Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 6
ОглавлениеLaura nahm sich vor, niemandem mehr zu trauen. Max war so nett gewesen und hatte ihnen geholfen. Und jetzt das!
Sie stolperte hinter den anderen her. Vor ihr ging Olivia, die sich immer wieder nach Laura umdrehte. Ihr Gesicht war ganz verheult.
Rufus dagegen ließ sich nichts anmerken. Er schritt so gleichmütig durch den Dschungel, als würde er sich auf einer Wanderung befinden. Severin versuchte ebenfalls, cool zu wirken, aber Laura kannte ihn inzwischen gut genug, um zu erkennen, wie aufgewühlt er in Wirklichkeit war. Anouk war richtig zornig, und auch Merle bedachte die Männer immer wieder mit feindseligen Blicken.
Max und einer der neuen Männer hatten Magister Horatius untergehakt und zerrten ihn vorwärts. Der dritte Mann lief mit seiner Waffe nebenher, bereit, sofort zu schießen, falls es einem der Jugendlichen einfallen sollte, aus der Gruppe auszubrechen.
»Was haben Sie mit uns vor?«, fragte Anouk, als sie eine kurze Rast einlegten, um etwas zu trinken.
»Das werden wir sehen«, antwortete Max. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Laura bemerkte, dass er ihrem Blick auswich. Ob er sich für seinen Verrat schämte? Aber vermutlich hatten die Leute von TEMP längst kein Gewissen mehr. Um ihr Ziel zu erreichen, würden sie bestimmt über Leichen gehen.
»Kannst du nichts tun?«, flüsterte Laura Merle zu, als diese ihr die Wasserflasche reichte.
Merle schnitt nur eine Grimasse, die Laura nicht deuten konnte. Hieß das jetzt: »Tut mir leid, ich bin machtlos!« oder »Ich warte auf den richtigen Augenblick!«?
Wozu haben wir unsere Fähigkeiten?, dachte Laura verbittert. Es war lächerlich, darauf zu hoffen, dass sie damit die magische Welt beschützen konnten! Laura konnte zwar manchmal Gedanken lesen, aber sie beherrschte ihre Gabe längst nicht perfekt. Sonst hätte sie ja gewusst, was in den Köpfen der TEMP-Männer vor sich ging.
Dieser verdammte Dschungel! Ich wünschte, ich hätte mich nicht für die Mission gemeldet …
Laura schüttelte den Kopf. Nein, das waren ganz sicher nicht die Gedanken von einem der Männer. Die Sätze entsprangen ihrer Fantasie, waren reines Wunschdenken.
Plötzlich stolperte der Mann, der das Gewehr trug, und stürzte. Im Fallen löste sich ein Schuss. Die Kugel ging zwar ins Leere, aber der Knall ließ sie alle zusammenfahren.
Anouks Seidenäffchen Mäxchen kreischte laut und flüchtete in einen Baumwipfel. Jonathan, Severins Flughund, flatterte ebenfalls auf und flog orientierungslos herum, bis er Max ins Gesicht klatschte. Max fluchte und setzte Magister Horatius ab, der sofort auf den Boden sank.
Der Gestürzte kam mühsam wieder auf die Füße. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»Hast du dich verletzt, Lars?«, fragte der dritte Mann, während Max immer noch den Flughund abwehrte.
»Geht schon«, antwortete Lars.
Laura sah zu Merle und entdeckte in deren Augen ein schadenfrohes Funkeln. Merle bemerkte Lauras Blick und zwinkerte ihr zu.
War Merle etwa für den Sturz des Mannes verantwortlich?
Lars rieb sich das Knie und ging einige Schritte, um das Gewehr aufzuheben, das er fallen gelassen hatte. Er humpelte deutlich.
Severin war zu Max getreten und hatte Jonathan eingefangen, der immer noch völlig verschreckt war.
»Tut mir leid«, sagte Severin zu Max. »Bei dem Knall ist er einfach durchgedreht.« Er presste Jonathan an seine Brust, um ihn zu beruhigen.
Max nickte geistesabwesend. Sein Blick ruhte auf Lars, der sichtlich gehandicapt war.
