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Von Zigarren und Brokat – 1. April, ca. 18:20
ОглавлениеBeim weiteren Fummeln an der Dose wurde Peer das Schwitzen zur Last und legte endlich die Jacke ab, in der er von den beiden Klonen gefesselt wurde. Dann überprüfte er mit ein paar heftigen Kniffen in seine Unterarme, ob er nicht vielleicht doch träumte. Der Umschlag lag aber auf dem Tisch und in ihm lagen noch immer die zweitausend Euro, die, Zählung für Zählung, nicht weniger wurden. Und in seiner Küche lagen auch noch die Seile, mit denen man ihm gefesselt hatte. Auch spürte er noch den Einstich in seiner Schulter und als er den Flur vorsichtig betrat, lag dort auch noch die Gardinenstange, die als armseliges Waffenderivat hergehalten hatte und nicht zum Einsatz kam.
Er entledigte sich seiner restlichen Kleidung im Flur, stopfte Socken, Unterhose und Unterhemd in den Wäschekorb im Schlafzimmer und stellte sich unter die Dusche.
Heißes Wasser wusch dem Mann seinen Schweiß von der Haut. Er schob den Duschvorgang zur Seite und betrachtete sich beim Duschen im Spiegel des Spiegelschrankes. Nicht groß war Peer und nicht fett war Peer. Ein paar Haare am Körper hatte Peer. Der Spiegel ließ sich schnell bedunsten und verschleierte so das mittelmäßige Antlitz des Peer Flint.
Peer begann damit, sich die Brust zu rasieren. Er kühlte eine Einwegrasierklinge mit kaltem Wasser und schmierte seinen Oberkörper mit Rasiergel ein. Dann entfernte er fein säuberlich jedes Haar, das er sehen konnte. Er machte mit seinem Schamhaar weiter, rasierte sich die Hoden und die Achselhöhlen. Die paar Haare um seinen After herum ließ er aus, denn darin hatte er einfach keine Übung. Und einen Schnitt dort stellte er sich unangenehm vor.
Bei ihm hatte eben alles für ihn Relevante immer irgendwie funktioniert, wenn auch nicht immer erfolgreich. Eine Afterrasur hatte bisher noch keiner für relevant erachtet, wenn es um Peer ging. Wahrscheinlich war Peers Arschloch einfach wenig interessant für die Damen gewesen, mit denen er sich im Laufe seine Lebens vergnügt und abgemüht hatte, und daher blieb dort ein Haarkranz stehen, der zarte Ausläufer an seinen Hinterbacken zu bilden wusste. In unregelmäßiger Form gingen die braunen Härchen, die seinen nie bestaunten Hintern bedeckten, in seine etwas dichtere Beinbehaarung über, diese aber - scheuernder Bewegungen im Alltag sei Dank – wies an einigen Stellen Lücken auf. Vor allem an den Innenseiten seiner Oberschenkel, knapp oberhalb der Kniekehlen, fehlten dem nackten Mann Haarpolster, was daran lag, dass er eben diese Körperstellen gerne über sein Bürostuhlpolster scheuerte. Dies geschah ganz automatisch während der Arbeit, stellte aber kein ästhetisches Problem dar; denn selbst, wenn Peer es je schaffen würde, eine Partnerin zu finden, die sich ernsthaft für jedes Detail seines Körpers interessierte, würde sie sich noch immer nicht genug für seine Merkmale interessieren, dass ihr nicht viel eher der überflüssige Haarkranz zwischen den oberen Enden seiner Oberschenkel auffallen würde als die nackten Flächen an den unteren Enden seiner Oberschenkel.
Peer wusch sich ohne Gedanken an seine eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten den Schaum, die rasierten Haare und ein wenig Blut vom Leib und schloss den Duschvorhang wieder. Der Spiegel war kurz darauf völlig beschlagen und bestreikte prophylaktisch jeden aufkommenden Narzissmus.
Das Wasser floss durch die Leitung unter seinem Badezimmerboden entlang, traf dann in Lage der Badezimmerecke auf die Hauptabwasserleitung des Hauses und fiel dann einfach in die Tiefe. Zufälligerweise führte dieses Rohr auch durch die Küche des Mongolen, der gerade den Frust über seine Erfolglosigkeit an seiner Frau in der Form ausließ, als dass er versuchte, ihrem Gesicht mit bloßen Händen eine Tonleiter zu entlocken.
Er scheiterte kläglich, denn ihre stoische Art gönnte ihm nicht einmal ein paar variierte Ausdrücke des Schmerzes. Stattdessen rauschte es nur für ein paar Sekunden, wieder einmal, durch die Küche und der Geschäftsmann ließ von seiner Frau ab. Er stampfte wütend auf und verfiel dann in jämmerliches Gezetere und Geheule.
Peer, der ja irgendwo auch eine Mitschuld an den Dramen in dem Bistro trug, trocknete sich ab, rubbelte sich das Haupthaar anschließend halbtrocken und besah sich dann noch einmal im Spiegel, nachdem er mit dem Handrücken wieder klare Sicht geschaffen hatte.
Da stand er noch immer, völlig unverändert, und blickte aus wachen und doch verwirrten Augen in sein eigenes Gesicht. Krampfhaft suchte er Veränderungen, wurde aber nicht fündig.
