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Von Taxifahrern und Dates – 3. April, ca. 11:00

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Am nächsten Morgen warf ein Postbote Peer eine Setcard in den Briefkasten. Als Peer diese gegen elf nach oben holte, war er überrascht und freudig erregt zugleich. Denn darauf war ein Portrait von Brokat. Das Bild hatte eine sehr hohe Auflösung und man konnte die sanften Grübchen erahnen, die sie hatte. Ihre grauen Augen glänzten. Ihr Gesichtsausdruck wies sie allerdings nicht als Escortdame aus, sondern eher als Managerin oder vielleicht auch als Vorsitzende eines gemeinnützigen Vereins. Die Frau hatte einfach eine gewisse Klasse, an die Peer nun erinnert wurde. Auf der Karte standen in weißen Lettern ihre Emailadresse und sogar ihre Handynummer. Dazu die bekannten Daten der Agentur und ein Hinweis, man möge sich doch bitte nicht vor halb elf melden. Wahrscheinlich brauchte sie so lang für die Auswahl ihrer Garderobe und für das Herrichten ihres Körpers.

Peer ließ die Karte wieder in den Umschlag gleiten und verstaute das Ganze in der Kommode im Flur. Dort war es schließlich griffbereit. Er nahm sich fest vor, sie anzurufen.

Kekse und Kaffee bildeten heute sein Frühstück und er setzte sich wieder vor den Fernseher. Ab und an ging er zum Fenster und suchte auf der Straße nach den beiden Rotschöpfen.

Am frühen Nachmittag duschte er und rasierte sich. Dabei fiel ihm abermals auf, dass zwei Tage alte Bartstoppeln sich müheloser rasieren ließen als einen Tag alte Bartstoppeln.

Online überprüfte er dann sein Konto. Es war auch so schon ein kleines Sümmchen darauf, aber bald sollte es mehr sein. Dann griff er sich seine neue Uhr und legte sie sich an. Sie fühlte sich tatsächlich noch immer neu und geschmeidig an und zeigte die Uhrzeit völlig korrekt an.

„Hm“, machte Peer. Die Armbanduhr tickte nur stumm zur Antwort. Die Zeit lief so langsam oder schnell wie immer. Analoge Zeiger rutschten in festgelegten Takten von Strichlein zu Strichlein. Unterdessen blinkte der Doppelpunkt der Digitalanzeige von Peers Wecker im Sekundentakt und verrichtete die Arbeit mindestens genauso zuverlässig.

Peer wählte Brokats Nummer, aber laut Ansage war die Teilnehmerin nicht zu erreichen. Dann rief Peer noch einmal in der Agentur an und hoffte, dass man dort wusste, wo Brokat steckte.

„Hallo?“ Es war dieselbe Frau wie beim letzten Mal.

„Guten Tag, ist Brokat bei Ihnen im Hause?“, fragte Peer sofort.

„Wer will das wissen?“, erkundigte sich die Frau schroff. Offensichtlich hatte Peer sie auf dem falschen Fuß erwischt.

„Mein Name ist Peer. Peer Flint. Wir haben vor ein paar Tagen schon mal miteinander gesprochen. Vorgestern.“

„Hmmm...“ Die Frau überlegte langatmig. Gerade so, als müsste man für das Gespräch auch schon pro Minute bezahlen. „Ja, ich habe Ihnen Brokat kommen lassen. Nicht wahr? Reizendes Wesen. Ganz reizend. Rufen Sie an, um sich zu bedanken? Ich richte es aus.“

„Nein, ich würde sie gern sprechen, wenn es geht“, beharrte Peer.

„Ach, Brokat ist gerade sehr beschäftigt. Aber unter uns beiden: Für den Klienten, den sie besucht, muss sie nicht so viel Zeit einplanen. Sie wird sicherlich in maximal zwei Stunden wieder hier sein“, gurrte es rauchig.

„Ich rufe dann noch einmal an, ja?“

„Sicher, gern. Besser aber in drei Stunden. Brokat wird sicher noch einmal duschen, nachdem sie wieder da ist. Bis später!“, verabschiedete sich die Frau und legte auf.

Peer blieb noch eine Weile mit dem Telefon am Ohr sitzen. Sein Verlangen nach Brokat war nicht durch seinen Penis bestimmt. Es war einfach ein Ding, das zu tun er sich vorgenommen hatte.

