perfekt ist es noch nicht. Die Details liebe ich jedoch umso mehr. Schauen Sie ihn sich genauer an! Von außen ist es die Welt. Hier sehen Sie Länder, dort die Meere.“ Er griff nach dem nördlichen Ende der Erdachse. „Passen Sie auf. Ich kann sie öffnen.“ Entlang des Äquators schwang die Kugel auf. Das Scharnier, das die untere mit der oberen Halbkugel verband, musste irgendwo auf der abgewandten Seite auf der Höhe von Indien sein, vermutete Beatrice. Nemo sprach unbeirrt weiter. „Auf der Innenseite ist ein Sternenzelt abgebildet. Großer Wagen, Widder, Löwe, Waage, Jungfrau, die Venus und so weiter.“ Er zeigte Beatrice der Reihe nach die erwähnten Sehenswürdigkeiten, die im oberen Rund zu erkennen waren.
Weiße Punkte auf schwarzem Lack. Dann deutete er lustvoll nach unten. „Neben dem Firmament findet sich in diesem exquisiten Möbel noch eine Hausbar.“
Beatrice erkannte eine Flasche Scotch, eine Flasche Wodka, eine Flasche Gin und eine Karaffe Wasser. Zwei Gläser waren daneben in einem dunkelroten Samtfutteral gebettet. Nemo nahm sie heraus und goss darin etwa fingerbreit von dem Schotten ein. Dazu gab er etwas Wasser.
„Ist das nicht zu früh?“, fragte Bea.
Nemo reichte ihr ein Glas. „Kauen. Ganz langsam. Erst dann schlucken. Genießen Sie ihn. Single malt. Das gute Zeug hat vierzig Jahre auf dem Buckel.“ Er deutete auf den Globus. „Die guten Geschichten in den Büchern Ihres Ladens sollten nicht nur ein Spiegel sein. Sie sollte wie dieser Globus sein. Sie sollte eine eigene kleine Welt darstellen, in sich ein größeres Universum tragen und …“ Nemo nippte genussvoll an seinem Glas. „… und obendrein noch zu begeistern wissen.“
Beatrice trank vorsichtig etwas aus ihrem Glas. Weiche Hitze spülte den Geschmack der Asche aus dem Hals und ein kleines Feuerchen wärmte ihr Herz. „Darauf trinke ich“, sagte sie nachträglich. „Ein guter Rat, den ich selbst vielleicht beherzigen werde. Ich will es versuchen.“
Natürlich hatte Beatrice den eigenwilligen Schatten noch im Sinn. Als sie und Nemo wieder zurück zum Antiquariat gingen, schaute sie verstohlen hinunter auf Nemos Füße. Der allgegenwärtige Nebel war etwas lichter geworden. Am Himmel konnte man die Sonne als kreisrundes Gelb erkennen. Richtig hell wurde es dadurch aber nicht. Trotzdem war da ein dunkler Fleck, der mit jedem Schritt zwischen den Füßen des Uhrmachers hin und her hüpfte, was für einen Schatten natürlich nichts Ungewöhnliches war.