Das Gesicht hatte er ja schon am Morgen rasiert, das Haar war nicht so kurz, dass es ihm unangenehm war, sondern so, dass man noch gerade hindurch wuscheln konnte. Leider ließen sich damit die Geheimratsecken, die sich langsam ausbildeten, nicht mehr kaschieren. Peer störte sich aber wenig daran.
Er dachte darüber nach, wie es möglich sein konnte, dass gerade er als genetisches Musterexemplar herhalten sollte. Und weil ihm nichts Besseres einfiel, fragte er Gott um Rat.
Doch der antwortete nicht.
Deshalb kehrte Peer zu seinem ursprünglichen Plan zurück, nämlich, sich im Karpfenschlund ein paar Bier zu genehmigen. Er zog sich an, schlüpfte in seine Winterschuhe, weil diese gerade am nächsten standen und in seine unscheinbarste Jacke und ging. Beim Schließen der Tür kam er nicht umhin, Rubens Arbeit zu bewundern: Die Tür war wie neu. Sie quietschte nicht und das Schloss lief geschmeidiger als je zuvor.
Auf dem kurzen Weg zur Kneipe versuchte Peer, an nichts zu denken. Stattdessen sah er ständig auf sein Handy. Irgendwer würde vielleicht anrufen und ihm sagen, dass alles ein großes Missverständnis war. Schließlich war es ja auch der erste April und an genau diesem Tag konnte alles Mögliche passieren. Gummispinnen, gefälschte Todesanzeigen und Genexperimente waren, so versuchte er es sich einzureden, dem ersten April doch eindeutig immanent.
Doch niemand rief ihn an und er folgte seinem Weg zielstrebig. Die letzten Winterblumen waren verblüht und kümmerten bräunlich vor sich hin. Nackte Bäume flankierten Peers immer gleichen Pfad zur Kneipe, deren Namen man mit verbogenen Hufeisen an die Tür geschweißt hatte.
Wie zu erwarten, war Peer nicht der einzige Gast, aber keiner seiner Freunde war hier. Es roch nach Zitrone und dem Knoblauchatem einiger Gäste – ein vertrauter Duft. Das Rauchen war hier schon einige Zeit untersagt, aber insgesamt hätte es die Luft wohl nicht noch mehr verpestet. Peer kam auch nur hierher, weil er hier halt seine Freunde traf.
Vor ein paar Jahren hatten sie eine Karte der Stadt genommen und waren dann gemeinsam zur geographischen Mitte zwischen ihren Wohnungen gepilgert. Damals fanden sie sich dann an einer Tankstelle wieder, die ihnen als Sozialisationspunkt aber denkbar ungeeignet schien. Der nette Herr von der Nachtschicht hätte gewiss einen guten Wirt abgegeben – darin waren die drei sich einig – aber es fehlte an Gemütlichkeit. Darum fragten sie den Tankwart einfach, wo denn die nächste Kneipe sei und der verwies auf den Karpfenschlund. Und seitdem ging man hier eben hin. Man hinterfragte es nicht, denn es war die Kernqualifikation dieses Etablissements, einfach erreichbar zu sein.
Man störte sich auch nicht an Koi, dem Barkeeper, der zur Begrüßung meist einfach nur nickte. Er war ein bulliger Japaner, der irgendwann mal aus Düsseldorf kam, diesen Laden kaufte und nun betrieb er eben eine Bar. Niemand wusste, wie alt er war, was er mal gemacht hatte und wohin er wollte. Es war generell schwierig, sich mit ihm zu unterhalten. Nicht, weil seine Deutschkenntnisse nicht ausreichend gewesen wären (im Gegenteil: Koi sprach kein Wort Japanisch und beherrschte lediglich Deutsch und Englisch), sondern weil er einfach ein Mensch war, den man als Außenstehender auf seine Aufgabe reduzieren konnte. Und das verkörperte Koi auch einfach und widmete sich in der Regel nur den Aufgaben, denen man sich als Wirt zu widmen hatte.
Also brummte Koi, dessen Name eigentlich Yoshihiro Yamamoto war, seinen Stammgast nur zu, nickte und machte sich daran, ihm das Getränk seiner Wahl zu servieren: Fassbier, kurz gezapft, keine Schönheit in der Schaumkrone. Dieses Fassbier war auch das einzige Bier, das Koi anbot, denn es war dieses mit der besten Gewinnmarge. Ansonsten konnte man noch verschiedene Weine bei ihm ordern, für die er einen halbwegs erlesenen Geschmack hatte, was aber kaum ein Gast würdigen konnte, oder eben die klassischen Spirituosen. Aus sämtlichen Mixgetränken machte sich der Wirt nicht viel, weshalb er dem Ordern eines Gin Tonic, Bourbon Cola oder Wodka Lemon meist mit einem zusammengekrampften Mund, der Kois wahnsinnig spitze Eckzähne komplimentierte, begegnete. Freilich gab es im Karpfenschlund keinen Sake. Oft genau darauf angesprochen, kommentierte Koi diese dumme Frage mit immer neuen pampigen Antworten.
„Habe den Reis dafür gefressen!“ war eine davon. Andere Variationen waren: „Musste ich den Yakuza als Schutzgeld überlassen!“ oder „Zum Sushi?“.
