Читать книгу Bibliophilia. Am Ende des Buchlands - Markus Walther - Страница 8
ОглавлениеProlog
Manchmal beginnt eine Geschichte und man stellt fest, dass man schon mittendrin steckt. Mit einem gleichmäßigen Takt schlug Beatrice ihre Finger auf die Tastatur des Rechners. In ihrem Kopf lief eine Maschine, die piepend und ratternd ihr Programm abspulte. Sie produzierte Worte, ohne sie wirklich wahrzunehmen, tippte, was sie sich selbst erzählte. Zuzuhören brauchte sie sich nicht: Es war alles einfach da. Die Zeit schob die Zeilen voran, einem Fließband gleich, das mit Einzelteilen bestückt wurde, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügten. Es fühlte sich richtig an.
Zärtlich legte sich eine Hand in ihren Nacken. Ein Kuss wurde hinter ihr Ohr gehaucht. Ingo flüsterte: „Du schreibst? Mitten in der Nacht?“
Bea drehte sich um. Ein Seufzen entfloh ihren Lippen, als wäre es ihr erster Atemzug in einem neuen Leben. Hatte sie beim Tippen die Luft angehalten? „Man muss schreiben, wenn die Ideen da sind.“
„Das ist … gut, schätze ich. Ich hatte mich schon gefragt, ob du es jemals wieder tun würdest.“ Ingo setzte sich neben sie. „Was ist der Anlass?“
„Der gestrige Tag“, sagte Bea. „Ein kaputter Laden, ein geheimnisvoller Mann und ein zerfleddertes Buch. Das Buchland … Es will … anders enden. Nicht mit Asche und Staub.“ Sie versuchte es mit einem entschuldigenden Augenaufschlag. „Ich hab wohl verstanden, dass ich mich der Geschichte nicht widersetzen kann. Sie will erzählt werden.“
Ingo nickte. Er begriff. Doch seine Gesichtszüge verrieten einen Hauch Widerwillen. „Hast du keine Angst?“
Beatrice schüttelte den Kopf. „Ich will keine Angst mehr haben. Ich habe meine Lektionen angenommen. Ich habe gelernt, dass wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen.“ Sie stockte kaum merklich vor dem nächsten Satz. „Ich habe auch gelernt, dass ich Rachel nicht zurückholen kann.“
Ingo durchschaute sie. „Und deine Träume?“
„Ja.“ Beatrice lächelte schief. „Aber ich brauche auch davor keine Angst zu haben. Sophia ist nicht Rachel. Sophia kann nichts passieren. Ich bin nicht mehr machtlos. Ich muss es nur so schreiben. Und dann wird es so geschehen.“
„Hast du mir nicht mal gesagt, dass das so nicht funktioniert?“
„Es muss funktionieren! Ich meine … Ich will ja nicht das Antiquariat neu bauen. Das wäre unbezahlbar! Ich will nur wieder in den Keller.“ Beatrice schaute kurz über die Schulter, als wollte sie sich vergewissern, dass sie allein waren. Dann fügte sie etwas leiser hinzu: „Der Gevatter kann uns nichts mehr anhaben. Glaub mir! Das ist es, was das Buchland uns sagen wollte. … Ich will keine Angst mehr haben.“
Ein Schatten stahl sich zum Fenster hinein, glitt unbemerkt die Wände entlang, hinaus in die Diele.
„Jetzt muss ich nur noch ungeschehen machen, was Quirinus angerichtet hat. Ich brauche einen Keller voller Bücher, Chaya braucht eine Zukunft und wir unsere Liebe.“
„Unsere Liebe haben wir schon. Dazu brauchen wir keine Bücher“, meinte Ingo nüchtern.
Unaufdringlich knackte das Babyfon.
„Ich weiß. So habe ich das ja auch nicht gemeint.“ Beatrice strich über die Tastatur, um einen Staubflusen fortzuscheuchen. „Es sind die Zutaten für den letzten Teil meiner Trilogie. Es wird sich alles zum Guten wenden.“
„Es ist alles gut“, sagte Ingo nachdrücklich.
Beatrice schürzte die Lippen. „Warum hört sich das jetzt so an, als wolltest du mich davon abhalten zu schreiben?“
Ingo trat einen Schritt zurück. Hilfesuchend blickte er in Richtung des Regalbretts, auf dem einige vergessene Bücher standen. Sie schwiegen. Und hätten die Bücher ihr Schweigen gebrochen, hätte er sie kaum gehört. „Schreiben sollst du. Es wird dir gut tun. Aber muss es ausgerechnet was über das Buchland sein? Schreib doch einfach mal einen Band mit ein paar lustigen Kurzgeschichten oder so. Warum soll es gleich wieder unsere Leben auf den Kopf stellen?“
„Kurzgeschichten? Das liest niemand. Außerdem … habe ich wahrscheinlich sowieso keine andere Wahl. Die Handlung ist bereits in vollem Gange.“
„Hast du diesen Dialog schon geschrieben?“
„Welchen Dialog?“, fragte Beatrice verwirrt.
Ihr Mann verdrehte die Augen. „Den, den wir gerade führen. Das, was wir sagen. Wie wird unser Gespräch ausgehen? Steht es schon in deiner Textdatei?“
Beatrice zögerte, schaute sicherheitshalber nochmals flüchtig auf die Worte, die sie verfasst hatte. „N-nein …“
„Vielleicht schreibt jemand anderes deine Story“, behauptete Ingo kühn.
