Читать книгу Bis Utopia - Marlon Thorjussen - Страница 5
Von Verträgen und Aufreißlaschen – 1. April, ca. 17:45
ОглавлениеUngefähr zehn Minuten, nachdem Peer Flint zu Boden gesunken war, erwachte er gefesselt in seiner Küche. Seine Beine waren an die vorderen Stuhlbeine seines Morgenkaffeestuhls gefesselt und seine Arme hinter der Lehne zusammen gebunden. Doch weder schmerzte ihm etwas, noch fühlte er sich unangenehm verrenkt. Das Fixieren seines Körpers schien von derselben Präzision wie das Ölen seiner Tür vonstatten gegangen zu sein.
Jene Tür erinnerte Peer daran, dass etwas gewaltig schief gelaufen sein musste und als er dann schließlich die Augen aufschlug und die zwei Rotschöpfe wieder erblickte, dämmerte es ihm schlagartig: Da waren zwei Männer in seiner Wohnung, die seltsame Augen hatten und ihn offensichtlich an seinen eigenen Stuhl gefesselt hatten.
„Entschuldige“, sagte einer der beiden. Peer erinnerte sich dunkel daran, das heute schon gehört zu haben. Er schaute die beiden nur irritiert an.
„Wir müssen dich erst einmal so belassen. Weil wir dir das, was wir dir alles zu sagen haben, besser sagen, wenn du uns“, fing der eine Rotschopf an, „nicht schlagen kannst“, vollendete der andere.
Peer verstand die Situation nicht.
In seinem Leben war eigentlich kein Platz für Ereignisse außerhalb der Norm. Er war das gewohnt, was man ein ruhiges Leben nennt. Er hatte ein gutes Elternhaus in einem Dorf in der Nähe genossen, hatte nach der Schule seine kaufmännische Ausbildung absolviert und kümmerte sich nun um den Einkauf eines recht großen Fachgeschäftes für Büroartikel. Er hatte ein paar wenige Frauen gehabt, mit denen er auch ein paar wenige durchschnittlich gute Beziehungen hatte. Alle Frauen hatten ihn nach ein paar Monaten oder Jahren wieder verlassen - Dramen gab es aber nie. Jetzt war er 32 Jahre alt, kinderlos und zufrieden. Nach der Arbeit erledigte er für gewöhnlich Einkäufe, fuhr selten zu seinen Eltern oder schaute fern. Ein paar Abende die Woche traf er sich mit seinen Freunden in der nahen Kneipe und tauschte Belanglosigkeiten aus. Er studierte die Nachrichten durchschnittlich intensiv, hatte dann und wann mal Wünsche, die er sich selten erfüllte und fand hier und dort Interesse an etwas. Mal waren es Tierdokumentationen und mal waren es Basteleien – was war er doch stolz auf seine selbst zusammen gepfriemelten Notizheftchen, deren Materialkosten und der Arbeitsaufwand, diese zu fertigen, in keiner Relation zum Kauf perfekt standartisierter, funktionaler Notizbüchlein stand! - und doch gab es auch innerhalb seiner manchmal wechselnden Laienfachgebiete nichts, was ihn ausgewiesen hätte.
Es war, als wäre seine gesamte Existenz darauf ausgelegt, möglichst wenig Eindruck auf andere zu hinterlassen und auch, weil er die nicht vorhandene Tragweite seines Seins niemals eingeschätzt hatte, gefiel ihm sein Leben doch insgesamt recht gut. Zwischen den wichtigen Dingen, die eine Bedeutung hatten, war eben Peer Flint - Großhandelskaufmann für Büroartikel, Single, 32 Jahre alt, durchaus lebendig, zufrieden mit den Dingen, die ihn ausmachten und die er sein Eigen nennen konnte. Für ihn spielten die wirklich großen Dinge dieser Welt kaum eine Rolle.
Insofern beruhten das Verneinen des Universums, aus Peers Existenz irgendwelche Konsequenzen abzuleiten und Peers generelle Überforderung damit, anzunehmen, dass diese großen Kriege, Schicksale, Romanzen und Selbstverwirklichungen, mit denen sich die meisten Menschen nur allzu gern beschäftigten, irgendetwas mit ihm zu tun haben könnten, auf Gegenseitigkeit.
Zu Peers Überraschung sollte sich sein Standpunkt dabei als falsch erweisen, während das Universum nicht von seiner Idee abzurücken plante, möglichst wenig Bezug zu einem Peer Flint herzustellen, der sich aufgrund der Verkettung von Ereignissen gefesselt in seiner eigenen Wohnung befand und darauf wartete, dass man ihm erklärte, wie es so weit kommen konnte.
Natürlich wusste das große Ganze die Gründe dafür und hatte deshalb die beiden jungen Männer so angerichtet, dass sie es ihm erklären konnten. Möglicherweise war es dem Universum dennoch egal, denn schließlich hatte es ja das sogenannte Schicksal voran geschickt, um Peer Flint die frohe Botschaft zu überbringen.
„Ich bin Melv“, stellte sich darum der eine vor.
„Und ich bin Ruben“, sagte der andere.
“Und ich wohne hier“, sagte Peer. Ihm fiel einfach nichts Besseres ein, als das Offensichtliche zu betonen. „Und ihr habt mich gefesselt. In meiner eigenen Wohnung. Nehmt, was ihr wollt! Nur lasst mich danach wieder frei, bitte!“
Ein Moment der Stille war die Quittung für Peers eher dürftigen Versuch des Verhandelns. Die Mundwinkel der beiden Rotschöpfe zuckten für einen Augenblick, dann lachten sie beides ein nervtötend schallendes Lachen.
„Das wollten wir dir ja gerade erklären. Also, wo fangen wir an?“, fragte Ruben. Offensichtlich ging die Frage an Melv, der schließlich antwortete: „Also, wir sind Ruben und Melv.“
„Zwillinge?“, warf Peer ein und fühlte sich klug dabei.
