Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 5
ОглавлениеDie Morgensonne stahl sich durch das Blattwerk der Bäume. Ringsum zwitscherten die Vögel. Weiter entfernt kreischten Affen in den Wipfeln. Mäxchen, das kleine Seidenäffchen, wäre am liebsten gleich losgestürmt, um mit seinen unbekannten Verwandten zu toben. Anouk erwischte das Tier gerade noch am Schwanz.
»Hiergeblieben, mein Lieber! Für dich ist es im Dschungel viel zu gefährlich!«
Mäxchen beschwerte sich schnatternd.
Laura öffnete die Augen. Ein Mückenstich auf der Stirn juckte unerträglich. Langsam richtete sie sich auf. Ihr Mund war trocken und fühlte sich verquollen an, ebenso wie die Augen. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück.
Sie befanden sich im Dschungel der magischen Welt des achten Tages. Olivia und sie waren durch einen Riss zwischen den Welten von der Terrasse ihres Vaters hierherkatapultiert worden – in eine Wildnis, in der gefährliche Tiere und nicht minder gefährliche Pflanzen existierten. Dort waren sie auf Magister Horatius gestoßen. Der Alte hatte sich im Dschungel verirrt und war völlig hilflos. Zum Glück hatten sie Max Schirmer getroffen, der ihnen geholfen hatte, obwohl er für die Firma TEMP arbeitete.
Laura stöhnte leise. TEMP! Die Firma war der gefährlichste Gegner der magischen Welt. Magister Horatius hatte das Geheimnis der Zeit geknackt und diese Welt geschaffen, und jetzt drohte sein Wissen in die falschen Hände zu geraten. Die Leute von TEMP hatten bereits das Schloss der Ewigkeit gestürmt … Laura presste die Hände gegen die Schläfen. Hatten sie überhaupt eine Chance gegen TEMP?
Eine Hand packte sie am Arm. Laura zuckte zusammen und blickte zur Seite. Merle kniete neben ihr.
»Max ist weg«, sagte sie knapp.
Laura runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich daran, dass ihr sein Fehlen während der Nacht ebenfalls aufgefallen war. Zunächst hatte sie gedacht, er hätte den Unterschlupf nur verlassen, weil er pinkeln musste.
»Du meinst … er ist ganz weg?«
Merle nickte. »Scheint so.« Sie streichelte nervös Brutus, ihre weiße Ratte, die auf ihrer Schulter herumkletterte.
»Vielleicht hat er sich verirrt«, murmelte Laura.
»Max? Der Fährten lesen kann? Der Einzige von uns, der weiß, wie man im Dschungel überlebt?« Merle schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«
In Lauras Kopf stiegen Schreckensbilder auf. Max, der im Sumpf gegen ein riesiges Krokodil kämpfte. Das aufgerissene Maul des Reptils. Die spitzen Zähne. Und der junge Mann dazwischen …
»Denkst du, er ist … tot?«, fragte Laura tonlos.
Merle schwieg und hob die Schultern.
Laura wollte aller Mut verlassen. Max war eine wertvolle Stütze gewesen. Er hatte Magister Horatius die meiste Zeit auf dem Rücken getragen, weil der Alte zu schwach war, um zu laufen.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, meinte Merle. »Vielleicht hat er seine Kumpel von TEMP getroffen.«
Trotz der Schwüle, die im Dschungel herrschte, durchfuhr es Laura eiskalt. Max ein Verräter? Es hatte doch so ausgesehen, als stünde er auf ihrer Seite!
Merle reichte ihr eine Wasserflasche. »Hier, trink!«
Laura nahm einen großen Schluck. Wenn Merle mit ihrer Vermutung recht hatte, wem konnten sie dann noch vertrauen? Wer war Freund, wer Feind? Lauras Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sich ärgerlich über die Augen. Nein, sie würde jetzt nicht heulen. Das brachte sie kein Stück weiter. Was sie brauchten, war ein vernünftiger Plan.
»Wir müssen zum Schloss«, sagte sie.
Merle nahm ihr die Flasche ab. »Genau das haben wir vor. Magistra Elisa hat uns losgeschickt, um euch zu holen. Und wir haben euch gefunden. Mission erfüllt. Jetzt geht es zurück. Mit Max oder ohne ihn.«
Laura schüttelte den Kopf. »Du weißt noch nicht alles, fürchte ich.«
Merle sah sie fragend an.