Die paar Minuten, die sie für den Weg brauchten, palaverte Nemo vor sich hin. Es bereitete ihm offensichtlich größtes Vergnügen, über Maschinen zu reden. Hätte seine Begleiterin besser zugehört, wäre es im Bereich des Möglichen gewesen, den Maschinentelegraphen gleich selbst instand zu setzen, denn Nemo erklärte in einem Trockenkurs die komplette Funktionsweise der Apparatur. Gespickt mit geschichtlichem Hintergrundwissen, den üblichen Verwendungsarten und kurzen Anekdoten, dozierte er genussvoll über Hebel und Holme, Ketten und Bänder. „… auf diese Weise konnten Kapitän und Maschinist miteinander kommunizieren, ohne sich durch den Lärm der Maschinen anbrüllen zu müssen“, schloss Nemo. „Dass damit, wie bei einem Hebelwerk, bestimmte Mechanismen direkt in Gang gesetzt werden, habe ich bislang noch nicht gehört. Aber es ist eine stilvolle Lösung, muss ich zugeben.“
Kaum waren sie im Laden angelangt, da stürzte sich Nemo auf seine Arbeit. Mit wenigen Handgriffen entfernte er die Außenverkleidung. Als er dann kurz innehielt, um erstaunt auszupfeifen, fragte Beatrice: „Nicht so, wie man die Dinger heute baut?“
„Puh!“, entfuhr es dem Uhrmacher, „nicht so, wie man die Dinger jemals gebaut hat. Aber keine Bange, das bekomme ich hin.“ Nach einer andächtigen Pause fügte er etwas leiser hinzu: „Ganz bestimmt.“
Beatrice wurde rasch klar, dass sie ihrem Gast bei der Arbeit nicht helfen konnte. Also beschloss sie, wenn auch zögerlich, tatsächlich das Antiquariat herzurichten. Nur, wo sollte sie anfangen? Mit Kehren war es nicht getan. Hätte sie wirklich mit dem Boden angefangen, wäre dies zu einem Sisyphos-Unterfangen geraten. „Von oben nach unten“, sagte sie zu sich. Deshalb musste sie zuerst die wandhohen Regale leeren. Sie schob eine Leiter in die hinterste Ecke, erklomm sie, nachdem sie die Sprossen mit einem Lappen abgewischt hatte.
„Es tut mir leid“, sagte sie zu einer Ausgabe von „Ich bin Legende“, die sie am äußersten Ende des Regalbretts fand. Zärtlich strich sie über den spröden Buchrücken. „Ihr müsst alle raus.“ Sie legte den Kopf schief und lauschte. Irgendwie hatte sie gehofft, ein protestierendes Wispern als Antwort zu erhaschen. Ein unwirsches Lebenszeichen. Doch dieses tote Buch, ebenso wie dessen Geschwister, schwieg. Eine unbestimmte Art der Trauer erfasste sie, als sie es hervorzog, vorsichtig öffnete, um trotzdem einen Blick hineinzuwagen. Auf dem Papier war von den vielen Worten nichts geblieben. Verblichen. Nur der Geruch der allgegenwärtigen kalten Asche lag in der Luft und machte ihr das Atmen schwer. Also legte sie es flach auf den linken Unterarm, um „Der Wolkenatlas“, „Die Straße“ und „Postman“ darauf zu stapeln. Dann stieg sie herunter und trug die literarischen Zeugen des Untergangs nach vorne zur Ladentür. Dort häufte sie sie auf. Es fühlte sich für sie an, als würde sie die unschuldigen Leichen eines Krieges aufschichten. Der Container, in dem sie später unweigerlich landen mussten, würde ein anonymes Massengrab für ihre Freunde werden.
„Es gibt Hoffnung“, flüsterte sie. „Die gibt es immer. Wenn Nemo uns den Weg in den Keller ermöglicht, dann hole ich neue Ausgaben von euch. Es kann nicht alles verloren sein. Vielleicht stehen schon längst alle Regale wieder. Wie damals, nachdem ihr mir diesen Schrecken eingejagt hattet. Ich bringe euch wieder in diesen Laden. Ich sorge dafür, dass ihr eure Leser zurückbekommt.“ Ihre Worte taten ihr selbst gut. Sie machten auf unverbindliche Art Mut.
Mit der Zeit wurde der Stapel kaputter Bücher höher und höher. Da einige der Bände im Zerfall sehr weit fortgeschritten waren und bei der bloßen Berührung teilweise oder gleich ganz zerbröselten, kippte der Stapel bald um. Er wurde zu einem unförmigen Haufen. Beatrice machte sich nicht die Mühe, die Bücher nochmals in irgendeiner Weise herzurichten. Sie arbeitete einfach weiter. Die Regale im Arbeitszimmer leerten sich, der Laden füllte sich. Der Weg von hinten nach vorne und wieder zurück, immer wieder, hinterließ eine ausgetretene Furche im Dreck auf dem Boden und eine eigentümliche, fast meditative Leere in Beas Kopf.