„Nein, Klone natürlich“, antwortete Melv so natürlich, wie man so etwas sagen konnte, wenn man es nicht anders gewohnt war. In Peers Hirn hingegen schaltete sich spontan der Teil ab, der dafür zuständig war, Dinge zu hinterfragen. Ein wenig fühlte er sich wie früher in der Kirche.
„Das ist Ruben, ich bin Melv und wir sind hier, weil wir dich für ganz wichtig halten. Eigentlich nicht wir. Also eigentlich nur gewissermaßen auch wir.“
„Aber eigentlich hält dich Doktor Chart für wichtig“, ergänzte Ruben.
„Ist ja auch egal. Oder?“, ergänzte Melv die Ergänzung seines Klons und sortierte in seinem Inneren den Plan, den die beiden für heute hatten.
Der andere Klon nickte und alles nahm seinen Lauf.
„Genau. Wo war ich? - Ach ja: Förmlichkeiten. Du bist doch Peer Flint, oder? Ansonsten wäre das jetzt sehr peinlich“, vergewisserte Melv sich, wenngleich er Fehler ausschloss.
„Ja“, antwortete Peer mechanisch.
„Sehr gut! Dann haben wir ja alles richtig gemacht.“
Für Peer stand zwar fest, dass die beiden etwas gewaltig falsch gemacht hatten, aber das hielt Melv nicht davon ab, ihm zu erklären, warum man ihn gefesselt hatte und sich in der Küche unterhielt.
„Du kannst jetzt bitte zuhören, Peer. Und einfach fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber bitte nicht zu viel. So ganz genau verstehen wir vieles, was wir dir sagen sollen, auch nicht. Die ganzen technischen Details hat man uns nicht eingetrichtert. Wir machen hier nur unseren Job, musst du wissen.“
Peer starte in Melvs Augen. Diese gelben Flecken um das Grüne herum wirkten auf ihn so unnatürlich, dass ihm ein wenig übel wurde.
„Einverstanden?“, fragte Melv mit diesem perfekten Lächeln im Gesicht.
Peer nickte und versuchte, seine Arme ein wenig zu bewegen.
„Schön. Also... Um es kurz zu machen: Wir sind von Genetic Advancement Services. Also von GAS. Das spricht man wie das das englische Wort für Benzin aus.“
„Aber nicht fuel“, gluckste Ruben.
„Nein, gas natürlich. Aber das sind ja Belanglosigkeiten. Du kennst uns nicht, wir kennen dich aber bis ins kleinste Detail. Und jetzt kommt der Teil, wo wir uns bei dir entschuldigen müssen.“
„Hä?“, entfuhr es dem Gefesselten. Es war offensichtlich, dass man sich bei ihm zu entschuldigen hatte!
„Ja, also wir – also: nicht Ruben und ich. Aber Sven...“
„Wer ist Sven?“, warf Peer ein.
„Der Mann, dessen Klone wir sind. Sven hat dich ausfindig gemacht. Vor Jahren schon. Erinnerst du dich daran, dass du vor circa acht Jahren mal Stammzellen gespendet hast?“
Peer kramte in seinen Erinnerungen: Vor ein paar Jahren hatte er tatsächlich mal Stammzellen gespendet. Er bekam irgendeinen Wirkstoff, von dem er Grippesymptome bekam und dann wurde er, nachdem man ihn ein paar mal mit Nadeln traktierte, in eine Kartei aufgenommen. Zwar wurden seine Stammzellen wohl nie benötigt, denn er erhielt ja nie einen entsprechenden Anruf oder Brief, aber für den Fall des Falles wollte er sich damals auf jeden Fall registrieren lassen. Vielleicht wäre er ja mal lebensrettend gewesen. Das wusste man ja nie, bis es so weit war. Peer hatte es sich damals so ausgerechnet, dass seine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber damit getan war. Dennoch zahlte er weiter akkurat Steuern.
„Ja, stimmt. Da war so ein Flyer in meinem Briefkasten. Und dann habe ich das einfach mal gemacht, glaube ich“, antwortete Peer dann.
„Genau. Und die Probe hat Sven damals mitsamt ein paar anderen mitgenommen. Und Doktor Chart hat deinen genetischen Code komplett ausgelesen. Und jetzt kommt der Clou, mein lieber Peer Flint: Du bist perfekt!“
„Ich bin perfekt? Das wundert mich aber“, sagte Peer ungläubig und wartete auf die Pointe.
„Präziser: Du bist genetisch perfekt. Alle Gene, die bei dir für Gefäße, Herz, Stoffwechsel, und so weiter zuständig sind, sind nur darauf ausgelegt, alles zu erhalten. Du könntest theoretisch mindestens 110 Jahre alt werden. Bei bester Gesundheit! Und ohne größere Rückenbeschwerden!“
„Allerdings ruinierst du dir das mit deinem Lebensstil“, tadelte Ruben.
„Ich verstehe nicht“, sagte der Gefesselte.
„Also: Ich erkläre es dir gern. Dein genetischer Code scheint Prozesse zu begünstigen, die gerade deine Stoffwechselraten und deine Selbstheilungsprozesse positiv beeinflussen. Und natürlich sind all diese winzigen zugrunde liegenden Teilprozesse in deiner Genetik verankert. Und wie du weißt – und wenn nicht, dann lies mal ein gutes Buch darüber! - unterliegt natürlich auch dein Genom Kopierfehlern, die während der Zellteilung auftauchen können. Jedoch scheinst du, neben deinem ja ohnehin doppelten Chromosomensatz, auch noch eine Art genetisches Back-Up zu besitzen. Deine eigene DNS korrigiert Kopierfehler weit effizienter als bei den meisten anderen Menschen. Wir haben das ausgiebig untersucht die letzten Jahre! Bei mir und Ruben hier ist es genauso.“ Melv zeigte stolz auf sich. „Doktor Chart könnte dir stundenlang etwas darüber erzählen. Zumindest musst du dir weniger Sorgen um Krebs machen. Und irgendwelche Stoffwechselstörungen wirst du so schnell auch nicht entwickeln“, schloss Melv ab.