»Wo hast du Schmerzen?«
»Ach, die alte Fußballverletzung macht wieder mal Ärger«, sagte Lars. »Ich hatte jahrelang Ruhe, aber jetzt plötzlich …« Er beendete den Satz nicht, da er offenbar von einer neuen Schmerzattacke heimgesucht wurde.
Sie machten Pause. Max bandagierte das Knie seines Kollegen, während Anouk versuchte, Mäxchen von einem Baum herunterzulocken. Endlich bequemte sich das Äffchen herab und sprang wieder auf Anouks Schulter.
Lars hatte inzwischen zwei Schmerztabletten geschluckt, und sie konnten den Marsch fortsetzen.
Trotz der Tabletten war Lars in seiner Beweglichkeit deutlich eingeschränkt. Immer wieder blieb er stehen, um sein Bein zu entlasten. Schließlich brach der dritte Mann einen starken Ast ab, den Lars als Gehstock benutzen sollte.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dieses Ding verwende!«, schnaubte Lars verächtlich. »Mit einer Hand kann ich das Gewehr nicht benutzen.«
»Die Kids laufen uns schon nicht weg«, meinte Max. »Und es ist besser, du nimmst den Stock, denn Kain und ich können dich nicht auch noch tragen.«
Lars warf den Jugendlichen einen hasserfüllten Blick zu. Dann griff er nach dem Stock, den Kain ihm reichte, und machte probeweise ein paar Schritte.
»Besser?«, fragte Max.
»Ein bisschen.«
Sie gingen weiter. Anouk gesellte sich zu Laura.
»Meinst du, es macht Sinn, wenn wir den Männern davonrennen?«, fragte sie flüsternd und warf einen prüfenden Blick über die Schulter.
»Sie haben dann immer noch Magister Horatius«, antwortete Laura ebenso leise. »Und sie werden versuchen, alle Geheimnisse aus ihm herauszupressen. Vielleicht sogar mit Gewalt.«
Anouk nickte. »Stimmt. Ein Fluchtversuch bringt nichts.«
Jetzt kam auch Merle hinzu. »Kain ist ein hoffnungsloser Fall«, knurrte sie. »Er müsste eigentlich höllische Kopfschmerzen haben, aber man merkt ihm gar nichts an. Ich fürchte, bei ihm versagt meine Kunst.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich könnte versuchen, Max einen Kreislaufkollaps zu verpassen. Aber er ist noch der Vernünftigste der drei, und ich weiß nicht, wie die anderen reagieren, wenn er ausfällt.«
»Keine gute Idee«, sagte Laura. »Außerdem trägt er Magister Horatius zurück ins Schloss. Hier im Dschungel ist der alte Mann verloren.«
»Severin und Rufus könnten ihn schleppen«, schlug Anouk vor.
»Kain schießt bestimmt mit dem Gewehr«, wandte Laura ein.
»Okay, okay, ich lasse Max ja in Ruhe.« Merle seufzte. »Trotzdem habe ich keine Lust, nach deren Pfeife zu tanzen. Wir können ihnen diese Welt nicht einfach überlassen. Sie würden sie vernichten.«
Laura nickte nur. In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft, doch ihre Gedanken kamen zu keinem Ergebnis. Mutlos trottete sie hinter den anderen her. Sie bemerkte mit einigem Unbehagen, wie Olivia immer wieder Severins Nähe suchte. Sie strahlte ihn an, so als wäre er der Einzige, der sie alle aus dieser gefährlichen Situation befreien konnte.
Nach endlosen Stunden lichtete sich der Dschungel. In der Ferne tauchten die Mauern des Schlosses der Ewigkeit auf – wie eine uneinnehmbare Festung. Lauras Herz machte automatisch einen Hüpfer, doch dann erinnerte sie sich daran, dass die Leute von TEMP längst in das Gebäude eingedrungen waren. Was geschah dort drinnen? Was war mit ihren Eltern, mit ihrem Bruder? Fast schlagartig verpuffte all ihre Kraft; Angst und Verzweiflung lähmten ihren Körper. Sie stolperte und konnte sich im letzten Moment fangen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Anouk besorgt.
Laura schüttelte den Kopf. »Nichts ist in Ordnung. Gar nichts.«
Max und Kain setzten Magister Horatius im Gras ab.