„Früh dran“, kommentierte Koi Peers Erscheinen und machte sich daran, ein Bier zu zapfen.
Und wie gern hätte er sich währenddessen eine Zigarette angezündet, aber er war sich nicht einmal sicher, ob er als Wirt genug Hausrecht hatte, um dies zu tun. Nun hatte er eben eine Nichtraucherkneipe, weil er ja pünktlich mit Beginn der Nichtraucherschutzgesetze in einigen Teilen des Landes auch aufgehört hatte, zu rauchen. Also hatte er es per Notizzetteldekret erlassen und niemand störte sich daran. Eines Tages hing ein Zettel an der Außenseite der Tür, auf der in ungefähr anderthalb Sätzen dargelegt war, dass das Rauchen ab sofort untersagt sei. Seine Gäste kamen ja dennoch und rauchten sonst einfach vor der Tür oder auf der Toilette.
„Ja. War ein nur schwieriger Tag. Alles gut bei dir?“
„Geht dich einen feuchten Dreck an. Setz dich“, brummte Koi.
Die gewohnte Herzlichkeit beruhigte Peer. Hier war er erst einmal sicher. Keiner würde ihm Pfeile in die Schulter schießen, niemand würde ihm verrücktes Zeug über die perfekte Genetik erzählen und niemand würde ihn reich machen wollen.
„Habe einen Bonus bekommen“, log Peer und nahm sich einen der zwanzig Hunderter, die er vorhin erhalten hatte. Koi betrachtete kurz das Geld. Dann betrachtete er Peer.
„Hast du nicht“, flüsterte er dann. Man konnte Koi nicht belügen, aber er stellte auch keine Fragen. Da gab es kein Entrinnen. Und selbst wenn Peer dem mies gelaunten Typen auf der anderen Seite des Tresens alles erzählt hätte, hätte keiner etwas dabei gewonnen. Peer hätte man in Säure auflösen müssen und Koi würde ohnehin nur halbherzig zuhören. Sein Desinteresse an den Belangen der Gäste war bei selbigen legendär. Aber es führte auch dazu, dass sich allerlei im Karpfenschlund abspielte: In ruhigen Ecken wurde zum Teil völlig offen über dubiose Geschäfte diskutiert und Verheiratete und Verpartnerte brachten ihre Affären gerne mit. Zwar kannte Koi viele erzählenswerte Geschichten, aber er gab sie nie zum Besten.
Also beließen es der Wirt und sein Gast dabei, dass der Wirt den Gast als zahlungskräftig verstand. Peer setzte sich weit von allen weg und signalisierte so, dass er nicht ins Gespräch kommen wollte.
Zwanzig Euro inklusive Trinkgeld später, erschien es Peer sinnvoll, das erste Mal im Leben eine Prostituierte zu sich zu bestellen. Nicht, dass er nicht auch mal so Frauen kennengelernt hätte. Aber das waren halt Frauen in seiner Liga gewesen, wie er es selbst immer ohne Schmerz formulierte. Sie waren meist entweder süß, hübsch, intelligent, gut im Leben stehend oder emotional abgeklärt gewesen. Aber noch nie vereinigte eine seiner Frauen all diese Eigenschaften, was er beharrlich darauf schob, dass das eben die weniger perfekten Frauen waren, die er kennen lernte.
Aber so eine Prostituierte: Ficken. Zahlen. Aus.
Oder gab es bei sexuellen Dienstleistungen Vorkasse? Das wusste er natürlich nicht, war aber entschlossen, es herauszufinden.
Er verabschiedete sich deshalb gegen halb neun von Koi und den beinahe unbekannten anderen Gästen und stapfte nach Hause. Seine Laune war besser als noch vor ein paar Stunden und er lächelte auf dem Rückweg dümmlich vor sich hin. Noch immer hatte sich niemand bei ihm gemeldet.
Beim Mongolen brannte noch Licht und es roch ein wenig nach vergorener Milch. Peer überlegte sogar kurz, vielleicht noch ein wenig zu essen und dem Bistro eine Chance zu geben. Aber da durchzuckte ihn der Gedanke, dass es sich wahrscheinlich nicht lohnen würden, denn immerhin sah er ja nie wirklich Gäste dort. Dazu kam, dass der Küchenchef und Inhaber gerade wieder damit beschäftigt war, seiner Frau zu erklären, warum sie an seiner Misere schuld sei. Fremde Worte drangen an Peers Ohr, aber das Geschrei wirkte nicht einladend. Also ging Peer in seine Wohnung, freute sich abermals über die nicht quietschende Tür und räumte die Küche auf.
Dann sorgte er für gedämpftes Licht und befand sich für völlig nüchtern, obwohl er inklusive des Dosenbieres knapp drei Liter Bier getrunken hatte. Dementsprechend musste er dringend pinkeln, was vor allem dazu führte, dass das Gezeter des Mongolen wenig später wieder vom Rauschen des Abwasserrohres begleitet wurde. Dann setzte sich Peer vor den Computer und suchte nach Agenturen, die Frauen für möglichst viel Geld vermittelten.