„Ich kapiere es trotzdem nicht“, gab Peer zu. Er hatte in Sachen Biologie nur eine sehr rudimentäre Bildung erhalten, die sich aber vor allem auf Beobachtung, Pflanzenkunde und allgemeines Wissen beschränkte. Das Nest des Eichhörnchens, so fiel es ihm spontan ein, nennt man Kobel.
„Stell dir einfach vor, dass deine Zellteilung mit weniger Fehlern behaftet ist als bei anderen. Und auch das Aufbauen deiner körperlichen Bausteine läuft effizienter und – ich will fast sagen: zielführender – als bei anderen. Dein Körper arbeitet einfach besser. Hast du das wenigstens kapiert?“
„Ich schätze schon?“, fragte Peer.
„Ja... Und deine DNS enthält unglaublich effiziente Reparaturmechanismen. Dein Körper leistet eine evolutionär bedeutende Arbeit! Hast du gar nicht gewusst, oder?“
„Nein“, antwortete Peer. Er hatte bis dato angenommen, dass die Evolution für ihn keine Rolle spielte, da er ja einfach da war und somit war seine Spezies erfolgreich - und das war dann auch schon alles, was Peer von Evolution verstand. „Was soll das genau heißen: evolutionär erfolgreich?“, fragte er deshalb. Beim Sprechen wurde er wenigstens nicht vor Angst ohnmächtig.
„Ach, den Begriff verwendet Doktor Chart einfach gern, aber eigentlich tut er nichts zur Sache. Du bist aber ihr letztes Puzzlestück für ein Projekt, wie wir wohl wissen. Und dann ist da noch ein Grund, uns bei dir zu entschuldigen.“
„Die Tür?“, fragte Peer vorsichtig. Er hoffte inständig, dass die beiden Klone nicht noch allzu viel von ihm wollten. Ihm brummte ja jetzt schon der Schädel. Überforderung machte sich breit.
„Ja, ist gut geworden, oder?“, fragte Ruben sichtlich gut gelaunt.
„Was?“, fragte Peer irritiert und aus seinen ängstlichen Überlegungen gerissen.
„Die Tür. Frisch geölt. Hast du das gemerkt?“
„Aber unbrauchbar ist sie. Ihr habt das Schloss rausgeschraubt. Wie soll ich die denn jetzt wieder schließen?“, kam es ein wenig gereizter von Peer zurück.
Ruben zog dich das Türschloss aus einer Gesäßtasche seiner dunklen Jeans. Aus der anderen kramte ein paar Schrauben. Das alles hielt er Peer vor die Nase und schaute wissend.
„Null Problemo!“, krächzte er.
Peer seufzte und nickte ergeben.
Die beiden waren seltsam, aber offensichtlich waren sie nicht durch und durch böse. Sie waren einfach nur ganz anders als alles, was Peer kannte. In ihren dunklen Jeans und makellos weißen Hemden wirkten die jungen Männer völlig deplatziert in Peers Küche. Er hatte die Zeugen Jehovas ja auch nie hereingebeten.
Melv hatte nicht weiter vor, sich um die belanglose Tür zu scheren und fuhr in seiner Erklärung fort: „Wir müssen uns ja entschuldigen. Auch für die Tür. Aber vor allem dafür, dass wir dich ein paar Jahre lang bespitzelt haben und deshalb - “
„Ihr habt was!?“, schrie der Hausherr und es war ein kläglicher Ton, der da angeschlagen wurde. Emotionale Ausbrüche waren schließlich auch nichts, was Peer besonders beherrschte. Er war sogar ausgesprochen schlecht darin. Ob das nun an einer gewissen Ausgeglichenheit seiner Person oder eben der Unkenntnis seiner extremen Gefühle lag, war schwierig zu beurteilen.
Tatsächlich war ihm auch für einen Bruchteil einer Sekunde sehr danach, den beiden Fremden ordentlich die Fresse zu polieren. Lediglich sein gefesselter Zustand hielt ihn davon ab.
Melv und Ruben hatten wohl seine Mimik gut gedeutet, denn ihre ohnehin sanften Gesichter wurden noch ein wenig sanfter. Nur ihre Augen verengten sich ein wenig. Peers einsetzende Schnappatmung, die allerdings auch nur ein Paar Sekunden lang anhielt, wartete Melv noch ab.
„Deswegen haben wir dich erst einmal so hergerichtet“, erklärte er betont gelassen, nachdem ihm Peer ausreichend ausbalanciert und besonnen vorkam. Dass sie Peer in seiner Wohnung festhielten und nicht etwa in einem schwarzen Kleintransporter, lag vor allem daran, dass sie keinen Parkplatz im Molkereipfad gefunden hatten, der nahe genug an Peers Wohnung lag. Aber das verschwiegen die beiden Klone aus taktischen Gründen.
„Also, mein lieber Peer Flint: Wir haben dich beobachtet. Mussten wir tun. War halt unsere Arbeit, nicht wahr? Dass du genetisch perfekt bist, wussten wir ja schon vor ein paar Jahren. Aber auch GAS kennt nicht alle Feinheiten des menschlichen Genoms. Also haben wir vor allem deine Gesundheit im Blick gehabt.“
Peer blickte nur fragend drein und Ruben befürchtete einen Ohnmachtsanfall bei ihm. Er blieb aber standhaft sitzen.
„Nein. Nur beobachtet. Also, du warst selten beim Arzt und in sechs Jahren nur viermal erkältet. Das ist schon ziemlich gut. Und du hattest Nierensteine. Aber die waren ja, wie dein Arzt dir gewiss gesagt hat, ernährungsbedingt.“
„Die waren vor allem unangenehm“, erinnerte sich Peer.
„Aber harmlos, nicht wahr? Also: Du kannst dich glücklich schätzen. Wir haben aber eben während unserer Beobachtung auch andere Dinge gesehen. Und das tut uns leid. Vor allem das mit dieser Frau letztes Jahr. Wie hieß sie gleich?“
Peer schwieg. Er nannte Fremden doch nicht die Namen seiner Sexualpartnerinnen! Es war ihm wirklich jenseits dessen, was er unter gesittetem Verhalten verstand. Die beiden Männer hatten ihn also beobachtet und wussten wohl sehr viel über ihn. Womöglich haben sie sogar noch masturbiert, während sie ihm beim Sex beobachteten. Peers Puls signalisierte wieder Wut. Und natürlich lief er rot an.