»Die Leute von TEMP sind bereits im Schloss«, sagte Laura.
»Woher weißt du das?« Merle war verwundert.
»Von Elias, meinem Bruder«, antwortete Laura. »Er ist im Schloss, zusammen mit meinem Vater.« Alles war so verwirrend. »Elias … hat mit mir geredet. In Gedanken.« Sie tippte sich an den Kopf. »Er … er hat ebenfalls eine besondere Gabe.«
»Ooookay«, sagte Merle gedehnt, so als müsste sie die Nachricht erst einmal verdauen. »Das ändert natürlich die Situation.«
Laura nickte. Sie hatte keine Ahnung, wie viele TEMP-Leute sich im Schloss befanden. Elias hatte nur von einem Mann mit einem Gewehr gesprochen, den er vom Raum der Ewigkeit aus gesehen hatte. Aber bestimmt war dieser Mann nicht allein gekommen. Wenn TEMP einen Zugang zu der magischen Welt gefunden hatte, war Bernd Asshoff sicher auch dabei. Und vermutlich noch ein paar andere.
Übelkeit stieg in Laura hoch. Sie fühlte sich überfordert. Die Gefahr war mit so einer Schnelligkeit gekommen, damit hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich hätten sie und die anderen Schüler im Schloss der Ewigkeit lernen sollen, mit ihren besonderen Talenten zurechtzukommen, doch jetzt blieb keine Zeit mehr dafür. Das Gedankenlesen war für Laura noch ganz neu. Merle, die die Gabe des Gedeihens und des Verderbens besaß, erging es wohl ähnlich.
»Haben wir überhaupt eine Chance gegen die Leute von TEMP?«, flüsterte Laura.
»Natürlich.« Merle zog sie hoch. »Nur wer aufgibt, hat bereits verloren. Und wir geben nicht auf. Wir lassen nicht zu, dass TEMP diese Welt beherrscht.« Sie grinste schief.
Laura grinste zurück. Merles Zuversicht machte ihr Mut.
Inzwischen waren auch Severin, Olivia und Rufus wach geworden. Nur Magister Horatius schlief noch und schnarchte mit leicht geöffnetem Mund.
»Gibt’s Frühstück?«, fragte Olivia und strahlte Severin an.
»Nur das, was noch von gestern übrig ist«, erwiderte dieser, öffnete seinen Rucksack und fing an, die restlichen Nahrungsmittel auf dem Boden auszubreiten.
Laura hielt unterdessen Ausschau nach Max. Sie ging um den Unterstand herum und suchte den Boden nach Fußspuren ab. Doch der Pflanzenteppich hatte sich bereits geschlossen. Die Blätter und Stängel schienen höhnisch zu wippen. Kein Zweifel, Max war fort.
Laura schloss die Augen und konzentrierte sich. Vielleicht konnte sie wieder Gedanken auffangen. Was war mit Elias? Befand er sich immer noch mit ihrem Vater im Raum der Ewigkeit? Inzwischen waren etliche Stunden vergangen. Waren die beiden gefangen genommen worden?
In ihrem Kopf blieb es still. Laura konnte nur ihre eigenen Gedanken wahrnehmen. Enttäuscht schob sie die Unterlippe vor. Was konnte sie mit einer Fähigkeit anfangen, die sie immer im Stich ließ, wenn es darauf ankam?
»Kommst du?«, fragte Severin. Er war hinter sie getreten. »Oder willst du kein Frühstück?«
»Doch, aber …« Sie sah ihn an.
»Mach dir keine zu großen Sorgen«, sagte er zu ihr.
»Aber mein Vater und Elias«, sagte Laura. »Sie sind im Raum der Ewigkeit …«
»Deine Mutter ist schließlich auch noch da«, meinte Severin. »Wenn jemand weiß, was zu tun ist, dann sie.«
Laura war jetzt komplett verwirrt. »Meine Mutter? Sie ist hier?«
»Oder soll ich besser Magistra Elisa sagen?« Severin lachte und erzählte Laura alles, was er erfahren hatte.
Es verschlug Laura die Sprache. Natürlich war ihr die äußere Ähnlichkeit zwischen ihrer Mutter und Magistra Elisa aufgefallen. Aber es waren zwei komplett unterschiedliche Charaktere. Valerie Lilienstedt war karrierebewusst, zielstrebig und liebte die neuste Technik. Magistra Elisa dagegen war eher mütterlich, behutsam und hatte viel Verständnis für ihre Schülerinnen. Und die beiden Frauen sollten ein und dieselbe Person sein?