Claire, so hieß es da zum Beispiel, würde auch dem schüchternsten Mann einen unvergesslichen Abend bereiten. Sie erfüllte jede Fantasie, die nichts mit Fäkalien zu tun hatte. Sogar ein Catwoman-Kostüm nannte sie ihr Eigen. Blond, klein und kurvig war sie, mit einem gewinnenden Lächeln und beeindruckend schönen Augen.
Dann war da noch Leyla, eine schwarzhaarige, dickbusige Domina für besondere Stunden. Bei ihr gab es alles: Psychische und sexuelle Dominanz. Stiefellecken und Natursekt inklusive. Das irritierte Peer zutiefst, denn er fand es schon immer absonderlich, wenn Menschen solche Fetische hatten. Beim Gedanken daran, sich anpinkeln zu lassen, dachte er vor allem daran, dass man so etwas ja auch wieder reinigen musste. Und sein Badezimmer war für ihn einfach kein Ort für sexuelle Handlungen.
Ruby wurde damit beworben, besonders kultiviert zu sein. Sie sei ideal für Rollenspiele, die ein mächtiger Mann sich wünschen könnte, hieß es da. Peer gefiel diese Beschreibung, auch wenn er weit weg von diesem mächtigen Mann war, der man wohl sein musste. Diese Ruby war irgendwie süß und optisch keineswegs perfekt. Aber sie hatte bildhübsche Augen, war von angenehmer Statur; nicht zu groß, nicht zu klein und sie hatte keine Brüste, die Rückenbeschwerden verursachten. Einer ihrer Zähne wirkte auf dem Bild ein wenig schief und sie schien überhaupt kein Make-up zu tragen. Sie verfügte über eine Natürlichkeit, die Peer sehr anziehend fand.
Aber Peer wollte keine kultivierte Frau am diesem Abend, denn dafür – sein Sinn für Realismus meldete sich doch noch – war er zu betrunken. Er schwor sich allerdings, vielleicht zu einem besseren Zeitpunkt, wo es ihm nicht nur darum ging, das Ganze auszuprobieren, auf sie zurückzugreifen.
Etliche Profile später gab er es dann auf und rief einfach die Nummer der Agentur an.
„Guten Abend! Willkommen in unserem Hause!“, säuselte es wenig später rauchig aus der Leitung.
„Hallo“, sagte Peer und es versagte ihm die Sprache.
„Nicht so schüchtern“, ermutigte man ihn.
„Also, ich heiße Peer. Und ich wollte wissen, ob Sie vielleicht jemanden aus Ihrem Hause empfehlen können“, stammelte Peer. Sprach man so mit einer Puffmutter? Peers Gedanken kreisten um die Berufsbezeichnung seiner Gesprächspartnerin.
Diese sagte: „In unserem Hause gibt es für jeden Anlass die richtige Gespielen, junger Mann. Sind Sie gestresst?“
Und wie er das war!
„Hmmm“, machte es. „Müssen Sie etwas vergessen und wollen sich einfach gut ablenken? Aber ohne, dass es billig wirkt, ja?“
„Ja!“, antwortete der Peer unbeholfen und hoffte, dass man seinen Zustand nicht schon erahnen konnte. Diese Frau, mit der er sprach, war offensichtlich ein Profi. Natürlich machte sie nur ihren Job und ähnlich wie Seelenflüsterer, die einfach eine unendliche Menge an Allgemeinplätzen von sich geben, bis sie richtig liegen, funktionierte hier auch die persönlich zugeschnittene Vermittlung einer Frau für einen zahlenden Kunden.
„Wie schaut denn Ihr Budget aus? Ich hoffe doch, Sie wissen, dass es hier nur edle Wesen gibt“, erkundigte man sich.
„Fünfzehnhundert Euro?“
„Ah. Hmmm. Ja... Das bekommen wir hin. Eine schöne Frau für Sie. Leidenschaftlich, aber völlig professionell. Sie wird Sie ablenken und entführen. Sie wird Sie entspannen, ganz egal, wie es Ihnen gerade geht! Wie klingt das? Haben sie einen Typ, auf den Sie besonders stehen, Peer?“
Er verneinte und die Dame am Telefon versprach ihm ein Mittel zur Linderung seiner Bedürfnisse innerhalb von dreißig Minuten, nachdem er die Adresse nannte.
Peer seufzte. Dann besann er sich seiner Gastfreundschaft und holte einen roten Wein aus dem Keller. Auf dem weißen Etikett prangten schmucklos die Buchstaben T und C für Tempranillo Cabernet. Es war alles andere als ein edler Tropfen, aber der Wein schmeckte immerhin ein wenig nach Weihnachten – nur tot und bitter. Das wusste Peer allerdings nicht, denn er hatte ihn einfach irgendwann mitgenommen, weil ihm das sterile Etikett so gut gefiel. Der Wein hatte einige Zeit neben seinem Kühlschrank gestanden, weil es dort auch schattig und kühl war.
Er putzte sich fünf Minuten lang verkrampft die Zähne und bekam Zahnfleischbluten. Dann packte er das Schmieröl wieder an seinen Platz, entsorgte das fettige Küchenpapier und setzte sich in die Küche. Am Tisch sitzend kramte er 1500 Euro aus dem Umschlag und klemmte sie hinter den Wasserhahn der Spüle. Dann setzte er sich hin und war erwartungslos. Er versuchte noch, sich Gründe für seinen spontanen Einfall auszudenken, wurde aber nach einer Viertelstunde vom Klingeln der Tür unterbrochen.