Beatrice stand auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sie sich vor Ingo auf. „Warum hast du Schiss vor der Buchlandstory? Ich will doch nur ein perfektes Ende. Eines, bei dem ich noch durch mein geliebtes Buchland streifen kann. Eines, in dem Chaya wüsste, ob sie eine Seele hat und in dem sie nicht so verdammt schnell altert. Eines, in dem das Böse nicht davonkommt. Das wäre das richtige Happy End für meinen Roman.“
„Ich kann auf das Abenteuer, das zwangsläufig vor dem Happy End kommen muss, verzichten“, erklärte Ingo, seine Resignation betonend. „Konflikte, Entbehrungen. Du bekommst kein Happy End, ohne dass der Protagonist und dessen Mitstreiter vorher Verluste erleiden. Deine Freunde …“, Ingo nickte in Richtung des Regals, um zu zeigen, dass er die Bücher meinte, „befolgen gewisse Regeln. Du weißt schon: Einleitung, Hauptteil, Höhepunkt, Schluss. Jeder Held hat seinen Preis zu zahlen.“ Ingo musste plötzlich husten. Dabei verzog er schmerzhaft das Gesicht.
Bevor Bea ihn fragen konnte, was los ist, drang lautstark ein kurzer Schrei durch das Babyfon. Es folgte ein klägliches Wimmern. Das Gespräch war mit einem Mal Nebensache und die pure Panik packte Beatrice. Mit dem Ellenbogen stieß sie Ingo zur Seite und stürmte ins Kinderzimmer. Sie hieb auf den Lichtschalter, vertrieb den Schatten, jedoch nicht das Gefühl, die Situation bereits tausendfach durchlebt zu haben. Erinnerungen, genährt von bösen Ahnungen und dem immer wiederkehrenden Traum, griffen mit gierigen Klauen nach ihr und presste ihren Brustkorb zusammen.
Schon stand sie am Bettchen, hob ihr Liebstes heraus.
„Sophia!“
Das Kind schaute seine Mama panisch an. Etwas musste es erschreckt haben. In den großen Augen sammelten sich die ersten Tränchen. Kurz darauf brachen alle Dämme. Die Schreie des Kindes wirkten auf Bea in diesem Moment wie eine Erlösung. Es atmete!
„Sssccchhht! Es ist nichts passiert“, brummte sie beruhigend in das Öhrchen. „Nichts passiert. Mama ist da. Mama ist da.“ Sie schmiegte ihr Kind an ihre linke Schulter, streichelte sachte über seinen Rücken und zog sich dann einen Stuhl heran. „Sscchht. Soll Mama dir eine Geschichte erzählen?“
Sophia schniefte.
„Soll Mama dir eine Geschichte erzählen?“
„Ga.“
Beatrice schaute sich im Zimmer um. Wo waren die Pappbücher? Hatten nicht die Geschichten mit der kleinen Maus und dem Waldmonster auf dem Tischchen gelegen? Sophia schluchzte hingebungsvoll und machte deutlich, dass ihre emotionale Situation keinen weiteren Aufschub duldete. „Kein Buch da“, stellte Bea fest. „Da muss ich wohl improvisieren.“
„Ga?“, fragte Sophia, da Mama so ein merkwürdiges Wort benutzte.
„Habe ich dir schon die Geschichte von dem Hasenpapa und dem Hasenkind erzählt? Der Hasenpapa wollte das Hasenkind nämlich ins Blätterbettchen stecken. Das Hasenkind wollte aber noch nicht. Weißt du, was das Hasenkind deshalb gemacht hat?“
Sophia schüttelte ansatzweise den Kopf.
„Es stellte dem Hasenpapa eine schlaue Frage: Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe? Das ist eine sehr wichtige Frage.“
Sophia legte das Köpfchen schief und dachte nach. „Mama …“
„Ja?“
„… liep. Mama liep.“
Bea blinzelte sich jetzt auch ein Tränchen fort.
Oft ist es überaus bedeutsam, was Worte sagen. Manchmal ist es nötig Worte zu hören. Wiederum gibt es Momente, da müssen die Worte einfach nur da sein. Bea wusste nicht, ob Sophia tatsächlich das Geschichtchen verstand, das sie ihr erzählte. Aber während sie Satz für Satz ihre kleine Nacherzählung mit Leben erfüllte, spürte sie, dass Sophias Schluchzen verstummte, der Atem ihrer Prinzessin immer ruhiger und gleichmäßiger wurde. Als sie schließlich das Ende der Fabel erreichte, hörte sie schon ein Schnuffeln, das man, wenn man so wollte, auch als leises Schnarchen bezeichnen durfte.
„Alles ist gut“, flüsterte Bea. Ein sanfter Kuss auf die Stirn, dann legte sie Sophia in ihr Bettchen zurück. Mit dem Daumen strich sie ihr noch ein vorwitziges Löckchen aus dem Gesicht. „Schlaf schön.“ Als sie das Kinderzimmer verließ, entschied sie sich, das Licht brennen zu lassen. Irgendwas in ihr drängte sie dazu, hier heute Nacht keine Schatten mehr zuzulassen.
Auf dem Sofa lag Ingo. Er wirkte etwas blass um die Nase. Aber als Beatrice kam, setzte er sich eilig auf und versuchte ein Lächeln. „Schläft die Motte?“
„Tief und fest.“ Beatrice entging nicht, dass Ingo sich den Bauch rieb, obwohl sie mit dem Kopf noch halb bei Sophia war.