Dann recherchierte Peer nach verkäuflichen Freizeitbooten im Internet. Boote hatten ihn schon immer interessiert, wenngleich er leider nur selten auf einem gewesen war. Nach ein paar missglückten Versuchen landete Peer einen Treffer und fand eine Anzeige. Das Boot wirkte funktional und zuverlässig auf den ersten Blick. Der Lack des Rumpfes löste sich schon, aber an Deck des sechzehn Meter langen Kahns war Platz für mindestens einen bequemen Liegestuhl und eine Kühlbox. Es war mit Funktechnik ausgestattet und hatte einen modernen Außenbordmotor. Einen Anker und eine Winde konnte das alte Ding auch vorweisen. Der Mast war allerdings abmontiert worden. Und immerhin war das Boot auch schon über siebzig Jahre alt! Man hatte es so umgebaut, dass man es auch zu zweit als Hausboot nutzen konnte. Spätestens jetzt war Peer tatsächlich verliebt.

Ungetauft“, ließ sich Peer den Namen auf der Zunge zergehen. Es gehörte wohl irgendeinem Scherzbold. Laut Profil war es ein deutscher Auswanderer, der nun auf Mallorca lebte. Das Boot allerdings, so hieß es, läge aber in Vanuatu – der günstigeren Liegegebühren wegen und genutzt wurde es eh nicht – aber könne „jederzeit vor Ort besichtigt werden. Dafür war es so günstig, dass Peer das Stück Museum sogar mit seinem Ersparten hätte kaufen können.

„Toll“, kommentierte er die ungünstige Lage seines Traumschiffes und flugs löste sich seine anfängliche Euphorie in Ernüchterung auf. Er hätte genau diesen einen Kahn gern besessen. Andererseits: Wo wollte er ihn überhaupt liegen lassen? Das Meer war weit weg und der Kanal in der Stadt kaum fünf Meter breit.

Um fünf Uhr Nachmittags, Peers Magen knurrte bereits, rief er wieder bei der Agentur an. Flugs wurde ihm Brokat ans Telefon gerufen.

„Ach, du hast angerufen?“, fragte sie zur Begrüßung.

„Ja.“

„Ich rufe Leute, die mir keine Nachricht hinterlassen, nie zurück“, erklärte sie ihm.

„Aha. Kannst du vorbei kommen? Ich weiß, das ist spontan.“ Peer ging im Geiste durch, wie sie reagieren könnte.

„Wofür?“, fragte sie skeptisch. Peer hatte so etwas befürchtet.

„Ich will dich einfach sehen“, antwortete er, weil es stimmte. „Aber nicht als Klient.“

„Ein Date?“, fragte Brokat skeptischer. Dann schnalzte sie mit der Zunge. Es klang abwertend oder einladend. Peer vermochte es nicht zu deuten, denn das Schnalzen kam ja ohne Mimik daher.

„Ja“, sagte er bestimmt. Dabei befingerte er mit seiner linken Hand die Armbanduhr.

„Essen?“, fragte Brokat.

„Unbedingt. Du bist eingeladen.“

„Hast du das Geld, von dem du sprachst, etwa schon?“

„Sozusagen. Ist das wichtig?“

„Weiß ich nicht. Ich mag Geld. Ich gebe gern welches aus und du brauchst doch Ideen, wie du es ausgeben kannst. Fang doch mit dem Ausführen einer schönen Frau an.“

„Das ist eine Zusage, nehme ich an. Wann bist du bei mir?“, fragte Peer vorfreudig.

„Eine gute Stunde werde ich wohl brauchen, um mich in Schale zu werfen. Halb sieben spätestens. Gleiche Adresse?“

„Ja, wie vorgestern“, sagte Peer. „Bis gleich. Freue mich drauf.“

„Such ein gutes Restaurant aus!“ Und damit legte Brokat auf.

Peer legte zog sich ordentlich an und legte sein neuestes Sakko bereit. Die Uhr verschwand wieder unter einem Ärmel. Sie fühlte sich schon wie ein Teil seines Körpers an, weil sie so geschmeidig und öde war. Dann garnierte er sich mit dem erstbesten Parfum, für welches er leider ähnlich wenig Geschmack wie für Rotwein besaß.

Nach schier endloser Warterei war Brokat endlich bei ihm. Sie trug wieder ihren Mantel und ein Cocktailkleid.

„Bildschön“, nannte Peer sie zur Begrüßung und lotste sie in die Küche zu einem Abendkaffee, den beide schwarz tranken.

„Ich hoffe mal, dass der Abend sehr gut wird, wenn ich ihn schon nicht abrechne... Wohin geht es also?“, fragte Brokat, als sie dann wenig später vor dem Haus standen.