Er öffnete die stumme Tür und vor ihm stand eine junge Frau mit leicht dunklem Teint. Sie hatte graue Augen, die sie wohl besonders ausgetüftelten Kontaktlinsen verdankte, wunderschön geschwungene Lippen und welliges dunkles Haar. Ihr roter Mantel gab ihr eine pharaonengleiche Würde und erhöhte ihre kleine Statur um einige Zentimeter. Peer sagte erst einmal nichts und betrachtete sie nervös. Er schwitzte ein wenig und versuchte, sie möglichst elegant mit einer Handbewegung hineinzubitten.
Sie deutete scherzhaft eine Verbeugung an und Peer konnte sehen, dass in ihrem Haar goldene Strähnen waren, die im seichten Flurlicht besonders zur Geltung kamen. Er nahm ihr den Mantel ab. Darunter trug sie ein lila Cocktailkleid, das ebenfalls mit goldenen Linien verziert war.
„Ich heiße Brokat“, stellte sie sich vor und gab sich wenig Mühe, besonders verführerisch zu sein. Sie hatte Peers Nervosität sofort erkannt und wollte ihn nicht überfordern. Schließlich war sie sich ihres Charmes und ihrer Schönheit vollkommen bewusst. Man konnte sogar sagen, dass sie ein wenig arrogant war – keineswegs unangenehm oder unangebracht arrogant, sondern einfach sehr selbstbewusst und sich ihrer Stärken bewusst.
Dass gerade sie zu Peer geschickt wurde, lag vor allem daran, dass Mandy, die normalerweise die schüchternen Luschen mit Geld abzuspeisen hatte, gerade erkrankt war. Und Brokat hatte für diesen ersten April einfach keinen Termin geplant, weil sie die letzten Tage in einem Rausch verbracht hatte, der auch den stärksten Seemann zum Staunen gebracht hätte. Sie hatte literweise getrunken, hatte sich diverse Mittelchen eingeworfen und die vielen Stunden der letzten Tage lachend und weinend auf dem Fußboden irgendeines Kellers verbracht. Einmal im Monat brauchte sie das einfach zum Ausgleich. Nicht, dass ihre Arbeit ihr nicht gefiel, aber neben all dem Handwerk brauchte es eben auch mal die freie Kunst. Und die gab es nur ohne Kontrolle. Glücklicherweise war sie schon vor einigen Stunden aus dem Delirium der letzten Tage erwacht und hatte sich recht erfolgreich herrichten können.
„Peer“, stellte sich ihr Klient vor und reichte der Schönheit die Hand. Die zog in zu sich und gab ihm drei Wangenküsschen. Sofort bekam der Gastgeber eine Erektion, die sie beim Ausziehen der Schuhe sehr sanft mit ihrem Haar durch die Kleidung berührte. Peer stand wie angewurzelt da und hoffte, dass irgendetwas passieren würde. Dann fiel ihm der Wein ein, der neben dem Kühlschrank wartete.
„Komm zu mir in die Küche, bitte“, bat er sie und ging voran.
Brokat beschloss kurzfristig, Peer das Tempo des Abends bestimmen zu lassen. Immerhin war es noch früh und für das Geld war nun wirklich keine Hektik mehr nötig. Dazu war sie zwar optisch hergerichtet, aber in ihr herrschte noch immer angenehme Restleere.
Peer bedeutete ihr, Platz zu nehmen und goss ihr ein Glas Rotwein ein. Er war fast schon schwarz und roch ein wenig nach Moder, aber Brokat beschwerte sich nicht. Alkoholische Getränke störten sie selten.
„Und Peer, was machst du so? Du siehst so erschöpft aus. So unentspannt. Und ein bisschen gierig“, besann sich Brokat ihrer Pflicht.
„Ich bin bin im Handel tätig. Und heute war ein Tag, der nicht normal war. Das ist wohl alles, was ich sagen kann.“
„Schwierige Geschäftspartner?“, heuchelte Brokat Interesse.
„Kann nicht darüber reden. Und was machst du so?“, fragte Peer dummerweise.
Ein Schnalzen mit der Zunge war die Antwort. Dann zog sich Brokat den einen Träger ihres Kleides herunter, wodurch ihre Brüste ein wenig besser zur Geltung kamen. Sie waren völlig glatt, so weit Peer das erkennen konnte und von dem makellos schönen Hautton, den sie auch im Gesicht hatte.
„Was möchtest du, was ich mache?“, hauchte sie.
Ehe Peer sich seiner Erektion, die ihm viel zu schnell aufrecht zu stehen schien, hingeben wollte, hatte er aber noch etwas herauszufinden. „Zahlt man bei dir im Voraus?“, fragte er deshalb.
„Du bei mir nicht. Kommt immer auf den Typen an. Und auf die Frau. Das ist eine Sache der Menschenkenntnis. Und ich habe viel davon.“
Die Antwort war Peer nicht befriedigend genug. Er wollte einfach wissen, was in dieser Branche üblich war. Und er wollte sich unbedingt von seinem Penis lösen. Wohin das ganze Getue führen sollte, wusste er auch nicht, aber seine Fragen zur Zahlung strapazierten Brokats Nerven doch nach einigen Minuten. Sie führte geduldig aus, dass Vorkasse das gewöhnliche Mittel der Wahl war. Eine Frage des Stils wäre es wohl auch; so würden Escortdamen in ihrer Agentur zum Beispiel häufig direkt mit der Agentur abrechnen und die Klienten zahlten auch direkt an die Agentur. So wurden Geld gegen Sex durch Auftrag und Dienstleistung abgelöst. Das sei vielen Klienten lieber.
