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Von Briefzustellungswegen und toten Hunden – 2. April, ca. 08:00

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Peer erwachte gegen acht Uhr. Verkatert war er nicht. Er stellte sofort fest, dass er es nicht mehr pünktlich zur Arbeit schaffen würde. Darum entschied er, es einfach ganz aufzugeben, sich in sein Büro zu setzen und die nächste Lieferung Kugelschreiberkappen aus China zu ordern. Das war ohnehin eine zutiefst langweilige Aufgabe, die man in ein ein paar Worten zusammen fassen konnte: Bestandsüberprüfung, Bedarfserfassung, Lieferantenauswahl, Stückzahlpreisdrückereiverhandlung, Email an den Logistikmenschen.

In diesen Dimensionen hatte sich seine berufliche Laufbahn bisher bewegt. Allerdings betrat er diese Dimensionen bisher immer pünktlich um halb neun, was ihn eben nun dazu veranlasste, einfach gar nicht zu erscheinen. Pünktlichkeit war ihm eine dieser Tugenden, die er einfach beherrschte. Nicht, dass er sie von anderen erwartet hätte – es war nur einfach so, dass dieser Langweiler im billigen Anzug stolz darauf war, pünktlich in seinem Büro über dem Verkaufsraum zu sitzen.

Das Zimmer mit der Nummer 16 war allein seines. Sein Name stand darauf, er bediente einen uralten Rechner und telefonierte. Und ab und an tauschte er sich mit den Verkäufern aus und unterhielt seinen Vorgesetzten über die aktuellen Entwicklungen des Markerabsatzes. Zu Beginn eines jeden neues Schuljahres waren natürlich immer alle ganz aus dem Häuschen, denn der Trend wechselte ständig. In einem Jahr wurden halt mal klassische Füllfederhalter (ohne Tinte, weil kindergerecht) und Linienblöcke genutzt und in einem anderen wurden dann schon einmal dünne Filzstifte als Schreibmittel der nächsten Generation angesehen. Der Trend ergab sich meist irgendwie. Jede Generation verwendete einfach unzählige verschiedene Schreibutensilien. Und das war Peer Flints Aufgabenfeld, das ihm in der Tat wenig Befriedigung verschaffte. Eher war es so, dass alle Aspekte seiner Pflichten ihn auslaugten, was sein Unterbewusstsein stets damit kompensierte, dass er niemals ernsthaft über seine Arbeit nachdachte. Und dennoch verpasste er seinen Leidensantritt nie um auch nur eine Minute. Nur heute, am zweiten April, änderte sich dies endlich.

„Heute mache ich nichts!“, entschied er nämlich. Natürlich spürte er kurz sein schlechtes Gewissen aufsteigen, beließ es aber dann damit, seinem Vorgesetzten auf den Anrufbeantworter zu sprechen und sich für sein Fehlen zu entschuldigen. Er würde spätestens nächste Woche wieder erscheinen und zur Not auch eine Krankschreibung besorgen. Peer wusste im Moment des Bescheidgebens, dass er wohl nie wieder diesen Markt betreten würde. Schließlich gab es die Artikel, wenn auch in begrenzter Auswahl, günstiger bei der Konkurrenz.

Peer hatte nun noch diesen und fünf weitere Tage Zeit, bis er zu dieser Gentechnikorganisation gebracht worden würde. Er suchte in der Küche eine Kopie des Vertrages des Vortages, wurde aber nicht fündig. Stattdessen las er dann das Schildchen an einem Teebeutel.

Gutblatt Kräutertee erfrischt ihre Sinne am Morgen. Das sanfte Aroma ausgewählter Kräuter trifft auf den distinkten Hauch von Limette und Bergamotte“, las es sich dort.

„Hm“, machte Peer. Er nahm sich vor, in seiner neuen freien Zeit, die am zweiten April begann, mehr Schildchen zu lesen. Nicht, dass es ihm irgendetwas gesagt hätte, womit er etwas anzufangen gewusst hätte. Aber dieser Teebeutel war ihm dadurch einfach viel präsenter als all das Geld, das ihn noch erwartete. Dass Bergamotte sich eigentlich eher für Earl Grey gehörte, kam ihm dabei nicht in den Sinn.

Den Tee schlürfend, setzte er sich ins Wohnzimmer. Als er genug davon hatte, distinkte Ahnung von Limette zu erschmecken und die Suche nach der Bergamotte gedanklich mit dem Wörtchen „interessant“ abschloss, schaltete er den Fernseher ein.

„... bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der Fahrer des schwarzen Minitransporters ist weiterhin nicht identifiziert. Die Kennzeichen stellten sich nach Prüfung als Fälschung heraus. Hinweise werden erbeten. Hierfür können Sie sich an die örtliche Polizei unter der Nummer ...“, kam es von der Sprecherin der lokalen Nachrichten. Sie ratterte den Text vom Teleprompter vollkommen unbewegt herunter. Ihre hölzerne Mimik vermengte sich mit dem perfekten Pferdeschwanz, den sie trug.

Insgesamt starben in dieser Nachrichtensendung achtzehn Menschen: Einer verbrannte, sechs starben bei einem rassistisch motivierten Angriff auf ein Familienrestaurant in den USA. Ein berühmter Politiker starb in hohem Alter. Ein Helikopter stürzte in Indien auf einen Marktplatz – acht Tote und mehr als zwanzig Verletzte waren die Folge. Das Bild zeigte aber nur einen ramponierten Helikopter und ein unidentifizierbares Durcheinander am Boden. Verschiedene Decken, Tische und Waren waren durcheinander gewirbelt worden. In Saudi-Arabien wurde eine Menschenrechtler zu Tode gepeitscht. In China wurde die ausgeweidete Leiche eines Obdachlosen gefunden; er war wohl Opfer des Organhandels geworden.

All das presste die Frau in jeweils dreißig bis vierzig Sekunden Bericht.

„Beim Absturz eines Helikopters in der Nähe der Stadt Jabalpur im Bundesstaat Madhya Pradesh kamen heute morgen acht Menschen uns Leben. Mehr als zwanzig wurden schwer verletzt. Die Ursache des Absturzes, bei dem der Pilot ebenfalls ums Leben kam, ist noch ungeklärt. Der Markt ist geräumt worden und aus der ganzen Region kommen Menschen, um ihr Mitgefühl zu zeigen“, sagte die Frau, als die Bilder Marktes gezeigt wurden. Um den Helikopter herum standen Schaulustige. Keiner räumte den Markt auf.

Bei dem chinesischen Obdachlosen hingegen dachte Peer an sein baldiges Schicksal als Eisblock. Aber der Gedanke war ihm jetzt zu unwirklich, um Angst davor zu haben. Er hatte eher Angst davor, dass Danach nicht mehr kontrollieren zu können.

Peer hoffte aber inständig, dass er nicht mit einem Helikopter reisen müsste, wenn die Klone wieder kämen.

Er setzte sich nach dem Wetterbericht (wechselhaft bei zwölf Grad) an den Küchentisch und schrieb seine Kündigung von Hand. Der Impuls war ihm schon beim Anruf in der Firma gekommen. Er hatte einfach keine Lust mehr auf seine Arbeit. Mit dem Geld wollte er einfach neu anfangen: Villa, Boot, Bier, Ruhe. Wie man es ihm vorgeschlagen hatte, oder so ähnlich, würde er es machen! Und er war noch niemals in Berlin. Da wollte er mal hin. Und er könnte seinen Eltern endlich den Wintergarten kaufen, von denen sie immer geträumt hatten.

Nach dem Vollenden seiner Kündigung, die er möglichst so formulierte, dass es nicht so klang, als sei er plötzlich reich, war es schon zehn Uhr. Er setzte seine kunstvolle Unterschrift darunter und überlegte, wie er den Tag verbringen sollte.

Er begann damit, sich zu duschen. Die Rasur ließ er dabei aber komplett aus. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht waren ein ungewohnter Anblick. Dann besah er sich einige Zeit im Spiegel.

„Das“, fragte er sich selbst, „soll also perfekt sein?“

Er schüttelte ungläubig den Kopf. Nicht, dass er Wissenschaftlern nicht grundsätzlich vertraut hätte – zumindest eher als Geistlichen – aber er entwickelte noch kein Gefühl für seine Perfektion. Das sich in ihm abspielende Genetische verstand er ohnehin kaum.

Er ließ sich die Mitose bei Youtube von einer Studentin erklären und sah eine Dokumentation über Erbkrankheiten. Dann fand er einen Beitrag über Mutationen.