Peer hatte sich vor lauter Vorfreude nicht um die Reservierung eines Restaurants gekümmert, was ihn zum Improvisieren zwang. Also rief er einfach ein Taxi. Normalerweise vergaß er solche Planungsangelegenheiten nicht, aber der andauernde Zustand der Nervosität war ihm, gerade nüchtern, ein Hindernis.

„Lass dich überraschen“, kündigte er an und trippelte die Stufen vor dem Hauseingang auf und ab.

„Aha“, antwortete Brokat unbeeindruckt und durchschaute ihn schnell. Dennoch ließ sie ihn gewähren und beschloss, den Abend auf sich zukommen zu lassen. Irgendetwas würde sie schon mit dem Mann essen können.

„Schönes Fräulein“, mischte sich der Mongole ein, der vor dem Eingang seines leeren Bistros Wache schob.

„Guten Abend“, wünschte das ungleiche Paar gleichzeitig. Beide lächelten ein wenig und hatten ihre eigenen abwertenden Gedanken für den Wachhund übrig.

„Wohin?“, fragte dieser dann und bellte doch nicht. Er wollte sich mit der schönen Frau unterhalten. Den Herrn kannte er ja schon.

„Essen“, sagte Brokat. „Wir wollen essen gehen.“

Der Mongole machte ein beleidigtes Gesicht und fluchte irgendetwas Unverständliches. Brokat stupste Peer an die Schulter. „Unsympathischer Typ, oder?“, flüsterte sie. Peer nickte.

„Warst du da mal essen?“, fragte sie und zeigte auf das Bistro, das da schräg unter ihnen die Pforten geöffnet hatte. Ein wenig roch es nach kräftiger Sülze und Bratfett. Aus dem Lokal strömte unbelebte Kantinenatmosphäre.

„Ne“, sagte Peer leise und schaute auf die Straße. Er wollte unbedingt ins Taxi. Er war auch schon lange nicht mehr mit dem Taxi gefahren. Es war ihm immer überflüssig teuer vorgekommen und die Busanbindungen hier waren in Ordnung.

„Warum nicht?“, wollte Brokat wissen.

„Weiß ich nicht.“ Peer zuckte mit den Schultern und war in Gedanken bei dem vergessenen Restaurant.

Dann kam endlich das Taxi und der Mongole verschwand demonstrativ in seinem leeren Bistro.

Peer und Brokat nahmen Platz im Wagen. Dabei setzten sie sich beide nach hinten und hatten genügend Abstand voneinander um wie Geschäftspartner zu wirken.

„Zum besten Restaurant der Stadt!“, platzte es aus Peer heraus. Er hatte diesen Bluff gerade eben improvisiert und schickte Stoßgebete gen Himmel und Hölle.

„Jawohl, Sir!“, antwortete der Fahrer zur Überraschung seiner Fahrgäste. Schon seine Erscheinung war auffällig gewesen, denn er trug einen perfekt geschnittenen Vollbart und hatte eine erloschene Pfeife im Mund.

„War das geplant?“, fragte Brokat beeindruckt.

„Wer weiß?“, sagte Peer nur und war ganz überrascht von sich selbst.

Drei Kilometer später hielt der Wagen vor dem größten Hotel der Stadt, dem Welttor. Der Name war angesichts der Lage des Hotels natürlich ein wenig irreführend; es stand nun wirklich nicht in einer international frequentierten Stadt. Allerdings war es für die Bewohner des Städtchens ein besonderes Gebäude: Von den schmucklosen Bauten der Siebziger, die außerhalb der Wohngebiete verbreitet waren, hob es sich mit seiner weißen Fassade und dem mit Säulen gestützten Vordach ab. Es war ein ansehnliches Hotel, das offenbar auch ein Restaurant für alle anbot.

„Die Dame? Der Herr? Wir wären dann da. Soll ich auf Sie warten?“, fragte der Fahrer todernst und kaute dabei auf dem Mundstück seiner Pfeife herum. Trotz dessen er leicht nach Rauch roch und einen recht unzeitgemäßen Bart trug, wirkte er penibel und reinlich in seinen Bewegungen.

„Sie scherzen doch. Das ist hier ist ein Taxi“, antwortete Peer, der mindestens genauso irritiert war wie seine „reizende“ (der Fahrer nannte sie exakt ein einziges Mal während der Fahrt so) Begleitung.