Und sie, Brokat, bevorzugte es, danach bezahlt zu werden. Der Aspekt der Bezahlung an sich störte sie nämlich zutiefst. Sie bot zwar sich an, wollte sich aber nicht fühlen wie eine Ware. Darum erfand sie immer neue Ausreden sich selbst gegenüber, wenn sie Geld erhielt. Mal war es dann für das Taxi, mal für die nächsten Drogen, mal für ein neues Cocktailkleid, häufig auch für die Erweiterung ihrer beträchtlichen Kunstsammlung. In ihrer Wahrnehmung übersprang das Geld sein Wesen als Zahlungsmittel, sondern war ausschließlich als Geschenk und zum Konsum gedacht. Sie liebte natürlich ihren Lebensstil, den sie dem Verkauf ihres Körpers verdankte. Und darauf zu verzichten, war ihr ein Graus und so arrangierte sie sich mit all den Pflichten, die er mit sich brachte.
Den Punkt mit dem Drogen und den gelegentlichen Zweifeln unterschlug sie in ihren Ausführungen zwar, aber an diesem Mann, der heute ihr Gastgeber war, fand sie einfach so gar nichts Hinterlistiges und so ließ sie ihre üblichen Mauern heute flach sein.
Für einen Moment, beim zweiten Glas Wein, spürte sie ein Blitzen in Peers Augen. Sein Blick streifte beiläufig ihre Schultern und ihren Ausschnitt, wanderte dann zurück zur Schulter und über ihren Arm zum Weinglas hin. Dort haftete sein Blick am Rand des Glases, der von Wein und Gesichtspflege benetzt war, wanderte einmal einen kaum sichtbaren Kreis und kam dann stirnrunzelnd auf dem Boden des Weinglases zum Erliegen.
Brokat errötete ein wenig und wunderte sich darüber, denn sie spürte, wie ihr die Wärme in die Wangen stieg. Und prompt fragte ihr Gastgeber sie, ob alles in Ordnung sei, sie sei plötzlich so gefärbt um die Nase herum. Ob es am Wein läge. Ob die Unterhaltung zu weit gegangen sei. Er wisse ja nicht, was der Standard bei einer Frau ihrer Klasse sei.
„Alles in Ordnung“, wiegelte sie schnell ab.
Peer leerte die Weinflasche bis zum letzten Tropfen in ihr Glas. Dabei legte er eine fachmännische Präzision an den Tag, die Brokat mittelmäßig beeindruckte.
„Wollen wir danach ins Schlafzimmer?“, fragte er währenddessen und hatte Selbstvertrauen gefasst.
„Wie du wünschst“, flüsterte Brokat. Sie hatte ihre Professionalität schnell wieder erlangt.
Sie wusste noch nicht genau, welche Hüllen an diesem Abend fallen würden. Und der grauenhafte Rotwein machte ihr auch zu schaffen, denn er reagierte mit den Resten irgendwelcher Substanzen, die sie sich am Vortag eingeworfen hatte.
Kurz darauf hatte der neureiche Mann eine sexuelle Begegnung mit einer Frau, die definitiv nicht zu denen passte, mit denen er sich sonst eingelassen hatte. Und trotz anfänglicher Schwierigkeiten genoss er, wie sich der edle Stoff um seinen Körper schloss.
Unterdessen spielte Melv Svenson ein Computerspiel, in dem es darum ging, einer Psychiatrie zu entfliehen. Es gefiel ihm sehr. Es kam ihm sogar der Gedanke, einen kleinen Dankesbrief nach Hamburg ins Entwicklerstudio zu schicken, doch er verwarf diesen Gedanken. Er war sich nicht einmal sicher, ob Briefe ohne Absender (und anders wäre es ihm kaum gestattet gewesen) überhaupt ankamen. Auch Peer Flints Adresse als Absender zu wählen, kam ihm irgendwie unpassend vor. Abgesehen davon wollte er nicht riskieren, dass Peer eine Antwort von seinen Helden erhielt. Diesbezüglich war Melv ein Egoist, denn es war ja schließlich seine Leidenschaft.
Gleich dann, wenn Melv wieder im Quartier von GAS sein würde, würde er den Bob, der ja für solche Fragen zuständig war, fragen, unter welchen Angaben es ihm denn gestattet sei, Briefe zu schreiben. Aber erst musste er dem Bob ja glaubhaft vermitteln, welcher der Klone er war.
„Kann ja jeder vertauschen“, würde der Bob dann nach einem Betrachten des Namensschildes sagen. Dann würde der hässliche Klotz wieder nach irgendeiner ellenlangen Nummer fragen und Melv damit enorm frustrieren. Melv verwarf also seinen Gedanken ans Briefeschreiben endgültig.