„Du könntest dich vielleicht wieder ein wenig abregen“, forderte ihn Ruben auf und zog sich sein Blasrohr aus seiner Hemdtasche.
Peer gönnte dieser ungewöhnlichen Waffe ein paar Sekunden der Betrachtung und bemühte sich, ruhiger zu wirken. Wie es sich angefühlt hatte, davon getroffen zu werden, wusste er nicht mehr. Aber ihm war auch nicht danach, wieder ein paar Minuten zu verlieren, nach denen er vielleicht woanders aufwachte. Seinen Puls trieb dieser Gedanke leider noch weiter in die Höhe. „Na, das muss ja nicht sein, oder?“, fragte er dann vorsichtig.
„Kommt auf dich an“, antwortete Ruben bestimmt und fingerte an seinem Spielzeug herum. Es war zweifelsohne ein Unikat, das er da gefertigt hatte: Es entsprach die Mechanik des Betäubungspfeils durchaus der klassischen Variante der Veterinärmediziner. Jedoch hatte es Ruben in akribischer Kleinstarbeit vollbracht, den gesamten Mechanismus des Pfeils, also auch die Luftkammer zur Überdruckerzeugung sowie die Kammer mit dem Betäubungsmittelchen, auf eine schier winzige Größe zusammenzustauchen. Der gesamte Pfeil inklusive Stabilisationselemente maß hierdurch kaum mehr als vier Zentimeter Länge und weniger als fünf Millimeter Durchmesser. Das Blasrohr an sich maß auch kaum mehr als fünfzehn Zentimeter Länge. Dadurch war die Handlichkeit des praktischen Alltagsgerätes gewährleistet.
„Ich bin ja schon ruhig. Ruhig und ausgeglichen. Ich höre zu, ich frage nichts Dummes und was auch immer ihr mir sagt: Ich akzeptiere das erst einmal. Aber sagt mir nicht unbedingt, was ihr alles über mich wisst! Bitte!“, jammerte Peer.
„Gut. Nur das, was jetzt und heute wichtig ist“, bestätigte Melv. „Also, wir haben ja schon festgestellt, dass du quietschlebendig und gesund bist. Nur manchmal ziemlich betrunken.“
„Hey!“, protestierte Peer vergebens und auch nur aus Reflex.
„Ja, schon gut. Genau. Das tut uns leid, dass wir dir hinterher spionieren mussten. Leider lässt sich aus deinem Code ja auch nicht alles herauslesen. Und Doktor Chart wollte ja prüfen, ob da nicht noch was ist, was sie übersehen hat. Das ist ihr halt wichtig. Und streng genommen ist es das auch. Aber wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass du, ich sagte es ja schon, genetisch perfekt bist. Oder eben perfekt, wenn man Deine DNS mit der der meisten anderen vergleicht. Womöglich gibt es da noch bessere Exemplare als dich, aber wir haben da bis dato nichts und niemanden gefunden, der deine Nische besetzen könnte.“
„Kann ich mit diesem Doktor Chart sprechen?“, wollte Peer in einem Anflug aus Kann-ich-wohl-mal-Ihren-Vorgesetzten-sprechen? wissen.
„Mit einem Doktor Chart wohl nicht, nein. Aber mit Frau Doktor Chart schon, wenn du unser Angebot annimmst.“
Wieder nur ein fragender Blick. Melv wurde allmählich ungeduldig, denn sein Zeitplan sah vor, die Mission sehr bald endlich beendet zu haben.
„Ja. Wir sitzen zwar alle in deiner hübschen kleinen Küche. Aber die ist ja eben klein und doch recht langweilig. Stell dir einfach mal vor, wir wären jetzt in einer von diesen Villen am Kanal. Wäre das nicht angenehmer?“, fragte er deshalb süffisant und lächelte dabei sein Werbelächeln.
„Weiß ich nicht“, antwortete Peer. Er mochte seine Küche und seine Wohnung eigentlich so wie sie waren. Die Heizkosten waren halt hoch, weil er im Altbau wohnte. Aber ihm gefielen die hohen Decken ganz gut. Wobei Villen ja noch höhere Decken haben konnten. Und abgesehen davon kannte er nicht viele Häuser und Städte und so fehlte ihm der Vergleich. Seine jetzige Wohnung war besser als die zu große Wohnung im Nachbarort, in der er bis vor ein paar Jahren gewohnt hatte und diese war besser als das Zimmer, das er zu Zeiten seiner Ausbildung bewohnt hatte, gewesen. Und dieses wiederum war besser als sein Kinderzimmer im Elternhaus gewesen.
„Ja, wäre natürlich schön“, beschloss er dann nach einigem Nachdenken. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es irgendwo eine nächsthöhere zu erreichende Stufe geben musste.
„Eben“, sagte Ruben und schob sich das Blasrohr nach erneuter Inspektion von Peers abgeklungener Röte zurück in die Hemdtasche. Liebevoll tätschelte er es dabei.
„Eben!“, pflichtete Melv zufrieden bei. „Und du könntest so eine große Küche haben. Und eine Villa und eine Yacht und du könntest deinen drögen Job aufgeben. Und ja: Der ist dröge. Du hast hast auf der Arbeit wirklich selten glücklich ausgesehen, mein Lieber. Und du könntest neu anfangen. Schreib was, oder mach Yoga, oder was auch immer dir Spaß macht. Das wissen wir ja auch nicht, was du willst. - Was willst du denn?“
Peer dachte darüber nach. Es war lange her, dass ihn jemand fragte, was er wollte, wenn es nicht nur um die Wahl zwischen zwei Sorten Eis ging. Ihm fiel aber einfach kaum etwas ein, was sich fassen ließ. Ruhe mochte er gern. Und ab und an frische Luft. Vielleicht ja auch mal einfach mit einem Boot vor der Küste zu liegen, ein paar Dosen Bier zu trinken, Radio zu hören und die Sterne mal richtig zu sehen. Das stellte er sich als sehr wollenswert vor.