„Wenn Sie mich später für die Zeit auszahlen, passt das schon. Genieße dann die Pfeife, wenn es nichts ausmacht“, antwortete der Fahrer einladend. Er schien sich auf genau diese Situation vorbereitet zu haben.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich das tun würde?“, fragte Peer und verriet damit, dass es nicht Teil seines Plans war, diesen Fahrer für den Abend zu buchen.

„Sehen so aus, als ob Sie ihr was bieten wollen, Sir“, sagte der Fahrer und lächelte mit seinen Augen in den Rückspiegel.

„Da haben Sie recht.“ Peer war geschlagen.

Der Fahrer stieg aus und öffnete erst Brokat die Tür und dann Peer. Zum Abschied strich er sich über den Bart. Dann lehnte er sich an sein Taxi und sagte zu, so lange zu warten, wie es halt dauern würde.

Brokat und Peer betraten das Hotel durch den Haupteingang.

„Sie wünschen?“, fragte die energische Frau an der Rezeption und schaute kurz von ihrem Computer auf. Dabei lächelte sie gezwungen. Sie hatte keine Grübchen.

Die Rezeption trennte den Zimmertrakt des Hotels von den Angebotsstätten und da man das Restaurant wohl nur über diesen Weg erreichen konnte, fanden sich Brokat und Peer hier wieder.

„Ihr Restaurant. Das soll sehr gut sein“, erwiderte Brokat ohne gespielte Freundlichkeit.

„Rechts, Gang runter und dann eine Stufe. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.“ Und damit widmete die Rezeptionistin sich wieder ihren Daten und hämmerte auf ihrer Tastatur herum.

Im Restaurant stellten die beiden fest, dass das Essen hier sowohl teuer als auch kalorienarm war. Dafür servierte man auf riesigen Tellern, was beiden missfiel. Doch immerhin bestand die Möglichkeit, mehrere Gänge zu ordern.

Peer gefiel das Brot mit Öl und Meersalz am besten, aber für das musste er nicht einmal bezahlen, denn es kam als kostenlose Beilage daher.

Ein paar Gänge sehr gutes Essen später – man hatte sich mittlerweile auch über die Gepflogenheiten an Arbeitsstellen ausgetauscht – schnitt Peer bei einem guten Wein das Thema an, deswegen er mit Brokat hier war.

„Brokat“, sagte er ernst und roch noch einmal an seinem Wein. Er war viel besser als der TC. „Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust.“

„Der da wäre?“, fragte sie, die Nase ebenfalls im Wein vertieft.

„Erstens muss ich fragen: Glaubst du, dass man einfach unverschämtes Glück haben kann? Finanziell, meine ich. Also konkret: ich. Was glaubst du?“

„Wenn nicht einige Menschen mehr Geld als andere hätten, wäre ich arbeitslos. Oder was meinst du?“

Peer sortierte kurz seine Gedanken und wurde sich dann einig, wie er vorgehen wollte. „Ich habe geerbt“, sagte er dann. „Ein paar Millionen sogar. Und das Problem ist dieses: Ich weiß nicht, was man damit macht. Ich habe eine Uhr, neue Kleidung und sitze in einem viel zu teuren Restaurant. Und jetzt habe ich keine Idee, wie es weitergeht. Du aber bestimmt. Du hast doch bestimmt auch steinreiche Klienten. Ich meine: du bist ja Extraklasse.“

„Wie viele Millionen denn?“, wollte Brokat nur wissen und ignorierte Peers Kompliment. Geld machte ihn aber irgendwie interessanter. Zumindest bliebt ihr nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass es das Geld war. Schließlich war an dem Mann ja sonst nichts, was sie begehren wollte.

„Zwölf. So ungefähr.“ Peer schaute Brokat in die Augen. Über die unnatürliche Kombination dieser grauen Augen mit dem ansonsten eher wenig blassen Körper dachte er nicht nach. Ihm gefiel sie, wie sie da so mit all ihren kosmetischen Veränderungen vor ihm saß.

„Also“, setzte er dann wieder an, weil Brokat nichts sagte, „was macht man damit?“

Brokat schnalzte mit der Zunge und trank einen Schluck Wein. „Du hast doch noch mehr als dein halbes Leben lang Zeit, um das Geld auszugeben“, antwortete sie bestimmt.

„Hm“, machte Peer nur und orderte noch ein Glas Wein.

„Du könntest dir ein schönes Haus kaufen“, schlug Brokat vor.