Als sich die Ladentür öffnete und Sophia mit staksigen Schritten ihrer Mama entgegenwackelte, schaute Bea schuldbewusst auf ihre Armbanduhr. „Es sind fast acht Uhr“, sagte Ingo, der dem Kind hinterherkam. „Wir wollten mal schauen, wo du bleibst.“
„Ga!“
Bea rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab und flitzte sofort zu Sophia. „Süße, ich hab’ die Zeit total vergessen.“
„Ach“, ätzte Ingo aus dem Hintergrund. Er zog den Buggy nach und stellte ihn neben dem Haufen aussortierter Bücher ab. Aber dann beschloss er, seinen Tadel nicht zu hart ausfallen zu lassen. „Was gibt das hier?“
„Nemo“, sagte Beatrice, während sie versuchte, eine verschwitzte Haarsträhne hinter das rechte Ohr zu klemmen, „er will mir helfen.“
„Wobei?“
„Dem Laden neues Leben einzuhauchen.“ Nemo gesellte sich zu der kleinen Familie, reichte erst Ingo die Hand und ging dann vor Sophia in die Hocke. „Hallo.“
Sophia strahlte! „Hallo.“ Dann hob sie ein Fingerchen, zielte gewissenhaft und stupste die Nasenspitze des Mannes an. Nemo reagierte prompt richtig. „Tuuuut.“
Zufrieden mit der Reaktion gackerte Sophia los.
Die zweite Stufe der vertrauensvollen Kontaktaufnahme war wohl, dass nun auch Nemo seinerseits Sophias Näschen als Hupe probieren sollte. Behutsam hob er seinen ungleich größeren Zeigefinger, zog dabei eine Grimasse, als würde er sich ungeheuer anstrengen. Doch bevor er dem Kind zu nahe kam, besann sie sich der Tatsache, dass der freundliche Mann ihr vollkommen unbekannt war. Eilig flüchtete sie sich hinter Ingos Bein. Erst als sie sich sicher war, dass der Mann ihr nicht folgte, lugte sie vorsichtig an der Jeans vorbei. „Ga!“
„Meinst du?“, fragte Nemo.
„Überraschend“, stellte Ingo fest. „Sophia fremdelt normalerweise bei neuen Bekanntschaften viel mehr.“
„Sie hat ein offenes Herz.“ Nemo richtete sich wieder auf, streckte das Kreuz durch. Beatrice kam nicht umhin festzustellen, was für eine imposante Figur Nemo darstellte. Einen halben Kopf größer als Ingo, ansehnlich breite Schultern und alles in allem athletisch. Ihr Ehemann wirkte neben dem Uhrmacher beinahe mickrig.
Ingo schien dies auch aufzufallen. Er reckte sich. Der Erfolg blieb leidlich. Er wippte unbeholfen auf die Zehenspitzen, erreichte dadurch für einen flüchtigen Moment Augenhöhe.
„Das ist Nemo“, stellte Beatrice den Uhrmacher vor. „Er hat sich dazu bereiterklärt, die kaputten Apparaturen zu reparieren. Und während er arbeitet, dachte ich, könnte ich hier ein wenig ausmisten.“ An Nemo gewandt sagte sie dann: „Das ist mein Mann Ingo. Er hat mir heute Sophia abgenommen, damit ich Sie …“ Beatrice beendete ihren Satz abrupt. Unangenehm berührt schaute sie hilfesuchend zu Ingo, dem aber auch nichts Sinnvolles einfallen wollte.
„… besuchen kann?“, half Nemo aus. „Sie hatten bestimmt die Absicht, einen neuen Nachbarn genauer zu beäugen. Das ist nachvollziehbar.“
Mit dieser halben Wahrheit konnte jeder zufrieden sein, beschloss Beatrice. So war es möglich, wenigstens eine direkte Lüge zu umgehen.
„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Ingo.
„Ebenfalls.“ Nemo deutete Richtung Maschinentelegraph. „Würden Sie mich entschuldigen? Ich möchte mich diesem wundervollen Stück Technik widmen. Sie möchten sich sicher noch bereden. So lange kann ich weiterarbeiten.“
Sophia winkte ihm nach, als er in das Arbeitszimmer ging. Beatrice nutzte die Gelegenheit, um Ingo die Ereignisse des Tages zu erzählen. Dabei spürte sie, wie ihr selbst erst richtig klar wurde, was gerade hier passierte. Nemos Engagement brachte sie dazu, tatsächlich neu anzufangen! Ingo hörte ihren wortreichen und zunehmend euphorischen Ausführungen geduldig zu. Nachdem sie endlich ein Ende gefunden hatte, fragte er ruhig: „Du willst den Laden wieder aufmachen?“
„Darauf läuft es wohl hinaus.“
„Und dein Manuskript?“
„Schreib ich später. Oder abends. Nebenbei.“
Ingo schürzte die Lippen. „Ich bin wirklich erstaunt über den plötzlichen Sinneswandel.“
Bea faltete die Hände vor dem Mund und zeigte einen bemerkenswerten Augenaufschlag. „Sag ja!“
„Du hast deine Entscheidung doch schon längst getroffen.“ Ingo verdrehte resigniert die Augen.