„Aliens in Area 51“, wurde ihm als nächstes vorgeschlagen. Er klickte darauf. Irgendwer hatte einen alten Beitrag hochgeladen, ihn mit sechs Werbeanzeigen, die alle sieben Minuten auftraten, versehen und deklarierte das Video als aktuell in der Beschreibung. Peer suchte sich einen anderen Beitrag und fühlte sich wieder einmal darin bestätigt, dass das Internet so toll nicht sein konnte.

Sein Nutzerverhalten beschränkte sich im Wesentlichen auf Pornographie, Nachrichten und Facebook. Auf letzterem hatte er 154 Freunde. Von denen kannte er circa dreißig näher und einer davon war sein Vater. Der war allerdings schon seit einigen Monaten nicht mehr dort aktiv gewesen.

Koi zum Beispiel war von Peers Facebook-Freunden, denn Koi hatte hier kein Profil. Zum einen lag es daran, dass Koi ein Misanthrop erster Güte war und zum anderen daran, dass er es lästig fand, wenn seine Verwandten ihn mit Japanisch zukleisterten, obwohl er das nie zu verstehen gelernt hatte. Zudem war Kois Familie relativ bekannt in der Japanischen Gemeinschaft in Düsseldorf, was wohl an ihrem Erfolg und an ihrer Familiengeschichte lag. Der Erfolg hatte etwas mit Autohäusern zu tun und die Familiengeschichte mit Landesverrat im zweiten Weltkrieg durch Kois Großvater väterlicherseits. Und so zog sich die Familie Yamamoto mehr und mehr aus der Japanischen Gemeinde zurück. Koi und seine Geschwister ließen ihre Bindungen zu Japan reißen und mieden ab einem gewissen Alter die sozialen Verpflichtungen. Der älteste Bruder übernahm das Geschäft der Eltern, und Koi selbst trennte sich schließlich auch örtlich von der ihm zugedachten Umgebung.

Peer driftete in den nächsten Stunden, sich immer neuen Tee machend, in die weiten Welten des Internets ab. Sein Grundwissen in der Biologie war eher dürftig. Deshalb war ihm vieles neu. Crick und Watson, ihr Modell der DNS und die zentralen Mechanismen der Zellteilung und Verdopplung des Desoxyribonukleinsäurestranges an sich verstand er nach einiger Zeit ganz gut. Was ihm gänzlich fehlte, war aber die Erklärung dafür, wie genau ein Gen nun funktionierte. Er hatte verstanden, dass je drei Basen (aus den Vieren: Guanin, Cytosin, Adenin und Thymin) einen Code bildeten, der wiederum eine Aminosäure beschrieb. Und aus den Aminosäuren in bestimmten Kombinationen ergaben sich dann Proteine und aus diesen bestand ein Lebewesen größtenteils. Alles Weitere verstand er dann schon wieder nicht. In Sachen Evolution bildete er sich ein, wenigstens ein wenig Verständnis dafür zu haben, beließ es aber dabei und verzichtete auf eine Unterweisung in diesen Themen. Ihm qualmte ja schon der Schädel aufgrund des Überangebotes an Informationen.

Gegen Nachmittag stellte er dann fest, dass er seit seiner letzten Mittagspause nichts gegessen hatte. Er hatte nur getrunken, worauf ihn sein Magen und seine Blase aufmerksam machten. Ein paar Kekse erledigten daraufhin ihre Arbeit und gaben Peer ein wenig Fülle zurück. Tee und Kekse waren in Peers Haushalt der Fraß der Reichen. Kuchen hatte er gerade einfach nicht in greifbarer Nähe.

Gegen fünf rief er im Haus seiner Eltern an.

„Bursche! Musst du nicht arbeiten?“, begrüßte ihn sein Vater.

„Hallo Papa. Wie geht es dir?“, erwiderte Peer.

„Gut wie immer. Weißt ja, wie es hier ist. Aber den Kanteros ist letztens die Töle überfahren worden. Rums! Quietsch! Platt wie ein Omelette. Deine Mutter hat einen kleinen Sarg gebastelt. Für die Kinder. Die haben schon Bolzen in Kuhköpfe gejagt, aber so ein überfahrener Hund war dann zu viel. Haben geheult ohne Ende hier.“