Ebenfalls am selbigen Abend hatte Ruben Svenson den schwarzen Van noch nicht wie versprochen zurück zur organisationseigenen Garage gebracht. Er fuhr stattdessen durch diese Stadt, in der die Lichter größtenteils erloschen waren. Es schienen nicht alle Menschen lebensbejahend und reich die Straßen zu bevölkern, wie Peer Flint es nun – Rubens Ansicht nach – tun sollte.
Der Gedanke betrübte Ruben ein wenig, denn sein Gefühl für Gerechtigkeit war aus irgendeinem Grund ausgeprägter als das seiner Brüder. Auch damals, als sie großgezogen worden waren, war er immer der, der einen Streit am ehesten zu schlichten vermochte. Heute ließ er sich vor allem herumkommandieren, weil ihm das das Denken abnahm. Und auch, wenn er seine Klonbrüder abgöttisch liebte und auch sein Leben für Sunday Chart opfern würde, war es ihm in letzter Zeit öfter so, als fehlte ihm etwas. Bedingt dadurch, dass man auch ihm aller Fähigkeit beraubt hatte, auf Süchte hereinzufallen, war er auch kaum dazu fähig, ein starkes Gefühl des Verliebtseins zu spüren. Man hatte ihm dies allerdings immer verschwiegen, weshalb es ihm nur diffus bewusst wurde. Aber wann immer er einen Menschen kennenlernte, der in ihm etwas auslöste, hielt dieser Dopaminrausch nur wenige Tage lang an und wurde dann eher zu einer minimalen Vernebelung. Gerade eben genug, um es zu spüren, aber kaum genug, um es zu missen – so war Rubens Liebe gelagert.
Irgendwann war es ihm aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass er sogar ein wenig anders war als seine Brüder – und per Definition waren sie eins – er war auch anders als die Menschen außerhalb des Systems, mit denen er natürlich Kontakt haben musste. Er empfand diesen Umstand als Makel. Umso gewichtiger empfand er ihn, als er sich auch an diesem Abend vor Augen hielt, dass die Reihe Svenson als unglaublich erfolgreiche Reihe galt.
In der Regel lenkte er sich von seinen Sorgen damit ab, sich wichtig zu fühlen oder etwas herzustellen. Wenn er etwas wie das Blasrohr nach einiger Zeit in den Händen hielt und wusste, dass er etwas geschaffen hatte, fühlte er sich gut und vergaß, dass auch er nur ein Werkzeug war. Auch war er ein wandelndes Lexikon, wusste ständig Rat und hatte sachdienliche Ratschläge für Dinge parat, über die andere nicht einmal nachdachten.
Nach einigem ziellosen Gefahre mit dem dicken Wagen fand er sich an einer Tankstelle wieder. Er kaufte sich eine billige Zigarre für knapp über zwei Euro, fuhr bis zum Gewerbegebiet, riss die Zigarre mit den Zähnen auf und paffte sie dann in der Einfahrt des Recyclinghofes der Stadt.
Die nichtssagende Aprilluft umwehte sein sanftes Gesicht. Die Dunkelheit der Stadt kam aus den Straßen gekrochen und wollte nichts von ihm. Keine Ablenkung, keine Arbeit, keine Verpflichtung beutelten ihn noch. Nur ein halber Mensch mit einer ganzen billigen Zigarre stand dort und hielt andächtig seine Gedanken in den Abend. Passanten hätten dieses Bild wahrscheinlich für merkwürdig befunden, aber auch die Passanten fehlten. Es gab nur Ruben und sein Verlangen nach den Dingen, die er nicht einmal benennen konnte. Ein paar Sterne kümmerten sich nicht um ihn und strahlten vor sich hin. Die Wolken schoben sich vor den Mond. Irgendwo zischte es laut aus einem der umliegenden Gebäude. Ein paar Lichter wurden gelöscht.
„Genug!“, schrie Ruben dann in den stillen Tod des ersten Aprils. Seine sanfte Stimme hallte zwischen Mülltonnen wider.
Der Van setzte sich kurz darauf mit Ruben darin in Bewegung, durchbrach die Schranke des Recyclinghofes und donnerte auf die Rampe, von der aus der Müll in die Container glitt. Ruben suchte rein interessehalber nach einem Container für biologischen Abfall, wurde aber nicht fündig. Dann nahm er eine herumliegende Eisenstange und zerlegte damit den Tankdeckel seines Wagens. Es roch ein wenig nach Benzin und Müll. Im Mund hatte er immer noch die billige Zigarre, die kaum gegen den Gestank ankam. Eine Alarmsirene begleitete sein Treiben.
Ein paar Sekunden später lag das Auto seitlich im Holzcontainer. Kraftstoff sickerte auf die Reste und vermischte sich mit Splittern, Lack und den fälschlich weggeworfenen Plastikteilen. In dem zerbeulten Wagen hing, noch immer angeschnallt und ein wenig überrascht von sich selbst, der junge Rotschopf mit den besonderen Augen. Er kramte die Fahrzeugpapiere aus dem Handschuhfach und entzündete sie mit der billigen Zigarre. Den brennenden Klumpen ließ er durch das Fenster unter sich gleiten.
Wenig später erreichte ihn alles verzehrendes Feuer.