„Ohne dein Einverständnis kann ich das nicht durchziehen.“
„Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal so impulsiv gewesen bist.“ Ingo zog die Stirn in Falten. Er machte keinen Hehl daraus, dass ihn Beas Stimmungswechsel verblüffte. „Wer kümmert sich um Sophia, wenn wir beide wieder arbeiten gehen?“
„Ich nehme sie einfach mit. Ich meine … Hier im Arbeitszimmer könnte ich eine Spielecke einrichten. Und … und … oben, in Planas alter Wohnung, für später ein Spielzimmer.“
Ingo blieb skeptisch, weil er erkannte, dass das noch nicht zu Ende gedacht war. Aber er beschränkte sich auf einen pragmatischen Einwand: „Du weißt, dass wir kein Geld dafür übrig haben?“
Bea holte Luft, um wenigstens irgendetwas zu antworten. Sie wusste nur noch nicht, was genau. Ihr Mann hob die Hand und hieß sie schweigen. „Du wirst Hilfe brauchen. Nicht nur die eines Uhrmachers. Und ich kann kaum mit anpacken, ohne meinen Job zu vernachlässigen. Frag Chaya, ob sie sich an der Aktion beteiligt.“
„Du bist einverstanden?“
Ingo zuckte mit den Schultern. „Was nimmt dieser Nemo denn die Stunde?“
„Wenn ich ihn richtig verstanden habe“, sagte Beatrice, „dann sieht er das als Gefälligkeit an.“
„Puh!“ Ingo kratzte sich ungläubig die Stirn. „Hört sich seltsam an. Sowas macht niemand einfach so.“
„Lassen wir’s drauf ankommen. Zur Not bezahle ich ihm später was, wenn der Laden wieder läuft.“
„Ich bin gespannt auf seinen Preis. Wir werden sehen, ob er mit unserem Geld zufrieden sein wird.“ Ingo seufzte, fasste in Beas Haar und zog vorsichtig einen angekokelten Papierfetzen heraus. „Für heute solltest du Schluss machen. Draußen wird es schon dunkel und du siehst aus, als könntest du eine Dusche vertragen.“
Von seinen Worten war nicht viel angekommen. Beatrice suchte nur nach dem, was sie von ihm hören wollte. „Du sagst also ja?“
„Ja.“
Heißes Wasser rann ihr über die Haut, spülte den Schweiß und die Patina aus grauem Staub von ihr ab. Gemeinsam mit dem Schaum des Duschgels wirbelten sie im Abfluss in die Tiefe, während die Glasscheiben der Kabine weiß beschlugen. Auch Beas Gedanken kreisten. Die vergangenen beiden Tage hatten sie reichlich verwirrt. Das Gefühl der Veränderung griff nach ihrem Herzen, verunsicherte sie und ließ sie grübeln.
Endlich hatte sie Familie. Sophia bereitete ihr und Ingo so viel Freude. Der Schmerz über den Verlust ihrer geliebten Rachel trat zum ersten Mal in den Hintergrund. Natürlich träumte sie manchmal von ihrem Baby. Eigentlich bei weitem öfter, als sie es zugeben wollte. Doch sie diagnostizierte sich selbst darin nur die Angst, ihre liebste Sophia auf die gleiche Weise zu verlieren.
Jetzt kam da dieser Nemo. Sein Erscheinen läutete wohl den dritten Akt einer Geschichte ein, in der sie offensichtlich die Hauptrolle spielte, den Text schrieb und anschließend für den Vertrieb zu sorgen hatte. So hatte sie das Ganze zumindest bis dato verstanden. Vielleicht waren aber auch die Bücher die Hauptdarsteller, um die sich alles drehte. Sie wäre dann nur eine Nebenrolle in einem möglicherweise diabolischen Drama, verfasst von einem Unbekannten in einer göttlichen Komödie.