Die Kanteros waren die Nachbarn seiner Eltern. Ihnen gehörten alle Anbauflächen um das Haus herum, so dass seinen Eltern selbst nur ein paar Obstbäume blieben. Allerdings arbeite seine Mutter ohnehin nicht mehr und hatte sich Holzarbeiten zugewandt und sein Vater schuf das Geld als Postbote heran. Vier Tage die Woche sammelte er alles ein, was in den umliegenden Dörfern so anfiel und fuhr es in die kleine Stadt. Von dort aus wurde es dann weiter ausgetragen. Es spielte, wie er Peer mal lang und breit erklärt hatte, auch überhaupt keine Rolle, ob ein Brief von Dorf A nur nach Dorf B musste. Er wurde immer erst zur Stadt gebracht. Von Dorf A nach Dorf B wären es fünf Kilometer gewesen und über die Stadt eben über fünfzig. Das ergab sowohl für ihn als auch für Peer keinen Sinn. Und trotz dessen, dass er darin mit seinem Vater übereinstimmte, hatten sie sich nie getroffen – obwohl Peers Büro kaum dreihundert Meter von der Poststelle, zu der sein Vater häufig reiste, entfernt lag. Wahrscheinlich betrachte Papa Flint seine Reise in die Stadt nur als Umweg von Dorf A nach Dorf B und auf Wegen verabredete man sich einfach nicht. Dafür waren Häuser da, wenn es nach Peers Vater ging und noch besser wäre natürlich ein Wintergarten gewesen.

„Was wünschen sich Mama und du?“, fragte Peer ihn. Zum einen, weil ihn die Kanteros nicht sonderlich interessierten und zum anderen, weil er ohne Umschweife Freude erzeugen wollte.

„Wir haben April. Weihnachten ist noch hin und Geburtstag hat hier auch keiner.“ Peers Vater war Realist.

„Ich meine etwas Materielles, was ihr euch bisher nicht leisten konntet. Irgendetwas Aufwendiges. Denk mal nach, Papa!“

Stumm atmete Papa Flint in den Hörer. Er dachte offensichtlich nach. Die Unfähigkeit, Wünsche akut in Worte zu fassen (oder in Gedanken) hatte Peer von ihm übernommen, oder aber sogar geerbt.

„Wintergarten!“, sagte er dann knapp.

„Dann sollt ihr einen haben. Einen, wie ihr ihn haben wollt. Ich komme morgen oder übermorgen vorbei. Dann schauen wir uns alles an, was man da machen kann.“

„Und deine Arbeit?“, wollte Papa Flint wissen.

„Gekündigt. Ich suche mir was Neues.“

„Ah“, machte Peers Vater. „Und woher hast du so viel Geld? Gespart, oder was?“

„Gespart. Und ein bisschen was gewonnen. Es reicht, bis ich was Neues habe und für einen Wintergarten“, log Peer. Immerhin. Er hatte gerade seinen Vater gut belogen und wurde nicht einmal rot. Wahrscheinlich hatte er noch Alkohol im Blut.

„Also bis dann“, sagte sein Vater. Weder Aufregung noch Skepsis lagen in dessen Stimme, denn er akzeptierte Gesagtes meist einfach als Tatsachen. „Willst noch mit Mama sprechen? Sie ist im Keller und bastelt schon wieder... Ich werde noch verrückt vom ganzen Klebergestank!“

Dann hörte Peer Schritte und wartete. Sein Vater hatte das Telefon einfach abgelegt. Ob er es nur vergessen hatte, oder ob er Peers Mutter ans Telefon holen wollte, blieb abzuwarten. Das waren die Konflikte in der Familie Flint.

Wenig später hörte Peer Mama Flints dünne Fistelstimme.

„Peer!“, schrie sie mit gut fünfundzwanzig Dezibel ins Telefon. „Wie geht es dir? Ich bastle gerade an einem Sarg für den – du hast es schon gehört, oder? Die armen Kinder... War doch nicht fertig. Da müssen kleine Scharniere ran, damit man den auch aufklappen kann. Nicht, dass man das sehen müsste. Aber einfach nur den Deckel auflegen und festnageln – Nein!“

„Schön“, sagte Peer. Ihn erschöpfte es immer, seine Mutter am Telefon zu sprechen. Neben ihrer schwachen Stimme lag das vor allem daran, dass sie diese trotzdem gerne strapazierte. So starb einiges zwischen Mama Flint und ihren Opfern: Stimmbänder, Geduld, Nerven. Nur die Trommelfälle waren nach drei Stunden mit ihr erholt.