„Ich hätte gern ein kleines, gemütliches Boot. Mit Bier und Radio! Und eventuell würde ich gern angeln“, fasste er zusammen. Einen großen Wunsch zu äußern fiel ihm ein wenig schwer, aber es gelang ihm doch ganz gut. Er spürte Erleichterung, denn er hatte erfolgreich formuliert, was er wollte und dadurch ein wenig Kontrolle zurückgewonnen. Natürlich schwang sein Gedanke nicht um den Komplex aus Kontrollverlust und Kontrollwiederbeschaffung – er spürte nur die Erleichterung – aber so war es.
„Was kostet so etwas denn?“, fragte Melv tatsächlich interessiert, denn er hatte, wie alle Klone von GAS, nur eine vage Vorstellung von Sachwerten. Geld war in der Organisation einfach zu Genüge vorhanden. Darum war ein Eis ein Eis und ein Eis war auch ein Helikopter und ein Helikopter war auch ein Maschinengewehr und ein Maschinengewehr konnte durchaus ein Passierschein für einen Hochsicherheitsbereich sein. Es dauerte nur mal mehr oder weniger lang, diese Dinge zu besorgen. Wer am Ende die Rechnungen zahlte, war ihm nicht bekannt. Er bezahlte zwar alle Spesen selbst, aber noch nie hatte sein Kontostand einen niedrigen Wert erreicht. Er wusste nicht einmal mehr, wie viel Geld er besaß, ging aber davon aus, dass es genug sein musste.
„Keine Ahnung. Viel, denke ich“, sagte Peer. Ihm gefiel der Gedanke an sein Traumschiff bei näherer Überlegung ausgesprochen gut. Unglücklicherweise war seine Traumvorstellung auf eine Nussschale beschränkt.
„Reichen zwölf Millionen Euro?“, fragte Melv und kritzelte mit einem von Peers Schreibern die Summe auf einen alten Kassenbon, der auf dem Tisch lag. Diesen hielt er Ruben hin. Der nickte. Manchmal vertat sich Melv nämlich mit den Nullen von großen Zahlen. Dann hielt er Peer die Summe vor.
„Ja?“, vermutete Peer vorsichtig.
„Gut, dann muss ich mal kurz telefonieren. Ruben passt auf dich auf. Keine Dummheiten, ja?“
Ruben setzte sich Peer gegenüber und grinste ihn an. „Frau Doktor Chart hat gesagt, wir sollen dir geben, was du möchtest. Wenn du ein paar Millionen Euro haben willst, sollen es halt ein paar Millionen Euro sein“, flüsterte er.
Mit großen Augen starrte Peer an Ruben vorbei auf Melv, der sich gerade in den Flur begab und sein Handy aus der Hosentasche zog. Er machte eine Handbewegung, dass er mal kurz verschwinden müsse. Dann hörte Peer die Klinke seiner Schlafzimmertür.
„Und ihr seid Klone?“, versuchte Peer nach einigen stillen Sekunden ein Gespräch zu beginnen.
„Ja“, kam es knapp zurück. Klone waren wohl charakterlich durchaus ein wenig verschieden. Ruben schien trotz guter Laune ein eher schweigsames Exemplar zu sein.
„Genetische Klone“, führte Ruben aus. „Wie eineiige Zwillinge, aber da haben noch Umweltfaktoren einen Einfluss ab der ersten Zelle an. Bei uns wurden die Mechanismen, die verschiedene Entwicklungen zulassen, gänzlich blockiert. Man hat uns identisch ernährt und aufgezogen. Wir sind also wirklich identisch. Cool, oder?“
„Cool“, bestätigte Peer beeindruckt. Da hatte es also jemand geschafft, mit dem menschlichen Genom herumzuspielen und etwas völlig Verwirrendes zu schaffen, das in fremde Wohnungen eindrang. Peer hatte zwar keine Vorstellung davon, wie das mit dem Klonen wohl funktionieren mochte, aber es hörte sich beeindruckend an.
„Ja, aber unpraktisch ist das, musst du wissen. Wir klingen gleich. Wir sehen gleich aus. Wir haben nur einen Millimeter Unterschied in der Größe – ich bin größer - und überhaupt: Alles gleich. Ätzend ist das manchmal. Ich habe schon überlegt, ob ich zunehmen sollte. So richtig fett werden. Aber da hat Doktor Chart mir von abgeraten. Sagte, dann müsste ich leider ohne Job auskommen.“
„Und die Augen?“, fragte Peer und merkte, dass er ruhiger wurde. Nur einen Klon im Raum zu haben, war besser für ihn.
„Spielerei! Alberne Spielerei. Doktor Chart hatte mal was gebastelt, was man halt in so Genom einbauen kann. Und da hat sie halt das als ihren Stempel hinzugesetzt. Seit einigen Jahren bekommt jede Klonreihe so einen Farbstempel.“
„Klonreihe? Reihe? Es gibt mehrere von euch?“
„Ja, wir sind die Reihe Sven. Weil wir ja aus Svens verjüngten Stammzellen geklont sind; Melv, Lars, Björn, Ives, Thor und ich. War ein ziemliches Gewese vor 22 Jahren. Da war Doktor Chart noch ein wenig jünger und hat noch mehr experimentiert. Alle mit diesen Augen und alle gleich! Und dann gibt es da noch ein paar andere. Weltweit gibt es so Klonreihen wie uns! Aber die meisten Klone arbeiten nicht bei GAS. Kannst du dir wahrscheinlich nicht so richtig vorstellen, denke ich mal. Aber so ist es. Das siehst du eh alles noch, wenn das Telefonat da hinten funktioniert. Wäre gut für dich. Wenn Doktor Chart jetzt doch nicht mehr will, dann muss ich dich leider liquidieren. - Vorschrift.“
Es folgte eine dramatische Pause, die nur deshalb dramatisch war, weil Peer sich bedroht fühlte und Ruben nachdachte.