„Ich hab dir zugehört. Es ist schön, wenn du erzählst. Es tut gut, deine Stimme zu hören“, sagte Ingo.
„Als Erzählerin bin ich wohl nicht ganz untalentiert. Sogar Herr Plana wollte immer vorgelesen bekommen.“ Wenngleich das mitunter andere Gründe hatte, ergänzte Bea im Gedanken.
„Womit wir wieder bei deiner Geschichte sind.“
Beatrice hatte Angst, dass dieses Thema doch noch Potenzial für einen Streit hatte. Deshalb nickte sie nur.
„Wie …“, Ingo betrachtete unschuldig seine Finger, „… wie soll denn unsere Story weitergehen? Muss ich was dafür tun? Merke ich, wenn ich plötzlich deine Marionette bin?“
„Ich würde dich niemals …“ Jetzt dämmerte es Beatrice. Ingos Bedenken waren gar nicht so diffus, wie es zunächst den Anschein gemacht hatte.
„Nein?“ Ingos Augen blitzten sie an. „Hast du es nicht längst schon mal getan? Du hattest mein Lebensbuch manipuliert. Erinnerst du dich?“
„Das war was anderes.“ Damals hatte der Alkohol ihm den Verstand geraubt. Sie hatte einfach Verantwortung für ihn übernehmen müssen.
Davon wollte er offensichtlich nichts mehr wissen. „War es das?“
„Es hat aber doch funktioniert.“ Beatrice suchte vergeblich nach Verständnis in seinem Gesicht.
„Und … und … ich werde dich bestimmt nicht wieder fernlenken.“
„Sondern?“
„Sondern …“ Bea ging argumentativ die Luft aus.
„Früher hast du deine Bücher geschrieben, nachdem die Geschichten vorbei waren.“
„Trotzdem sind sie dadurch erst Realität geworden.“ Beatrice biss sich auf die Unterlippe. „Oh, Mann! Wie verrückt sich das anhört, wenn man es laut ausspricht.“
Ihr Mann seufzte niedergeschlagen. „Da siehst du selbst, wie irre das alles ist!“
Beatrice ließ sich auf das Sofa plumpsen und griff nach seiner Hand. Etwas Deeskalation mochte nicht schaden. Sie zog ihn sanft zu sich. „Ich will doch nur das beste Leben, das wir bekommen können, für uns verwirklichen …“
„Was läuft denn in unserem Leben so falsch?“, fragte Ingo missmutig. An ihrer Seite verrauchte sein Ärger. Sein Unverständnis blieb.
Bea zögerte. Ingo würde sie nicht verstehen, wenn sie ihm erklärte, dass sie Angst um Sophia hatte und dass tief in ihrem Herzen immer noch der Schmerz saß, weil irgendetwas in ihrem Leben hätte anders laufen sollen. Ja, ihre Abenteuer hatten Entbehrungen verlangt. Schon lange vor der Geschichte, die sie in ihr Buch gepackt hatte. Was wäre, wenn das Schicksal nun einfach beschloss, Teile der Vergangenheit zu wiederholen?
„Die Bücher brauchen mich“, sagte sie schließlich. Diese Erklärung musste für Ingo genügen. „Sie brauchen eine Freundin, die sich um sie kümmert.“
„Freund der Bücher? Du willst ihr Auktoral werden? Wie Herr Plana?“
Bea deutete grinsend auf den Monitor, wo der Textcursor nach wie vor ungerührt vor sich hin blinkte. „Die Idee hatte ich noch gar nicht. Aber das wäre doch ein guter Einstieg in das Manuskript.“
„Und wie wird es dann weitergehen?“
„Das liegt alles noch etwas im Nebel, gewissermaßen. Ich weiß, wo ich mit meiner Story hin will.“
„Aber du kennst den Weg nicht. Du schreibst ins Dunkle hinein, wie in einen Tunnel.“
Beatrice zog eine Augenbraue hoch. „Ja. So kann man es ausdrücken. Interessante Wortwahl.“
„Ist nicht von mir. Kafka hat’s gesagt, glaube ich.“
„Du kennst Kafka?“, fragte Beatrice mehr als erstaunt.
„Nicht persönlich“, flachste Ingo. „Ehemänner von Buchhändlerinnen bekommen so einiges mit auf den Weg.“
Beatrice knuffte ihn in die Seite. „Du überraschst mich immer wieder.“
Mit einem herzhaften Gähnen erinnerte Ingo sie an die nachtschlafende Zeit. „Wie lange machst du denn noch?“
„Ich habe heute 47 Seiten geschrieben. Ich glaube, dass das erst mal reichen soll. Es ist die Einleitung. Über den Rest muss ich später grübeln. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Kaum hatte Beatrice’ Ohr das Kopfkissen berührt, dämmerte sie hinüber in das Traumland. Ihre letzten Gedanken klebten noch am Tag, rissen und zerrten an den Fragmenten des Erlebten, nahmen das ein oder andere mit in den Schlaf.
Da war die gestreifte Markise, das große Schaufenster, darin ausgestellt einige Kuriositäten. Nein. Es waren Uhren. Armbanduhren, digital und analog. Dekoriert auf seidenen roten Kissen, präsentiert wie Kronjuwelen, füllten sie die Auslage. Den Hintergrund bildete ein blasser, gelber Kreis, darauf zwölf Striche, drei Zeiger.