Laura schüttelte den Kopf. »Ich glaube es einfach nicht!« Welches furchtbare Spiel hatte ihre Mutter die ganze Zeit gespielt?
»Deine Eltern tun alles, um die magische Welt vor TEMP zu schützen«, sagte Severin. »Deswegen arbeitet deine Mutter in dieser Firma. Und sie hat sich mit Asshoff angefreundet, um ihn besser zu kontrollieren.«
»Das bedeutet … Papa weiß Bescheid?« Laura konnte es nicht fassen. »Und er hat mitgemacht?« Ihre Gedanken waren ein einzige Chaos. Wie oft hatten sich ihre Eltern in der Vergangenheit gestritten! Dann hatten sie sich getrennt, worunter Laura und Elias sehr gelitten hatten. Und jetzt … Hieß das, dass ihre Eltern in Wirklichkeit immer noch zusammen waren? Laura hatte das Gefühl, dass ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde. Empörung, Wut und Freude wechselten einander ab. Die Eltern hatten sie getäuscht! Was für ein gigantischer Betrug! Würde Laura ihnen je wieder vertrauen können? Andererseits … dann war ihre Mutter gar nicht richtig mit Bernd Asshoff zusammen, sondern ihre Eltern liebten sich noch …
Die Tränen liefen Laura übers Gesicht. Alles war zu viel für sie. Sie lehnte sich gegen Severin. Er nahm sie in die Arme.
»Alles wird gut, Laura.« Sein Mund war ganz nah an ihrem Ohr. »Deine Eltern werden dir bestimmt alles erklären, wenn … wenn das hier erst vorbei ist.« Er löste sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Jetzt komm, sonst futtern die anderen alles auf!«
Ich kann bestimmt keinen Bissen essen, dachte Laura, als sie sich zu der Gruppe setzte, die im Halbkreis kauerte.
Auch Magister Horatius war inzwischen wach. Sein Blick war an diesem Morgen klar. Merle half dem Alten, sich aufzusetzen.
»Wo bin ich? Was ist geschehen?«, fragte er und sah sich um.
»Wir haben Sie mitten im Dschungel gefunden«, antwortete Olivia eifrig. »Zum Glück! So ganz allein wären Sie verloren gewesen. Bestimmt wären Sie bald verhungert oder verdurstet!«
»Ich muss zurück ins Schloss«, sagte der Alte und wollte aufstehen. »Es ist wichtig!«
Merle drückte ihn zurück. »Wir gehen gleich alle zusammen.«
»Meine Welt … sie ist in höchster Gefahr«, stammelte Magister Horatius. »Wenn ich nur den richtigen Schlüssel hätte! Durch ihn würde meine Welt wieder stabil werden. So aber muss ich damit rechnen, dass über kurz oder lang alles zusammenbricht.« Verzweiflung spiegelte sich auf seinem Gesicht.
Für Laura war die Welt bereits zusammengestürzt – ihre Welt. Noch immer war sie fassungslos darüber, wie sehr sich ihre Eltern verstellt hatten. Sie hatte so sehr gelitten, als sich ihr Vater und ihre Mutter getrennt hatten. Immer wieder hatte sie die Schuld bei sich gesucht. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie alles falsch gemacht hatte. Schließlich war sie überzeugt gewesen, dass es an ihrer Eifersucht auf Elias lag. Jedenfalls zum größten Teil. Ihre Mutter hatte ja oft genug erwähnt, dass Peter Lilienstedt in ihren Augen ein hoffnungsloser Träumer war.
Gedankenverloren knabberte Laura an einem Stück Brot, ohne überhaupt zu merken, was sie aß. Sie hörte kaum zu, worüber sich die anderen unterhielten. Auch die Geräusche des Dschungels nahm sie nicht wahr. Sie wurde erst aus ihren Gedanken gerissen, als alle um sie herum verstummten.
»Was ist los?«, fragte Laura verwirrt und blickte in die Runde.
Panik und Schrecken zeigten sich auf den Gesichtern der anderen. Severin und Olivia starrten auf etwas, das sich hinter Laura befand.
Laura wandte den Kopf.
Max Schirmer stand da, links und rechts flankiert von zwei Männern in weißen Overalls. Alle drei hatten Waffen auf die Gruppe gerichtet.