„Und ich will ja meinen Job behalten. Ist ziemlich gut mit Melv im Team“, schloss er ab und Peer schluckte.
Für ihn waren das zu viele Informationen, die sich alle schwerlich einordnen ließen. Dass es wohl noch mehr junge Rotschöpfe gab, die in Wohnungen einbrachen und Leute überrumpelten, hatte er verstanden. Vielleicht hatten einige ja auch gewöhnlichere Tätigkeiten. Gene auszulesen vielleicht. Oder sie machten Kaffee für diese Doktor Chart. Aber aus irgendeinem Grund schien mindestens einer der Klone, der Leute liquidierte, sich unmittelbar in Peers Nähe zu befinden. Dies beunruhigte ihn zutiefst, so dass er auch vergaß, dass man ihm just zwölf Millionen Euro angeboten hatte. Er verlieh seiner Sorge deshalb mit einem schlichten Wunsch Ausdruck.
„Im Kühlschrank ist Dosenbier“, sagte er nämlich und deutete mit der Nasenspitze in Richtung Kühlschrank. „Hätte ich gerne, wenn es nichts ausmacht. Kannst auch eines haben, wenn du magst.“
Ruben verstand, dass Peer wohl nicht über eine mögliche Liquidierung seiner Person sprechen wollte und organisierte zwei Dosen Bier. Dann sprach er etwas sehr Naheliegendes an: „Du bist gefesselt.“
Peer sah keinen Grund zu widersprechen.
„Strohhalme?“, fragte Ruben, der tatsächlich kurz darüber nachdachte, den Gefesselten einfach loszumachen. Schließlich war dieser durchschnittlich große, recht schlanke und wenig muskulös aussehende Mann nun wirklich nicht sehr bedrohlich. Er tauschte den Gedanken aber zu Peers Bedauern schnell in Strohhalme um.
„Oben rechts über der Spüle. Hinter dem Tee.“
Ruben durchsuchte den Küchenschrank. Da er kleiner als der Hausherr war, kam er nur mit Mühe an die Strohhalme. Während er sich auf Zehenspitzen abmühte, versuchte der Gefesselte es noch einmal mit einem in seinen Augen sinnvolleren Vorschlag: „Du kannst mich doch losmachen, oder? Ich tue dir schon nichts. Und du hast ja dieses Betäubungsmittel.“
„Entschuldige nochmal dafür“, hallte es nichtssagend aus dem Küchenschrank.
Dann öffnete Ruben die zwei Dosen, steckte in beide Strohhalme und Peer Flint trank an diesem späten Nachmittag im April erstmals Bier durch einen Strohhalm. Keiner der beiden dachte daran, dass die Aufreißlasche um 180 Grad gedreht werden konnte und die Öse als Strohhalmhalter fungieren konnte – und so bewegten sich die Strohhalme munter hin und her, wann immer man den Mund von ihnen nahm.
Ein paar Minuten später kam Melv dann auch zurück in die Küche. Ungefragt löste er Peers Fesseln mit ein paar gekonnten Handbewegungen, schnitt das Klebeband auf, öffnete den Kühlschrank und nahm sich ebenfalls ein Bier. Dann setzte er sich neben Ruben und prostete den beiden zu.
„Du bekommst demnächst zwölf Millionen Euro von GAS, mein lieber Peer Flint“, sagte er nach dem ersten Schluck.
„Hä?“, entfuhr es dem bloß, den Strohhalm aus der Dose ziehend und die Öse der Aufreißlasche unpragmatisch missachtend.
„Doktor Chart hat gesagt, wir sollen das machen. Irrtum ausgeschlossen und so. Du bist ein richtiger Glückspilz, oder?“
Peer antwortete nicht. Er hatte nicht mehr erwartet, etwas zu hören, was irgendwie gut klang. Er schlürfte einfach sein Bier. Es schmeckte seltsam weit weg. Keine Aromen oder Substanzen wollten sich auf seiner Zunge breit machen. Es war komisch. Vielleicht träumte er ja.
„Du bist einfach du und wenn du 60 Jahre alt bist, frieren wir dich ein. Das ist das Geschäft, mein Lieber“, führte Melv dann weiter aus, ohne auf eine Reaktion Peers zu warten.
Peer schüttelte nur den Kopf. Sich einfrieren zu lassen, empfand er nicht als gute Idee. Schließlich sah er darin keinen Nutzen. Sicherlich: Er kannte durchaus völlig unrealistisch gehaltene Filme, in denen sich Leute einfrieren ließen, um die Reise ins Nirgendwo nicht in unendlicher Langeweile verbringen zu müssen. Jedoch wollte Peer nicht in fremde Sternensysteme reisen.
Eigentlich wollte er einfach nur, dass die beiden verschwanden. Peer würde, aufgetaut und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, in seiner Küche verbleiben, in deren Kühlschrank er nicht passen konnte.
„Aus ein paar deiner Zellkulturen haben wir durch Verjüngung Stammzellen gewonnen. Vielleicht brauchen wir noch ein paar Proben von dir. Und deinen Körper würden wir dann in 28 Jahren einfrieren. Du wärst so eine Art Ausstellungsstück für zukünftige Generationen. Einer unserer Partner hat das zur Bedingung gemacht, um uns die Reihe Flint – das werden dann die Klone von dir - dann auch abzunehmen. Er will dann quasi im Anschluss noch das Original haben, wenn man so will“, führte der eine Quälgeist dann dennoch weiter aus und stieg dann zu Peers Enttäuschung nicht einfach in ein Raumschiff und verschwand.