Die Ladentür öffnete sich, Bea trieb hinein. Sie fand sich in einem kathedralenartigen Saal wieder. In den steingrauen Wänden waren hohe Fenster mit spitzen gotischen Bögen eingelassen. Das Glas war mit grünen und blauen Ornamenten in Blei gefasst. Das trübe Licht, das durch sie hereindrang, spiegelte sich matt in dem monströsen Uhrwerk, das sich den Kreuzbögen der Decke entgegenreckte. Ratternd und schnaubend bewegten sich Zahnräder links und rechts von Bea. Hinter ihr, in der Wand mit dem Schaufenster, hing ein riesiges spiegelverkehrtes Ziffernblatt. Elf Zahlen wurden mit römischen Ziffern dargestellt. Die achte Stunde zeigte allerdings eine waagerecht liegende arabische Acht.
Bea ging tiefer in den Saal, vorbei an Gewichtszügen, unter Federwerken und Ankerrädern, über sich unstet bewegende Scheiben und Bänder. Es bereitete ihr keine Mühe. Mit traumwandlerischer Sicherheit folgte sie ihrem unsichtbaren Pfad. Am Ende ihres Weges saß Nemo. Er schnitt mit einer funkelnden Klinge die Zeit in kleine Stücke. Sekunde für Sekunde, teilte er dem Uhrwerk auf diese Weise mit, was die Stunde schlägt.
„Wie machst du das?“, hörte Bea sich sagen. „Woher weißt du, wann du deine Klinge ansetzen musst?“
Der Mann lächelte. Dann sagte er: „Ich schaue einfach auf meine Uhr.“ Dabei deutete er hinüber zur gegenüberliegenden Wand. Auch dort war ein Ziffernblatt, auf dem sich just der armdicke Sekundenzeiger mit einem Ruck auf den tiefsten Punkt seiner kreisrunden Reise bewegte. Beatrice erkannte, dass die römische Sechs eine Tür war. „Geh nur hindurch“, sagte Nemo. „Du findest Zeit und begreifst …“
Die Zeit begreifen, indem man eine Uhr betrachtet? Bea schüttelte den Kopf. Das wäre, als ob man versuchte, die Angst in Worte zu fassen. Trotzdem drückte Beatrice gegen das V und das I der Sechs. Die Türflügel schwangen auf und …
… sie fand sich in einem kathedralenartigen Saal wieder. In den steingrauen Wänden waren hohe Fenster mit spitzen gotischen Bögen eingelassen. Das Glas war mit grünen und blauen Ornamenten in Blei gefasst. Das trübe Licht, das durch sie hereindrang, spiegelte sich matt in dem monströsen Uhrwerk, das sich den Kreuzbögen der Decke entgegenreckte. Ratternd und schnaubend bewegten sich Zahnräder links und rechts von Bea. Hinter ihr, in der Wand mit dem Schaufenster, hing ein riesiges spiegelverkehrtes Ziffernblatt. Elf Zahlen wurden mit römischen Ziffern dargestellt. Die achte Stunde zeigte wieder eine waagerecht liegende arabische Acht.
Bea ging tiefer in den Saal, vorbei an Gewichtszügen, unter Federwerken und Ankerrädern, über sich unstet bewegende Scheiben und Bänder. Es bereitete ihr immer noch keine Mühe. Mit traumwandlerischer Sicherheit folgte sie ihrem unsichtbaren Pfad. Am Ende ihres Weges saß Nemo. Er schnitt mit einer funkelnden Klinge die Zeit in kleine Stücke. Sekunde für Sekunde, teilte er dem Uhrwerk auf diese Weise mit, was die Stunde schlägt.
„Wie machst du das?“, hörte Bea sich sagen. „Woher weißt du, wann du deine Klinge ansetzen musst?“
Der Mann lächelte. Dann sagte er: „Ich schaue einfach auf meine Uhr.“ Dabei deutete er hinüber zur gegenüberliegenden Wand. Auch dort war ein Ziffernblatt, auf dem sich just der armdicke Sekundenzeiger mit einem Ruck auf den tiefsten Punkt seiner kreisrunden Reise bewegte. Beatrice erkannte, dass die römische Sechs eine Tür war. „Geh nur hindurch“, sagte Nemo. „Du findest Zeit und begreifst …“
Die Zeit begreifen, indem man eine Uhr betrachtet? Bea schüttelte den Kopf. Das wäre, als ob man versuchte, die Angst in Worte zu fassen. Trotzdem drückte Beatrice gegen das V und das I der Sechs. Die Türflügel schwangen auf und …
… sie fand sich in einem kathedralenartigen Saal wieder. In den steingrauen Wänden waren hohe Fenster mit spitzen gotischen Bögen eingelassen. Das Glas war mit grünen und blauen Ornamenten in Blei gefasst. Das trübe Licht, das durch sie hereindrang, spiegelte sich matt in dem monströsen Uhrwerk, das sich den Kreuzbögen der Decke entgegenreckte.
Der Lärm der ratternden, schnaubenden Zahnräder riss Beatrice aus ihrem Traum.
Milchiges Sonnenlicht malte ein Viereck auf den Boden vor dem Bett. Die Gardine warf ein hübsches Muster hinein. Die Fliege, die eifrig immer wieder gegen die Fensterscheibe knallte, war auch als sehr verschwommenes Abbild im Schattenspiel zu sehen. Benommen rieb Beatrice sich den Schlaf aus den Augen. Helllichter Tag? Verdammt! Sie hatte verschlafen.
„Ga?“
Auf der Bettdecke neben ihr saß Sophia. „Tuuut!“ Ein sanfter Hieb traf Beas Nase.