Natürlich hatte man es sich in der Familie Flint angewöhnt, nicht ständig nachzufragen, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Man riskierte damit ja, dass der gesamte Themenblock noch einmal auf einen einprasselte. Und die wichtigen Informationen waren zumindest Peers Vater zu Genüge bekannt – man hatte das verflixte siebte Jahr schließlich überstanden. Und dann kamen noch weitere dreißig Jahre dazu.

„Und dieser Fahrer, der den Hund, den armen, armen, armen Hund – ach Peer! Wir glauben ja, das war der Mitschelsky von gegenüber. Der hat das Tier doch immer gehasst. Und genau heute war sein Auto blitzblank! Frisch gewaschen, hat er vor ein paar Stunden noch – ich glaube, es war um neun oder zehn – gesagt. Blitzblank frisch gewaschen. Aber die Kinder sind jetzt wichtiger. Ich habe deinen Vater schon gefragt, ob wir mit den Kanteros für einen neuen Hund zusammenlegen sollten. Ich weiß ja nicht, was die verdienen. Dein Vater sagt, die haben selber genug. Aber das muss ja auch wieder so ein edler sein. Was war das gleich für einer?“

„Basenji, glaube ich. Konnte nicht einmal bellen“, übernahm Peer das Gespräch. „Vielleicht sollte man das erst einmal sacken lassen. Erst einmal das Tier unter die Erde bringen, Mama. Dann weiter schauen. Das sind ja noch Kinder. Die vergessen das vielleicht wieder.“

„Vielleicht. Aber vom jüngeren, vom Karl war das doch der beste Freund! Da kam er von der Schule und musste dann das arme Tier von der Straße kratzen. Also, nicht wirklich. Das hat seine Schwester gemacht. Und dein Vater. Die haben den aufgesammelt. Der war regelrecht ausgewalzt worden vom Mitschelsky!“

„Das arme Tier“, pflichtete Peer bei. Kurze Pause; kurzes Gedenken an den Rassehund. Peer hatte ihn nur ein paar mal in der Einfahrt bei Kanteros gesehen.

„Ich will aber etwas anderes von dir“, sagte er dann, als ihm die Pausenlänge dem Hundstod angemessen vorkam. „Ich habe mittlerweile ein wenig Geld. Papa erzählt dir das bestimmt später. Und ich wollte die Tage vorbei kommen. Weil ihr doch immer einen Wintergarten wolltet, gleich am Wohnzimmer.“

„Das wäre toll!“ Der Ausruf ließ sie ein wenig röcheln.

„Ich würde dann morgen oder übermorgen vorbei kommen. Da seid ihr doch beide zuhause, oder?“

„Ja, wo sollten wir denn sonst sein? Aber übermorgen ist besser. Ich muss ja dann was vorbereiten!“

„Also übermorgen. Vor dem Mittagessen. Soll ich etwas mitbringen?“

„Nur gute Laune, Peer. Nur gute Laune.“ Peers Mutter liebte diesen Spruch.

Und so war es dann abgemacht. Peer würde sich in zwei Tagen einen Mietwagen nehmen (zumindest erschien ihm das am Bequemsten) und seinen Eltern zu einem Wintergarten verhelfen. Wenn ihm durch eine dumme Begebenheit etwas zustoßen sollte, wollte er das wenigstens erledigt haben. Es war schließlich vieles passiert. Nachdem Peer mehrfach beteuerte, dass es ihm wirklich gut ging, konnte er sich endlich lösen.

Es war jetzt gerade einmal früher Abend und noch immer wusste er nichts mit sich anzufangen. Zudem hatten die Kekse damit abgeschlossen, ihn zu sättigen.

Peer zog sich an und trat vor die Haustür. Die Luft des zweiten Aprils war genauso ausdruckslos wie die des ersten Aprils. In seinem Viertel der Stadt war alles unverändert. Es war einfach nur so, dass ein Bewohner plötzlich reich war, während der Rest auf den Status Quo sitzen blieb. Wobei der Status Quo für die meisten Leute hier gar nicht so übel war. Schließlich litt die Stadt nicht unter Arbeitslosigkeit und hohen Mieten. Es gab einfach nur attraktivere Städte.

Nur Peer Flint, wohnhaft im Molkereipfad 64, war nun ein reicher Mann. Aber das sah man ihm beim besten Willen nicht an. Vielmehr wirkte er in seiner alten Jeans und mit seinem beigen Mantel wie jemand, der die Bushaltestelle nach einer durchzechten Nacht nicht fand. Seine Bartstoppeln verstärkten den Eindruck nur noch.