„Aber ich will älter als 60 werden!“, schrie Peer aufgebracht und erst viele Sekunden später. Wenn er 84 Jahre alt werden würde, was statistisch gesehen durchaus möglich war, dann wäre das ja nur eine halbe Millionen Euro pro verpasstem Jahr, überschlug er das Angebot schnell. Das war ihm irgendwie zu wenig. Jetzt, wo er das erste mal über einen Geldwert seines Lebens nachdachte, wurde ihm auch so richtig bewusst, was er im Alter alles tun wollte – mit seiner Rente. Und dem Boot, das er sich ja auch vom Ersparten kaufen könnte. Da wären halt das kleinere Boot und das schlechtere Radio angesagt. Und das war es auch schon. Mehr fiel ihm beim besten Willen nicht ein, wenn er sich seine Rententage ausmalte. Er hatte tatsächlich nichts geplant, was ihm im Alter irgendwie erstrebenswert erschien. Haus. Frau. Kinder. Enkelkinder. Baum und Garten. All das hatte er nie als ein ihm zustehenden Recht begriffen. Er war einfach da uns bisher war alles glatt gelaufen. Die Notwendigkeit, große Träume zu haben, bestand einfach nie. Er hatte sich immer vorgenommen, später darüber nachzudenken.
Und überhaupt waren eine halbe Millionen pro Jahr doch, so schien es ihm Moment, viel zu wenig. Natürlich rollte er die Rechnung falsch herum auf, denn das Geld würde ihm ja für den Rest seines Lebens zustehen und nicht ab seinem Ableben – und dadurch wäre es sogar noch weniger als eben jene Summe pro Jahr – jedoch: steuerfrei und mit viel dadurch erzeugter Freizeit ließ es sich doch bestens leben. Viel mehr als alle Menschen, die Peer Flint kannte, hätte er dann gehabt. Aber auch sein Sinn für schwachsinnige Gier war wenig entwickelt; nette Menschen hätten ihm gar Bescheidenheit attestiert.
„Ich will nicht nur 60 Jahre alt werden!“, wiederholte er, wie um sich zu vergewissern. So richtig überzeugt war er davon zwar nicht, aber er war sich auch sicher, dass alle anderen Aussagen ein gigantischer Fehler gewesen wären.
„Hier bin ich“, dachte er sich. „Peer Flint: 32 Jahre alt und ich habe noch alles vor mir.“
„Du könntest, wie gesagt, 110 Jahre alt werden“, erklärte Melv ihm dann. „Allerdings hast du nicht so wirklich eine Wahl. Ruben hat dir schon gesagt, dass wir dich eventuell liquidieren müssten?“
„Ja“, antwortete Peer mechanisch.
„Eben. Und darum sagen wir dir ja, wie es ist. Du weißt, dass es eine Organisation gibt, die mit menschlichen Genen herumbastelt. Und dass wir Klone sind. Und dass du genetisch perfekt bist. Was wäre das wohl für eine Arbeit, das zu vertuschen, wenn das heraus käme?“, fragte Melv rhetorisch.
Sämtliche Freundlichkeit entwich aus den Gesichtern der Klone und Peer realisierte, dass die Situation bis jetzt nicht bedrohlich gewesen war. Die After waren beschnüffelt und die Reviere markiert. Die zwei Bulldoggen knurrten den kleinen Yorkshire-Mischling an und dieser wich zurück.
„Viel Aufwand“, jaulte der Mischling dann kleinlaut. Die Option auf Reichtum war ihm gerade kein Trost.
Peer hatte mal vier richtige Zahlen plus die Zusatzzahl im Lotto getippt. Das waren ein paar hundert Euro Gewinn gewesen. Darüber freute er sich noch Monate, denn er war ja, wie bereits erwähnt, durchaus als bescheiden zu bezeichnen. Aber das hier lag einfach so unwirklich vor ihm, dass er es nicht zu fassen bekam. Peer spürte, wie sich dichter Schweiß aus allen seinen Poren mühte.
„Aber ihr habt mir das alles doch einfach gesagt! Ich habe euch doch nicht nach Details gefragt. Das mit dem Liquidieren wäre doch gar nicht nötig, wenn ihr mich nicht ungefragt über alles informiert hättet!“, regte er sich dann auf und leerte sein restliches Bier in einem Zug.
„Eben“, bestätigte Melv auch dies. Dann kramte er ein Schriftstück hervor, kritzelte in eine leere Zeile die besprochene Summe und gab es Peer.
Das Dokument stellte sich Vertrag heraus. Er besagte, dass Peer Flint am ersten April zweitausend Euro in bar zu erhalten hatte. Nach einer Woche würde er von Melv und Ruben Svenson zu einem Quartier von Genetic Advancement Services gebracht werden. Wo das war, ging aus dem Dokument nicht hervor. Dort würde Peer mit Frau Doktor Sunday Chart sprechen, und er würde in alles Weitere, was er zu wissen nötig hatte, eingewiesen werden. Danach würde er zwölf Millionen Euro in Gold und Teppichen, auf einem zweiten Konto und Teile in bar erhalten. Über das Geld könne er frei verfügen.
Dafür sollte er nur einwilligen, dass man aus seinen Zellen durch Verjüngung weitere Stammzellen erzeugen durfte, von ihm Klone erschuf und er selbst, einen Tag nach seinem 60. Geburtstag, eingefroren würde.
Über alle Machenschaften von GAS hätte er Stillschweigen zu bewahren. Der einsetzende Reichtum würde als Erbschaft deklariert werden; für den Fall dessen, dass jemand misstrauisch wurde. Die Erbschaftssteuer sei abgeführt. Der Papierkram dazu sei erledigt. Sollte er sich weigern, die Bedingungen zu akzeptieren, sollte er von Außendienstmitarbeitern von GAS binnen einer Woche liquidiert werden. Es befand sich auch ein Hinweis im Kleingedruckten, dass eine Flucht unmöglich sei und man ihm sogar im Falle der nicht erfolgten Kooperation aus reiner Humanität heraus die zweitausend Euro in bar überlassen würde. Sollte etwas Außerplanmäßiges eintreten und Peers Liquidierung notwendig werden, würde man diese veranlassen und die noch vorhandenen Reichtümer wieder einziehen.
Das Kleingedruckte las Peer allerdings nicht. Er sagte nach kurzem Überfliegen zu, weil ihm sein Leben doch recht lieb war. Abgesehen davon hatte er ja noch ungefähr 27 Jahre und sieben Monate Zeit, diese absurden Summen, die man ihm versprach, auszugeben.