„Na, was machst du denn hier?“ Bea setzte sich auf und zog ihre Maus zu sich heran. Ein Kuss, eine Umarmung. Ja, so sollte ein Tag beginnen.
„Wir sind schon eine Stunde auf. Wir haben einen leckeren Joghurt gegessen und den Popo sauber gemacht.“ Ingo kam mit einer Tasse Kaffee in der Hand in das Schlafzimmer. „Danach sind wir um den Block gejoggt.“
„Gejoggt?“
„Na ja.“ Ingo tat verlegen. „Eigentlich haben wir in der Küche nur Fangen gespielt. Was soll ich sagen? Sophia hat gewonnen. Seit sie laufen lernt, ist sie schnell wie der Blitz.“
Stolz drückte Sophia das Brüstchen vor. Dann reckte sie in Siegerpose die Arme hoch.
„Ich war aber auch etwas gehandicapt: Mit dem Zuckerlöffel in der Hand war ich zu träge.“ Ingo hielt seiner Frau den Kaffee hin „Für dich.“
„Gewickelt, gefüttert, gespielt“, zählte Beatrice auf. „Das ist doch mein Job. Du hättest mich wecken müssen. Ich hab gnadenlos verpennt.“ Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Total zerzaust. Für Ingo musste sie wie eine Vogelscheuche oder ein aufgeplatztes Sofakissen aussehen.
„Es ist Sonntag. Und eine gute Schriftstellerin sollte ausgeschlafen sein, wenn sie Weltliteratur verfasst. Deshalb hab’ ich deinen Wecker ausgemacht.“
Hm. Ganz neue Töne. Hatte sie ihn so falsch eingeschätzt? Wollte ihr Mann sie jetzt etwa beim Projekt Buchland 3 unterstützen?
Beatrice nippte an dem Kaffee. Fragmente ihres Traumes trieben an ihrem inneren Auge vorbei. „Psychedelisch“, sagte sie zu sich selbst.
Ingo setzte sich auf die Bettkante, was Sophia zum Anlass nahm, um zu ihm herüber zu krabbeln.
„Du hast geträumt?“
„Ja“, gab Bea zu. „Aber es war wenigstens kein Albtraum. Siegmund Freud hätte bestimmt Spaß daran gehabt.“ Sie erinnerte sich an das Gespräch vom Vorabend und fügte hinzu: „Oder Kafka.“
Ingo blieb stumm und wartete ab. Sophia ließ sich auf den Rücken kippen und streckte ihrem Papa die Beine entgegen. „Ga!“, machte sie dabei. Immerhin war es ihr Lieblingswort. Vermutlich weil man es zu jeder Gelegenheit anwenden konnte und weil es alles bedeuten mochte.
„Ich habe von dem Uhrmacher geträumt. Ich war im Kuriosum.“
„Im Kuriosum?“, hakte Ingo nach.
„Na ja“, überlegte Bea, „eigentlich nicht. Das Kuriosum war nicht mehr da. Nur eine riesige, begehbare Uhr.“
Ingo hob Sophias Füßchen vor den Mund, klaute eine Socke und tat dann so, als würde er in den dicken Zeh beißen. Das Kind gluckste und kicherte vor purem Glück, obwohl es sich nicht zu hundert Prozent sicher war, ob nach dem lustigen Spiel tatsächlich noch alle Gliedmaßen an ihrem Körper dran sein würden. „Wie kommt man denn auf sowas?“
„Pffft“, machte Beatrice. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, dass … nun … Irgendwie ist ja der Uhrmacher Schuld daran, dass ich wieder schreiben will. Der Typ hat was Seltsames an sich. Wie Quirinus damals. Nur anders.“
Ingo ließ das Füßchen los. Sophia wirkte enttäuscht. Da Papa keine weiteren Anstalten machte, ihre Füße zu verspeisen, nutzte sie die Gelegenheit, die Zehen nachzuzählen. Mit dem Zeigefinger tippte sie sie mehr oder weniger der Reihenfolge nach ab und ihr Stimmchen flüsterte: „Ains. Aaains. Aiiins. Aaains. Viele.“
„Wie Quirinus?“ Ingo schürzte die Lippen. Sein anschließendes Schweigen dauerte einen Tick zu lang. „Was hältst du davon, wenn ich mit Sophia einen Ausflug mache? In den Zoo …“ Er schaute seine Tochter an. „Hast du Lust, Elefanten und Krokodile anzuschauen?“
„Eledile?“ Darüber ließ sich verhandeln. „Eledile?“
„Kamele und Giraffen“, ergänzte Ingo sein Angebot.
„Ga!“ Das war die einzig richtige Antwort, die Sophia in ihrer Begeisterung geben konnte.
„Und ich?“, fragte Beatrice verwirrt.
„Recherche! Du solltest Recherche betreiben“, ordnete Ingo an. „Es wäre sicher von Nutzen, wenn du über diesen ominösen Uhrmacher etwas herausfindest.“
Der Morgen hatte verlernt, dem Licht die Farben zu geben. Der Nebel hatte sich nicht verzogen. Zu Fuß hatte Beatrice sich auf den Weg gemacht. Eine Busfahrt war nicht das Rechte, um den Kopf frei zu bekommen. „Recherche“, schnaubte sie. Ingo hatte leicht reden. Dieser Nemo war an einem Sonntag wohl kaum in seinem Laden. Normale Menschen genossen ihr Wochenende mit der eigenen Familie im Zoo. Oder sonst wo. Wahrscheinlich wäre Beatrice dem Uhrmacher viel eher am Erdmännchen-Gehege begegnet, als in dem blöden Laden mit der albernen, gestreiften Markise.