Für einen kurzen Moment überlegte er wieder einmal, dem Bistro im Haus einen Besuch abzustatten. Allerdings sah er aus dem Augenwinkel den mies gelaunten Küchenchef, der wie eh und je darüber nachdachte, mit welcher Ausrede er seine Frau dieses Mal zusammenstauchen würde. Der Mann war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut. Mit dem richtigen Werkzeug ausgestattet hätte er durchaus zum Mörder getaugt.

Wenig später stillte Peer seinen Hunger schließlich an einem unscheinbaren Würstchenstand in der Innenstadt. Er aß hier recht häufig, wenn er seine Mittagspause hatte. Der Verkäufer sprach ihn darauf an. Schließlich hatte er nicht mehr mit Peer gerechnet, denn Peers übliche Mittagszeit war lange rum.

„Habe frei“, sagte Peer schmatzend. Ein Stück Wurstpelle hatte sich zwischen seinen Schneidezähnen an einer Position verfangen, an der man es unmöglich durch Zungenbewegungen herauspulen konnte und Peer dachte kurz über einen Zusammenhang zwischen dem Speiserest zwischen seinen Zähnen und seiner Unehrlichkeit diesem fremden, loyalen Wurstverkäufer gegenüber nach, kam aber zu keinem sinnvollen Schluss.

„Gut für Sie“, sagte der Mann gleichgültig und fertigte zwei Bockwürste mit Senf für ein paar Kinder ab. „Will auch gern frei haben. Habe immer gesagt: Irgendwann verdiene ich hiermit Kohle. Und dann verkauf ich den Stand. Und dann geht es nach Spanien. Da ist doch alles billiger!“

„Ist das so?“ Der Fleischfetzen rutschte ein wenig nach oben.

„Ja, ja. Wenn ich es doch sage. Nach der Finanzkrise vor allem. Häuser sind jetzt billig in Spanien. Aber was erzähle ich Ihnen das. Sie sind ja auch gefangen in Ihrem Büro! Wir arbeiten – und die da oben haben vom lieben Gott doch alles Geld in den Arsch geblasen bekommen!“

„Oder von ihrer Genetik“, nuschelte Peer beim Versuch, sich die Zähne mit seinem Daumennagel zu reinigen.

„Wie jetzt?“, kam es von dem Wurstverkäufer. In seinem fettigen Gesicht machte sich tiefes Unverständnis breit. Probehalber krempelte er sich die Ärmel über die fettigen Arme, aber das half seinem Verständnis auch nicht auf die Sprünge.

Peer guckte ihn einen Moment an. Dann entschied er, auch dem Inhaber seiner Würstchenbude nichts zu erzählen. Dafür liquidiert zu werden, diesem Statisten in seinem Leben etwas Wichtiges zu erzählen, war nun wirklich absurd! „War nur so ein Gedanke“, sagte Peer deshalb.

„Was?“

„Ach, nichts. Ist egal.“

„Genetik?“, wunderte sich der Wurstbudenmann und öffnete seine Augen so weit es ihm möglich war. Das rechte Auge wurde dabei weiter als das Linke. „Mit Kindern? Mit Kindern macht man Geld? Die kosten doch nur Geld!“ Er lachte laut und dreckig. „Sie sind ja einer: glauben Sie wirklich, dass Kinder unser Kapital wären? Die fressen doch Geld. Wollen dieses und jenes! Zum Glück habe ich keine!“

Das war auch Peers Gedanke und er verabschiedete sich. Bis dahin war ihm der Würstchenmann immer sympathisch gewesen. Aber wahrscheinlich lag das daran, dass es gerade eben die erste Unterhaltung der beiden gewesen war.

Im nächstbesten Laden kaufte sich Peer ein paar bessere Klamotten, unter anderem ein Sakko für seinen Aufenthalt bei GAS. Er hatte zwar keine Vorstellung von der Etikette dort, und Melv und Ruben waren schließlich nur ordentlich gekleidet gewesen, aber ein Unternehmen, das mal eben zwölf Millionen Euro für seinen Körper aufwenden wollte, konnte so schäbig nicht sein. Und die Verkäuferin war auch sehr freundlich zu ihm; sie reichte ihm einen Zahnstocher, den er dankend annahm. Er versah sie deshalb mit einem Fünfer an Trinkgeld. Erst war sie ein wenig brüskiert, aber als er dann nicht nach ihrer Nummer fragte, akzeptierte sie den kleinen Obolus.