War es tatsächlich ihre Entscheidung gewesen, wie es nun weiterging? Sie hätte die Geschehnisse der jüngsten Zeit einfach ignorieren können, weitermachen wie im letzten Jahr. Immerhin war sie damit nicht wirklich unglücklich gewesen.
Doch nun versuchte sie, dem Leben einen Handlungsverlauf aufzuzwingen, indem sie ein Manuskript schrieb. Und mit Nemos Hilfe war es tatsächlich möglich, das Antiquariat wiederzubeleben!
Das kam ihr wie das Happy End vor, das sie sich verdient hatte. „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Das fehlte noch. „Glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“
Beatrice ertappte sich dabei, wie sie diese Sätze vor sich hinsagte. Es klang nicht kitschig. Es klang nicht falsch.
Es war das, was sie in das Manuskript schreiben wollte, damit es wahr werden würde.
Sie reckte ihr Gesicht hoch in den Wasserstrahl. Die Tropfen prasselten ihr auf die geschlossenen Augenlider, rieselten auf die Haut. Das Rauschen übertönte die anderen Geräusche, während sie bereits im Gedanken die nächsten möglichen Sätze des Skripts formulierte.
Alles würde gut werden.
„Ja.“
Sie drehte das Wasser ab und die Stille kam zurück. Die Tür der Duschkabine machte dieses eigentümliche Klong, als sich die Gummidichtung beim Öffnen über den Alurahmen schob. Dann hörte Beatrice es: Ingo hustete. Ingo würgte. Es drang dumpf durch die Wand zum Schlafzimmer.
„Ingo“, rief Bea besorgt, „was ist los?“ Eilig wickelte sie sich ein Handtuch um und rannte zu ihm.
Er saß keuchend auf dem Bett, so weit vorgebeugt, dass sein Kopf fast zwischen den Knien hing. Seine Arme hatte er vor dem Bauch verschränkt. „Alles okay. Es geht gleich wieder.“
Beatrice setzte sich neben ihn, strich ihm vorsichtig über den Rücken. „Hast du dich verschluckt?“
Ihr Mann räusperte sich. „Nein.“ Langsam kam er zu Atem. Als er sich aufrichtete, erschrak Bea über den Anblick, den die pochende Ader an seiner Stirn bot. Kleine Schmerzfalten malten Schlangenlinien in Ingos Gesicht. Seine Lippen waren beinahe weiß.
„Bekommst du eine Erkältung?“
Mit dem Handrücken fuhr Ingo sich über den Mund. Ein paar Tropfen Speichel glänzten kurz rötlich im Licht der Nachttischlampe. Er wischte sie eilig am Hosenbein ab. „Glaube nicht.“ Seine Stimme klang jetzt etwas kräftiger. „Ist schon wieder gut. Ich wollte dich nicht ängstigen.“ Er löste sich von ihr und drückte sich von der Matratze hoch. Ein paar unsichere Schritte weiter und er stand vor dem großen Spiegel des Kleiderschranks. Es kam Bea vor, als würde er ihr bewusst den Rücken zudrehen, damit sie ihm nicht ihn die Augen sehen konnte.
„Hast du aber.“ Auch sie stand auf, ging ihm nach und schmiegte sich an seine Schultern.
Ingo versank in der Betrachtung seines Spiegelbilds. Nein, eigentlich betrachtete er einen übergroßen Schatten, der hinter ihm lauerte. Als er wieder sprach, klangen seine Worte, als wäre er an einem ganz anderen, fernen Ort. „Wir könnten auf den Schreck ein Gläschen …“
Was wollte er da sagen? In Beatrice zog sich alles zusammen. Ein Fluss aus Eis durchströmte ihre Eingeweide. „Jetzt machst du mir Angst.“
„Oh.“ Ingo schüttelte sich, blinzelte mehrmals. Er kam von dem fernen Ort zurück. Dann drehte er sich zu ihr um und schloss sie in die Arme. „Entschuldigung. Tut mir leid.“