Was sollte sie machen, wenn sie vor der abgesperrten Tür stand? Nun … Mit etwas Glück hing eventuell schon das kleine Schildchen mit den Angaben zum Ladeninhaber im Schaufenster. Mit Vor- und Zunamen ließen sich im Internet möglicherweise Herkunft und Lebenslauf herausfinden. Ja, das könnte ein Anfang sein. Wenn es was über Nemo herauszufinden gab, wäre das ein guter Ansatz.
Auf dem Bürgersteig kam ihr ein Fußgänger entgegen. Er bemerkte Beatrice nicht und wäre sie ihm nicht ausgewichen, hätte er sie glatt angerempelt.
„Arschloch.“ Es tat gut, sich Luft zu machen, obwohl sich ihr Groll gar nicht so sehr gegen den Mann richtete.
„Na, na“, ermahnte sie eine Stimme neben ihr. Sie sah zunächst niemanden, doch dann trat eine stattliche Gestalt aus dem Dunst.
„Nemo?“, fragte Beatrice verblüfft.
„Guten Tag, Frau Liber“, sagte der Mann freundlich. „Haben Sie das Wetter bestellt? Es ist geradezu belletristisch. Man könnte meinen, wir wären in London und Sherlock Holmes käme jeden Augenblick um die Ecke.“
Smalltalk übers Wetter! Na toll. Beatrice entging nicht, dass ihr Gegenüber rhetorisch direkt auf Literatur einschwenkte. Ob das nur der Tatsache geschuldet war, dass sie Buchhändlerin war?
Da sie ja höflicherweise etwas erwidern musste, ging sie auf seine Vorlage ein: „Solange mir hier nicht Jack the Ripper über den Weg läuft …“
„Es sind nur wenige Leute unterwegs“, stellte Nemo fest und deutete vage dem Mann hinterher, der aber längst wieder im Nebel verschwunden war.
„Nur ein paar militante Fußgänger, die sich den Zorn einer eigentlich wohlerzogenen Dame zuziehen.“
„Ja.“ Bea lächelte verlegen. „Der Idi- ähm …“
„Idiot?“
„Der Mann hätte“, sagte Beatrice lahm, „aufpassen können.“ Rechtfertigte sie sich gerade?
„Bei so schlechten Sichtverhältnissen – bestimmt.“ Nemo zwinkerte. „Wo möchten Sie denn hin? Ich habe etwas Zeit übrig und könnte auf Sie Acht geben, damit Ihnen weitere Zusammenstöße erspart bleiben.“
Beatrice konnte ja kaum sagen, dass sie eigentlich gedacht hatte, zu ihm zu gehen, um ihm nachzuspionieren. Deshalb sagte sie das Naheliegendste. „Ich gehe ins Antiquariat.“ Und da König Zufall es ja so überdeutlich anregte, auf diese Art mehr über Nemo zu erfahren, improvisierte Beatrice rasch. „Es wäre wirklich toll, wenn Sie mich begleiten würden.“
Nemo erwies sich als besonders redegewandt. Die Strecke bis zum Laden erfüllte er mit Anekdoten über Gott und die Welt. Zum Tagesgeschehen in den Medien wusste er ebenso viel zu berichten, wie über Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft. Beatrice hörte ihm geduldig zu. Aber auf Informationen über ihn wartete sie vergebens. So extrovertiert er sich auch präsentierte, seine Person ließ er vollkommen aus.
Sie erreichten schließlich ihr Antiquariat. Nemo verstummte jäh und sah mitleidig zu, wie sie aufschloss.
„Wenn Sie hier neu anfangen möchten, muss wohl als Allererstes eine neue Tür eingesetzt werden.“
„Meinen Laden neu eröffnen? Daran ist nicht zu denken! Ich will nur in den Keller. Für größere Investitionen fehlt es mir an …“
Nemo unterbrach sie, indem er die Hand hob. „Ich könnte mich um die Tür kümmern.“
„Sie? Sind Sie denn auch Schreiner oder Zimmermann?“
Ein Schmunzeln umspielte Nemos Lippen. „Uhrmacher. Automationen aller Art.“ Er schlug die Hacken spielerisch zusammen und mimte den zuvorkommenden Gentleman, indem er zusätzlich noch eine Verbeugung andeutete. „Eine elektrische Schiebetür im dezenten, nostalgischen Design scheint mir für Ihr Haus eine gute Wahl zu sein.“
„Sowas kann ich mir unmöglich leisten.“
„Es wäre mir eine Ehre, Ihnen meine Dienste zur Geschäftsneueröffnung zu schenken. Wie ich schon sagte, empfinde ich es als äußerst wichtig, dass in dieser Straße ein Buchladen ist. Und eine Tür wäre doch ein wunderbarer Anfang.“
„Nun.“ Beatrice blieb unschlüssig. Sollte eine Neueröffnung tatsächlich möglich sein?
„Also abgemacht.“ Nemo richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schlug klatschend die Hände zusammen, rieb sie sich und inspizierte intensiv den Türrahmen, als wolle er gleich mit der Arbeit anfangen. „Werkzeug haben Sie keines hier?“
„N-nein.“
„Dachte ich mir. Sollen wir dann erst mal reingehen?“
Der Anblick war für Beatrice aufs Neue beklemmend. Die aschebedeckten Bücher, der schale Geruch in der Luft und die körperlose Anwesenheit des endgültigen Verfalls schnürten ihr die Kehle zu.