Er kaufte in ein paar anderen Geschäften allerlei Kleinkram auf, den er sonst auch kaufte: Socken, Rasierklingen und Deodorant zum Beispiel. Nach einiger Suche trieb er zudem einen Katalog für Wintergärten und andere Glasbauten auf. Anschließend hob er zweitausend Euro von seinem Konto ab und überlegte, was er mit dem Geld anfangen wollte. Darum faltete er einen Flieger aus einem Zwanziger, wartete auf einen Windstoß und ließ das Ding fliegen, segeln, abstürzen und circa vier Meter weiter, mitten auf der Straße, landete der arme Geldschein auf dem Asphalt. Ein Auto näherte sich, überrollte den Flieger und ließ ihn, platter als vorher, wie ein Bonbonpapier noch einmal segeln. Dann landete das schmutzige Ding noch einmal auf der Straße. Peer betrachtete das Schauspiel und zuckte mit den Schultern.

Und so vertrödelte Peer dann Stunde um Stunde in der Innenstadt, war schlecht rasiert und hatte einiges an Bargeld in den Taschen. Er versuchte auch mehrmals vergeblich, sich eine teure – aber bloß nicht zu teure - Armbanduhr auszusuchen. Es scheiterte maßgeblich daran, dass er sich fragte, warum irgendwer (und irgendwer besaß in seiner Vorstellung immer ein Mobiltelefon) eine solche benötigte. Ein Blick auf eben jenes Telefon genügte schließlich. Leere Akkus überzeugten ihn gedanklich auch nicht so recht. Schließlich waren Uhren doch immer und überall vorhanden.

Dann fiel ihm eine Uhr ein, die am Bahnhofsvorplatz stand. Sie stand immer auf Punkt zwölf. Und das seit Jahren. Vielleicht gab es auch Orte, an denen alle Uhren still standen und auf diese Orte wollte er dann doch vorbereitet sein.

Ein leerer Handyakku und ein paar tote Uhren in Gedanken zwangen ihn schließlich dazu, sich doch für eine Armbanduhr zu entscheiden. Es wurde dann ein schmuckes Modell: Oris Classic Date.

„Schweizer Produkt, ideal für den dezenten Herrn“, erklärte der junge Verkäufer. Sein Gesichtsausdruck machte offensichtlich, dass er sich eine Provision versprach. „Goldbeschichtung auf Edelstahl, mit Datumsanzeige. Schauen Sie mal!“

Peer wurde die Uhr in die Hand gedrückt. Er verstand davon nichts, aber nickte wissend. Er befand sie für funktional und wenig aufdringlich.

„Kalbslederband. Weich, gut für die Haut. Arbeiten Sie körperlich?“, wollte der Verkäufer wissen.

„Nein. Aber ich kann sie auch beim Sport tragen?“, fragte Peer. Nicht, dass er je wirklich Sport trieb, aber durch eine Gegenfrage wurde seine Antwort länger und damit war er nicht ganz so verloren im Gespräch.

„Natürlich! Diese Uhr ist ein sicherer Begleiter für alle Lebenslagen“, bejahte der Verkäufer und zwinkerte Peer zu. Wer diesem Kunden in seinem alten Mantel und mit ungepflegten Gesicht zuzwinkerte, verkaufte auch Seniorinnen Lebensversicherungen.

„Gibt es die auch mit schwarzem Ziffernblatt?“, wollte der Umgarnte noch wissen. Der junge Mann reichte ihm ein anderes Exemplar. Dieses gefiel Peer dann gut genug, um es mitzunehmen. Er zahlte bar und ließ sich die Uhr um sein Handgelenk legen. Peer fühlte sich gleich ein Stück wertvoller.

Mit der vom Ärmel verborgenen Uhr und seinen Einkäufen kam er dann zurück in seine Wohnung. In selbiger fand er eigentlich alles, was er wollte. Bad, Küche und Schlafzimmer waren vorhanden und waren genauso so selbstverständlich und gemütlich wie immer.

Nach kurzer Inspektion seiner Wohnung setzte er sich vor den Fernseher, öffnete sich ein Bier und verbrachte den Abend damit, sich berieseln zu lassen. Niemand rief an und fragte nach ihm. Er erhielt keine SMS, keine Post, keinen Besuch. Es war eben ein gewöhnlicher zweiter April für den Rest der Welt.

Bis Utopia

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