„Darüber habe ich nachgedacht“, antwortete Peer. „Aber ich will nicht allein in einem großen Haus leben. Das wollte ich dich fragen... Würdest du mit mir in einer Villa leben wollen? Hier in der Stadt, im guten Viertel am Kanal. Ich habe überlegt, dorthin zu ziehen und es wurde mir auch schon von jemandem vorgeschlagen. Aber allein will ich das nicht und ich habe niemanden, mit dem ich das teilen könnte. Da dachte ich an dich.“

„Das ist sehr plötzlich! Wir kennen uns doch gar nicht.“ Brokat sah den Mann noch einmal genau an. Ihm schien es ernst.

„Wie wohnst du derzeit?“, wollte Peer wissen.

„Allein, schöne Wohnung. Ich habe sogar selbst sehr viel Geld verdient. Da bleibt mir auch ein schönes Leben von“, antwortete Brokat und fingerte am Rand des Weinglases herum. „Warum ich?“, fragte sie dann, denn es war eine naheliegende und ihrem analytischen Gehirn genügende Frage.

„Du bist schön, du bist nicht dumm – und ich glaube, ich kann dir vertrauen“, schoss es aus Peer heraus.

„Ich habe dir mehr als eintausend Euro für oberflächlichen, schlechten Sex abgenommen“, erwiderte Brokat und schaute Peer ungläubig an.

„Schon“, entgegnete Peer, „aber ich habe mich wohlgefühlt. Ich habe mich nicht leer gefühlt. Und es lag nicht daran, dass wir miteinander geschlafen haben. Dieses Zusammensitzen, das Reden. Dich anzusehen... Wenn auch das Ganze gekauft war, so war es doch irgendwie schön. Sogar jetzt, weit nüchterner, bin ich mir sehr sicher, dass ich lange kein so schönes Erlebnis hatte. Ich weiß, das klingt erbärmlich, aber ich danke dir dafür. Und ich würde dir gerne etwas geben. Mein Leben wurde ziemlich auf den Kopf gestellt durch diese Sache und ich habe niemanden, den ich da wirklich involvieren kann. Das ist ja auch alles sehr verwirrend für mich. Und ich bin froh, dass ich mich überhaupt für irgendetwas entscheiden kann.“ Peer unterbrach seinen Redefluss und schaute sich sein Glas an. „Ich habe ja ohnehin nichts zu verlieren“, dachte er sich dabei.

„Wir werden vermutlich niemals ein Paar sein“, fing Brokat nach einigen Sekunden an und beugte sich zu Peer hinüber. „Und wir werden vielleicht nicht viel Sex miteinander haben. Und nach grauenhaften Kunden werde ich schlecht gelaunt sein. Und immer am Monatsende versenke ich Dinge in mir, für deren Besitz ich im Gefängnis sitzen müsste. Das solltest du alles wissen.“ Sie wusste allerdings in diesem Moment auch nicht, warum sie ihm das alles anvertraute. Ihre Exzesse waren eigentlich ihr bestgehütetstes Geheimnis.

„Kein Problem. Ich will einfach nur in einem Haus mit dir leben. Eine Beziehung muss es ja nicht sein. Ich bin ja nicht ohne Grund Single. Ich will dich einfach um mich haben. Ich würde dich sogar dafür bezahlen.“

„Du musst mich doch nicht kaufen!“, entgegnete Brokat entrüstet.

„So war das nicht gemeint“, steuerte Peer am Konflikt vorbei. „Ich meinte, dass ich dir auch alles, was du brauchst, finanzieren würde.“

„Einfach so?“, fragte Brokat.

Peer nickte.

„Und was machst du? Du sagtest ja, du hättest gekündigt.“

„Weiß nicht“, sagte Peer nur und starrte ein Loch in die Luft.

„Wir sollten allmählich nachsehen, ob der Taxifahrer wirklich gewartet hat“, beschloss Brokat dann. Auch hoffte sie, mit diesem Einwand das weitere Gespräch zum Erliegen zu bringen.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Peer und verlor den Blick für das imaginäre Loch über seinem Weinglas. Für einen kurzen Moment hörte ein Geräusch über dem Glas, gerade so, als ob die Fetzen einer geplatzten Seifenblase sich gerade wieder zusammensetzten – und wie auch immer es sich angehört haben wollte, war es doch nur seine Einbildung.

„Nach Hause. Nachdenken. Peer, glaubst du, dass ich das jetzt alles entscheiden kann?“, antwortete Brokat und suchte ebenfalls das Loch, dass Peer mit seinen Augen in den Raum gebrannt hatte.