Ihr Begleiter reagierte vollkommen anders. „Was für ein schöner, vergessener Ort“, flüsterte Nemo. Andächtig ließ er seine Blicke schweifen. „So sieht es bei Ihnen also im Innern aus.“ Seine Finger glitten über das aufgeplatzte Holz des Verkaufstresens. Sie hinterließen vier Striche in der Asche. „Sie haben recht: Mit einem Eimer Farbe und einem Pinsel ist es hier nicht getan.“ Er griff in das angrenzende Regal und zog ein Buch heraus. „Panem“, sagte er, nachdem er den Schmutz vom Einband gepustet hatte. Im nächsten Moment zerbröselte ein Großteil des Papiers lautlos.
Beatrice zuckte resigniert mit den Schultern. „Diesem Ort ist seine Magie abhandengekommen.“
„Magie?“ Gründlich klopfte Nemo sich die Hände an seiner Hose ab. Doch kaum waren seine Hände halbwegs sauber, langte er wieder in das Regal, um sich eine angekokelte Ausgabe von „Fahrenheit 451“ herauszuziehen. Er blätterte ein wenig darin herum. Die Fäden der Bindung hielten die Seiten leidlich an ihren Plätzen, obwohl der Leim abplatzte. „Was ist schon Magie? Der Begriff wird leider immer verwendet, wenn der Mensch etwas beobachtet, das seinen Erfahrungshorizont übersteigt. Nehmen wir zum Beispiel Houdini, Moretti oder Copperfield. Sie waren keine Magier, die echte Magie beschworen. Nein! Sie spielten mit Physik, Chemie, mit Psychologie, dem Glauben der Menschen … und mit deren Phantasie. Der Großteil aller Zauberei findet im Kopf des Betrachters statt. Phantasie ist der Schlüssel zum Verstand.“ Er schlug das Buch zu, legte es vorsichtig neben die zugestaubte Kasse. Dann zückte er sein Portmonee und legte ihr ein paar Geldscheine hin. Er hatte tatsächlich die Absicht das Buch zu kaufen! „Sie denken vielleicht, dass die Neueröffnung Ihres Antiquariats ein Wunder braucht. Ich sage: Lassen Sie uns ein Wunder tun. Lassen Sie es zu, dann werden die Leute Magie sehen, während wir die Zauberei ganz profan mit Arbeit und Fleiß erschaffen.“
Die Veränderung war subtil. Beatrice spürte es mehr, als dass sie es sah. Sie dachte erst, dass die Luft im Antiquariat urplötzlich flimmerte, doch alsdann erkannte sie die feinen Staubfäden und Flusen, die nun winzig klein im Raum tanzten. Mit jedem Atemzug wurde ihre Choreographie schneller.
„Magie“, entfuhr es ihr und sie glaubte zu verstehen, was sich dahinter verbarg. Mit Nemos Ansichten hatten die Ihren nichts gemein. Jedoch verzichtete sie darauf, ihm dies mitzuteilen.
„Ja“, sagte Nemo begeistert. „Ich möchte Ihnen helfen, das Antiquariat wiederzubeleben. Sagen Sie mir, was ich tun kann und ich werde es tun.“
Um ein Haar hätte Beatrice „Sprengen und neu bauen“ gesagt. Sie bekam ihren Zynismus gerade so noch unter Kontrolle. „Kehren?“ Das war nicht unbedingt besser.
Nemo grinste. „Gute Idee. Und danach überprüfe ich die Mechanik dieser wundervollen Kasse. Dieser Typ wird schon seit Jahrzehnten nicht mehr produziert. Ein wahres Schmuckstück.“ Er tätschelte liebevoll das Anker-Emblem auf der Vorderseite. „Mit Handkurbel. Das ist selten geworden.“
„Sowas können Sie reparieren?“
„Ist die Quersumme von 2048 gleich vierzehn?“
„Ja?“ Beatrice wollte vermeiden das nachzurechnen. Gleichzeitig kam ihr aber eine Idee. „Wenn Sie so etwas reparieren können …“
„Null Problem“, unterbrach Nemo. „Niemand kann es besser!“ Diese Formulierung klang etwas sperrig. Die Betonung des Wörtchens „niemand“ klang nicht wie ein Platzhalter für eine unbekannte Person.
„Das ist keine anspruchsvolle Herausforderung.“
„Wenn Sie so etwas reparieren können“, setzte Beatrice nochmals an, „dann könnte ich mir vorstellen, dass ich tatsächlich eine besondere Herausforderung für Ihr Können habe.“
„Sie machen mich neugierig.“
„In den Keller, mit dem gesamten – äh – Warenbestand, kommt man nur über die Kellertreppe. Um dahin zu kommen, muss man aber einen gewissen Hebel ziehen.“ Beatrice führte den Uhrmacher in das Arbeitszimmer, geradewegs zum Maschinentelegraphen.
Die Reaktion des Mannes hätte heftiger nicht ausfallen können. Euphorie war vermutlich das einzige Wort, das man verwenden durfte, um annähernd Nemos Gefühle zu beschreiben. Trotzdem fiel Beatrice auf, dass er nicht ob der ungewöhnlichen Beschriftungen der Schaltflächen erstaunt war. Überhaupt: Ein Maschinentelegraph in einem Buchladen schien das Normalste der Welt zu sein. „Was für eine wundervolle Arbeit. Schwarze, gravierte Täfelchen hinter Glas. Und diese Messingarbeit! Polierte Holzgriffe!“ Er wischte mit dem Ärmel den Schmutz ab. „Eigentlich in einem hervorragenden Zustand.“
„Lässt sich aber nicht bewegen“, stellte Beatrice fest.