»Na, Alterchen, kommt dir das Schloss dort bekannt vor?«, stichelte Kain, während Magister Horatius gierig die letzten Tropfen aus der Wasserflasche saugte. »Dein Werk. Genau wie der Dschungel und dieser dunkle See dort vorne. Noch ein paar Schritte, dann bist du zu Hause und kannst uns in aller Seelenruhe in deine Geheimnisse einweihen.«
Der Alte stöhnte laut und blickte Kain an. »Ich glaube nicht, dass mein Geheimnis bei euch in sicheren Händen ist«, stieß er hervor. »Ich kann nichts dafür, dass ich an manchen Tagen alles vergesse und nicht mehr weiß, wer ich bin.« Er zog zornig die Augenbrauen zusammen. »Ich wünschte aber, heute wäre so ein Tag! Wer nichts weiß, kann auch nichts verraten.«
Kain stieß ihm grob den Lauf seines Gewehrs in den Rücken, sodass er zur Seite kippte. »Halt die Schnauze, Alter!«
Olivia stürzte auf ihn zu und packte Kain am Arm. »Hören Sie sofort auf!«
Kain schleuderte sie mit einer Bewegung von sich weg, und Olivia landete auf dem Boden. Im Nu war sie wieder auf den Beinen.
»Ich hasse Sie!«, schrie sie. Ihre Augen glühten vor Zorn. »Sie sind ein Schwein!«
Kain lachte nur.
Olivia steckte sich die Finger in die Ohren und rannte los.
»Hiergeblieben!«, rief Max ihr nach.
Olivia reagierte nicht. Kain gab einen Warnschuss in die Luft ab. Olivia strauchelte vor Schreck, fing sich wieder und stürmte weiter. Direkt auf den See und die Brücke zu. Laura hörte entsetzt, wie die Brücke knarrte. Dann sah sie, wie die beiden Teile anfingen, zur Seite zu schwenken. Laura wusste, dass die Brücke nicht immer da war. Nur wenige Male am Tag schwenkten die beiden Teile vom jeweiligen Ufer über den See und trafen sich in der Mitte. Wenn man Pech hatte, musste man stundenlang warten, bis man den See überqueren konnte. Manchmal schwamm ein riesiger Schwan herbei und brachte einen ans andere Ufer. Laura hatte einmal so eine Überquerung per Schwan gemacht. Es gruselte sie jetzt noch, denn im tintenschwarzen Wasser des Sees tummelten sich Kreaturen, denen man lieber nicht begegnete.
»Bleib stehen!«, rief jetzt auch Laura ihrer Freundin hinterher. Sie hatte ihr von der Gefährlichkeit des Sees erzählt, aber würde sich Olivia in diesem Augenblick daran erinnern?
Olivia stockte einen Moment und beobachtete die Brücke, die inzwischen unpassierbar war. Sie drehte sich kurz nach den anderen um, dann lief sie entschlossen geradeaus weiter und auf den See zu.
»NEIN!«, brüllte Laura. »Nicht ins Wasser, Olivia!«
Während hinter ihr die Männer feixten, weil sie keine Ahnung von den Tücken des Sees hatten, stürzte Rufus los. Laura hielt den Atem an. Sie hatte noch nie einen Jungen gesehen, der so schnell rennen konnte wie er. Ein paar Sekunden lang hatte sie die Hoffnung, er würde Olivia noch rechtzeitig erreichen.
Doch Olivia war bereits im Wasser. Schritt für Schritt sank sie tiefer. Nur noch ihre Schultern und ihr Kopf waren zu sehen.
Rufus stob in den See. Das dunkle Wasser spritzte auf und hüllte ihn für einen Augenblick komplett ein. Dann wich er rückwärts zurück. Laura sah, wie haarige Arme aus dem See aufragten. Vielfingrige Hände streckten sich nach dem Jungen aus. Rufus schlug nach ihnen, machte einen großen Satz und erreichte das rettende Ufer. In seinem Gesicht stand das blanke Entsetzen. Die unheimlichen Klauen packten ein Büschel Schilf und zerrten daran. Sie rissen einige Pflanzen mit den Wurzeln aus, dann sanken die Arme zurück in den See.
»Olivia!«, schrie Laura voller Panik.
Ihre Freundin war nicht mehr zu sehen.