„Wo muss ich unterschreiben?“, fragte er dann nach einem tiefen Seufzer.
Peer hatte verstanden, dass er wohl nur so einen ungestörten Abend verbringen konnte. Und mit ein wenig Kohle könnte es ja vielleicht sogar ein guter Abend werden. Seine Urteilsfähigkeit wich einer resignierten Leere und er fingerte an der Kante des Papiers herum – und schnitt sich doch nicht. Das taube Gefühl blieb.
Melv betrachtete den Kugelschreiber, den er vorhin schon genutzt hatte und befand ihn dann für untauglich.
„Zu blau“, sagte er und rollte ihn an die Tischkante. Dann kramte er aus seiner Hemdtasche einen Kugelschreiber mit SPD-Logo.
„Habt ihr keine eigenen?“, fragte Peer irritiert.
„Untergrundorganisation. Und wir arbeiten doch geheim. Sagte ich doch.“
Peer nickte. Aber warum diese beiden seltsamen Typen auf einer Veranstaltung der SPD gewesen waren, war ihm auch schleierhaft.
Peer setzte dann ohne weiteres Nachdenken seine geschwungene Unterschrift unter den Vertrag. Diese war überhaupt recht ansehnlich, wie auch Ruben mit einem Pfiff kommentierte. Ordentlich, voller interessanter Formen und absolut unmöglich nachzuzeichnen war sie. Das F von Flint erzeugte Peer mit einer Bewegung, die er nicht einmal beschreiben konnte. Sie kam einfach aus dem Tiefsten seiner Seele geflossen und bewies, dass es ihn, Peer Flint mit dem schönen F, gab. Aber auch das war ihm nie so wirklich bewusst gewesen.
„Fein gemacht, mein lieber Peer Flint. Wir sehen uns dann in einer Woche hier um elf Uhr vormittags. Bitte sei hier. Sonst müssen wir dich beseitigen“, verabschiedete sich Melv. Er legte Peer den Umschlag mit den zweitausend Euro auf den Tisch und ging zur Tür. Den Vertrag hielt er in der Hand und kratzte sich dann am Kinn, als müsse er sich an irgendetwas erinnern.
Dann rief er nach seinem Bruder. Der ging in den Flur, so dass der verdutzte Neureiche nun mit seiner Überforderung allein in der Küche war. Ruben schraubte mit wenig Aufwand das Schloss wieder an und ging mit Melv, als hätten die beiden gerade nur versucht, Kekse für einen guten Zweck zu verkaufen, zurück zum Auto. Sie hatten ihren Auftrag erfüllt. In einer Woche würden sie wieder kommen, aber bis dahin hatten sie freie Tage. Und das hieß für die beiden Klone vor allem, dass sie getrennt voneinander ihren Hobbys nachgehen würden. Schließlich hatten sie sehr viel Zeit miteinander verbringen müssen, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Melv hatte sich schon einige Point-and-Click-Adventures zurück gelegt, auf die er sich sehr freute. Überhaupt liebte er intelligent gestaltete Computerspiele über alles. Er liebte sie sogar fast noch mehr als seine Klonbrüder, was laut Doktor Chart einen Fehler darstellte, allerdings hatte diese unschöne Kleinigkeit noch nie Einfluss auf seine Arbeit gehabt.
Ruben hingegen würde vor allem nichts tun. Einfach in seiner kleinen Wohnung, die er extra für diesen Auftrag gemietet hatte, ein wenig länger verweilen. Den Fernseher vielleicht eingeschaltet lassen und sich schlecht ernähren, das rote Haar mal ungepflegt lassen und die perfekten Zähne und die Zunge nicht mehr zum Formen der Laute nutzen, die ihm die Sprache abverlangte. Ein paar Bier und vielleicht auch mal ein gutes Buch würden seine Freunde werden. Bei Peer hatte es ihm gefallen; der hatte es in seinen Augen doch recht bequem in seinem konturenarmen Leben.
Manchmal dachte Ruben auch daran, eine Autobiographie zu schreiben. Aber das würde man im System ohnehin mitbekommen und dann würde er in irgendein Säurefass geworfen werden. So machte man das bei GAS eben: Schwätzer wurden aufgelöst und damit war das Problem dann schlichtweg verschwunden. So weit Ruben das beurteilen konnte, kam das aber auch nur sehr selten vor. Zumindest musste er selbst erst einmal jemanden in Säure auflösen.
Während der Fahrt machte Ruben deshalb auch ein nachdenkliches Gesicht, das Melv allerdings nicht weiter betrübte. Dieser war, ob seiner erledigten Arbeit und den Tagen am Computer, die folgen würden, einfach zu gut gelaunt und pfiff diverse Liedchen vor sich hin.
Auch Peer Flints Laune besserte einige Minuten, nachdem er wieder allein war. Er besann sich eines menschlicheren Verhaltens und betrachtete das Geld, das da vor ihm lag. Es sah echt aus und entsprach einer Summe, die Peer innerlich händeln konnte.
Zweitausend Euro waren: ein großer Fernseher; zwei überflüssig teure Kleiderschränke; eine halbe Einbauküche; circa fünfhundert Big Macs; zweihundert Friseurbesuche (wenn man keine Ansprüche an den Friseur stellte); acht Hotelübernachtungen in Paris zur Touristensaison in einem guten Hotel oder auch gut einhundertfünfzig bestellte Familienpizzen. Auf jeden Fall musste Peer, das erschien ihm spontan eine gute Idee zu sein, heute damit beginnen, das Geld auszugeben.
Leicht enttäuscht stellte er dann fest, dass der milchgesichtige Melv nur das halbe Bier getrunken hatte. Er goss den Rest in den Abfluss und setzte sich auf den Stuhl, auf dem er vorhin noch gefesselt hatte Platz nehmen müssen. Er schnippte an der Aufreißlasche seiner leeren Dose herum und versuchte, einen Entschluss zu fassen.
Da er nichts Besseres vorhatte, beschloss er aber zuerst, sich erst einmal richtig gut im Karpfenschlund zu betrinken.