„Weiß nicht“, sagte er wieder und hörte es ploppen. Die Seifenblase war weg und das Loch wieder da.

„Also“, sagte sie und stand auf. „Ich gehe schon vor die Tür. Bezahl doch einfach und triff mich draußen.“

Peer tat wie geheißen, gab zu viel Trinkgeld und fand auf der Straße das Taxi. Der bärtige Mann paffte genüsslich seine Pfeife und las dabei, angelehnt an den Wagen, ein Buch im Laternenlicht.

„Ihre Begleitung ist gerade an mir vorbei, Sir“, sagte er und blickte auf. „Soll mitteilen, dass es ein schöner Abend war. Sie würde sich melden. Wollen Sie wo hin?“

Peer schaute ihn nur ausdruckslos an. Er war nicht wenig überrascht davon, dass Brokat einfach gegangen war, hielt er doch den Abend für sehr gut verlaufen.

„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte er den Fahrer dann schließlich und betrachtete ihn genauer. Der Mann lächelte mit den Augen. Er war von ausgebeulter, aber durchaus sportlicher Statur.

„Glott. Archibald Glott“, stellte er sich vor.

In der Dunkelheit sah er aus wie ein Kapitän, der schon viele Unwetter überstanden hatte. Sein Alter konnte Peer nicht schätzen, da der Bart zu viel versteckte. Aber unter seinen lachenden Augen befanden sich Fältchen, die in Fältchen übergingen, die wiederum in Barthaare übergingen. Auch seine Mütze musste schon einige Jahre hinter sich haben.

„Archibald, wollen Sie für mich arbeiten? Ich kann einen Fahrer gebrauchen“, bot Peer ihm dann an. Es war definitiv die Zeit für spontane Unsinnseinfälle und der Taxifahrer, so dachte Peer, würde schon nicht zusagen.

„Dreitausend brutto plus Spesen und Benzin. Und einen neuen Wagen brauche ich irgendwann auch“, schoss es aus Archibald heraus. Dann paffte er ein Wölkchen in die Luft und hielt Peer, der verdutzt dreinschaute, die Hand hin. Sie war schwielig und kräftig.

Peer nickte nach einigem Zögern und erwiderte den Handschlag. „Es macht ja doch keinen Unterschied“, sagte er sich und konnte sich nicht so recht überzeugen.

Zumindest aber machte es einen großen für Archibald Glott. Der bärtige Mann hatte sein Leben als Taxifahrer bestritten und dachte die letzten Jahre öfter über eine Änderung nach. Er mochte seine Tätigkeit, denn er war ein Mensch, der schnell vertraute und dem auch nie Schlimmes widerfuhr. Einer von jenem Typus, mit dem man schnell in eine Plauderei verfällt und von dessen Wissen und Weisheiten man zehren konnte. Und deshalb, denn Archibald wusste, was für ein Typ Mensch er selbst war, war er gut in dem, was er tat. Er dankte in Gedanken dem rothaarigen jungen Mann, der ihm sagte, er solle möglichst darauf achten, Aufträge vom Molkereipfad 64 anzunehmen. Das war zwar sonst nie sein Revier gewesen, aber er hatte es irgendwie hinbekommen.

„Archibald?“, fragte Peer dann probehalber.

„Ja, Sir?“

„Bringen Sie mich bitte nach Hause“, orderte Peer und stieg hinten ein. Archibald legte sein Exemplar von Harry Potter und die Kammer des Schreckens auf den Beifahrersitz und fuhr los. Warum dieser Mann ausgerechnet dieses Buch las, konnte sich Peer nicht erklären. Er fragte allerdings auch nicht nach.

Zuhause rief Peer nicht mehr bei Brokat oder der Agentur an. Stattdessen steckte er den Katalog für Wintergärten in eine Tasche und legte sich auf das Bett.

„Ich habe einen Chauffeur“, sagte er zu sich selbst. Es kam ihm seltsam vor. Aber ein kleiner Teil in ihm fand es sehr aufregend. Dann versank er einsam in seinem Bett. Ein kräftiger Rülpser roch nach gutem Wein und jungfräulichem Olivenöl. Das Glas, aus dem Brokat und Peer Wasser tranken, stand auf dem Nachttisch. Ein Hauch von Lippenstift, kaum zu erkennen, war daran. Peer hatte es noch nicht wegräumen wollen. Wenig erschöpft, aber geistig ausgelaugt, schlief er und ein träumte Dinge, die ihm beim Aufwachen wieder entfallen sollten.

Bis Utopia

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