„Einrasten“, belehrte Nemo begeistert. „Man spricht in diesem Fall vom Einrasten. Weil die Arretierung eine Raste ist.“
„Ach?“
„Ja!“ Nemo sah Beatrice’ Gesichtsausdruck, räusperte sich und beschloss eine mögliche Unterrichtung zum Thema Bolzen und Sperrvorrichtungen ausfallen zu lassen. Er griff lieber nach dem Hebel und ließ eindrucksvoll die Muskeln unter seinen Hemdsärmeln spielen. Laut knackend gab die Apparatur seiner Kraft nach. Nemo stellte sie auf die Stellung „iNet“ und wartete darauf, was geschah.
Es geschah …
„Nichts“, bemerkte Beatrice. Ihre Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Wenn das so einfach ginge, hätten Sie einen Bodybuilder und keinen Uhrmacher gebraucht. Diese Automation braucht aber einen Fachmann.“ Nemo zeigte, während er sprach, mit dem Daumen auf sich. Erst danach kam er zu der offensichtlich wichtigsten Frage: „Was hätte denn passieren sollen?“
„Im Boden eingelassen ist ein …“ Beatrice zögerte. Die Wahrheit würde ihr doch niemand glauben. „… ein Computer“, untertrieb sie schließlich, froh den Satz erfolgreich beendet zu haben. „Auf einer Hebebühne“, ergänzte sie, um sich den tatsächlichen Gegebenheiten anzunähern.
„Eine merkwürdige Methode, Platz zu schaffen“, kommentierte Nemo.
„Dem Vorbesitzer des Ladens war die Peripherie zu groß. Sie wissen schon: Drucker, Plotter, Monitor und so.“ Beatrice verschwieg, was sich alles hinter dem erwähnten „und so“ verbarg.
„Hm“, machte Nemo. „Dann sollte ich wohl Werkzeug holen.“ Er ging einige Schritte Richtung Ausgang. Unvermittelt bückte er sich und hob ein paar Blätter Papier auf. Nachdenklich betrachtete er sie. „Buchland?“ Sein Blick streifte den Namen über dem Titel. „Ich glaube, das gehört Ihnen.“
„Ist Müll“, antwortete Beatrice lapidar. Dennoch spürte sie beim Anblick der zerfledderten Seiten wieder den Kloß im Hals. „Ich kann mir jederzeit eins von der Verlagshomepage runterladen.“
„Als E-Book?“ Nemo rümpfte die Nase. „Ich denke, manche Bücher sollte man besitzen. Papier hat einen eigenen Zauber, den Elektronen nicht tragen können.“
„Ich kannte mal jemanden, der hätte das Gleiche behauptet.“
„Ja?“ Nemo reichte Bea die Blätter und die Überreste des Einbands. „Wer war das?“
„Mein Ex-Chef, Herr Plana“, erklärte Beatrice. Unbewusst begann sie damit, die losen Seiten ordentlich zusammenzuschieben. „Er sah sich als einen speziellen Buchfreund.“
„Scheint ein guter Mann zu sein, Ihr Ex-Chef“, vermutete Nemo. „Bücher brauchen zuweilen jemanden, der ihre Seelen erkennt. Einen Freund. Einen Hirten.“ Er deutet auf die sie umgebenden Regale. „Elektronen sind nicht greifbar. Sie geben alles zu schnell dem Vergessen preis.“ Nemo zeigte auf das kaputte Buch. „Ihr Buch verliert allerdings vermutlich auch gerade sein Gedächtnis. Wie die anderen Bücher hier.
Sie müssen dafür sorgen, dass die Bücher nicht vergessen, wer sie sind, sonst sind sie nur noch bedrucktes Papier, gepresster Zellstoff. Sie sind aber viel mehr: eine Ausgeburt des Geistes. Über ihre Buchstaben müssen Blicke streicheln und ein Zeigefinger sollte den Zeilen folgen.
Deshalb möchte ich Ihnen helfen. Sie sehen mir aus, als könnten Sie besagter Buchfreund sein.“
Beatrice verschränkte argwöhnisch die Arme vor der Brust. „Meinen Sie ein Auktoral?“
„Auktoral?“ Nemo schmeckte das Wort sorgsam ab. „Den Ausdruck kenne ich nicht. Aber Ihre Bücher … Die könnten bestimmt einen … Auktoral brauchen. Menschen sind manchmal wie Bücher. Auch sie müssen einstweilen gesagt bekommen, was sie sind. Sie sollten so jemand sein. Der Laden braucht einen Auktoral. Finden Sie nicht?“
„Dieser Laden braucht einen Container.“
„Er braucht neue Bücher.“
„Die wären im Keller“, schnappte Beatrice. Die Wut, die in ihr aufkeimte, war kaum zu bändigen. „Da kommt keiner mehr dran.“
Nemo kratzte sich am Hinterkopf. Wie bei einem Hund, der glücklich darüber ist, die juckende Stelle gefunden zu haben, hoben sich dabei seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. „Abwarten. Sie unterschätzen meine Fähigkeiten. Ich kann auf meine ganz eigene Art wahre Wunder vollbringen.“