Im Molkereipfad 64 wussten die sexuell Vergnügten von all dem nichts. Der Klient war zu seiner Unzufriedenheit sehr schnell zum Höhepunkt gelangt, was Brokat auf dessen Müdigkeit schob. Leicht schwitzend saßen sie dann auf dem Bett und teilten sich ein Glas Wasser.
„Macht dir das Spaß?“, fragte Peer.
„Warum fragst du?“, wollte Brokat wissen.
Das wusste Peer natürlich selbst nicht recht. Er fand die Frage einfach naheliegend. Was er aber mit Gewissheit sagen konnte, war, dass er er sich wünschte, Brokat würde noch ein wenig bleiben. Er wollte den Abend nicht allein ausklingen lassen und ihm fiel auch sonst niemand ein, der noch spontan an einem Werktag seine Worte ertragen wollte.
„Ja, eigentlich habe ich wirklich Freude an meiner Arbeit“, sagte sie dann.
„Eigentlich?“, stocherte Peer nach.
„Kein aber. Ich mag es. Ich verdiene Geld, manchmal habe ich sogar Spaß dabei und nicht alle Typen sind schmierige Schweine, die sich einfach was Gutes leisten können. So ist das nicht. Die meisten wollen mit ihrem Geld ihre Macht zeigen und glauben, sie bekommen alles. Sogar, wenn sie sich eine Domina nehmen, beweisen sie ihre Macht dadurch, dass sie sie bezahlen. Aber viele sind auch einfach - .“ Hier unterbrach sie ihren Satz und schaute in das Wasserglas. Es war halb geleert.
„Viele sind wie – ?“, fragte Peer ahnend.
„Wie du“, gab Brokat dann zu und schämte sich ein wenig für die Aussage. „Haben Geld, aber sind unsicher und irgendwie schwierig zu fassen. Ich meine, wir hatten Sex. Ist ja einfach für einen Mann wie dich und eine Frau wie mich. Das volle Programm kann ich natürlich jemandem wie dir gern bieten. Ich habe da keine Probleme. Aber du warst nicht bei der Sache, Peer. Meistens ist das so, wenn der Klient verheiratet ist.“ Brokat machte eine bedeutungsschwere Pause und schaute noch immer ins Glas. Es war kein Alkohol darin. „Bist du verheiratet? Wäre mir egal, ich will es nur wissen.“
„Nein, bin ich nicht“, antwortete der ledige Archetyp eines Freiers.
„Schwul?“, sprach Brokat ihre nächste Überlegung an. Im Glas waren nur langweilige Wasserstoffbrückenbindungen und ein paar Spurenelemente.
„Nein!“, kam es schnell zurück.
„Was beschäftigt dich dann?“, wollte Brokat wissen. Sie ärgerte sich enorm ob ihrer Unprofessionalität. Eigentlich konnte sie diesen Mann nun einfach wieder in sein Leben entlassen.
„Geld“, sagte Peer dann nach einigem Überlegen. „Mich beschäftigt Geld. Ich werde wohl sehr viel Geld erhalten. Und ich weiß nicht, wie ich das ausgeben kann. Ich zerbreche mir den Kopf schon den ganzen Abend darüber. Aber ich komme zu keinem Schluss. Und eigentlich verdiene ich genug. Ich brauche dieses Geld nicht einmal. Aber ich muss es nehmen.“
„Dann gib es mir“, sagte Brokat. Wieder so ein Fehler im Ausdruck, der ihr an anderer Stelle nicht passiert wäre. Aber es war ja schließlich schon spät und das stille Wasser hatte ihr nicht gut getan.
„Ich kenne dich doch gar nicht“, gab Peer wenig abweisend zurück. Der Gedanke, einer Wildfremden sein Geld zu geben, erschien ihm immerhin logischer als alles andere, was bisher seinen Tag versaut hatte.
„Stimmt“, antwortete sie und schaute durch das mittlerweile geleerte Glas in Peers Gesicht. „Aber wir können uns kennenlernen. Und dafür müsstest du mich eh vorerst bezahlen. Schauen wir doch, wie es wird. Und ich will, dass du mich richtig kennenlernst. Und zwar jeden Aspekt meines Körpers zum Beispiel. Du hast etwas, was mir Spaß macht, Peer.“
„Danke. Was denn?“, fragte er. Er hatte angenommen, sich im Bett ziemlich blamiert zu haben, aber das kam häufiger vor, wenn es mit einer unbekannten Frau geschehen sollte. Daran gewöhnte man sich.
„Du bist ruhig, du bist harmlos, du magst Ordnung. Die Haustür unten quietscht, deine Wohnungstür ist aber geschmeidig. Du schenkst Wein sogar perfekt ein, wenn du getrunken hast und ich habe noch nie ein so sauber gemachtes Bett gesehen. Und du hältst beim Ficken einen perfekten Viervierteltakt.“
„Super“, kam es nur geschlagen zurück.
„Danke für den Wein. Das Geld nehme ich mir, ja? Habe es schon gesehen. Und ich sag der Agentur, sie sollen dir meine Karte schicken. Da steht alles drauf: Telefonnummer, Maßen, Bild von mir. Du bist dann ein V.I.P.“, verabschiedete sich Brokat und zog sich schnell wieder an. Keine Dusche, kein letzter Kuss, gar nichts. Nur das Davonfliegen einer neuen Erfahrung, die auch eine neue Erfahrung gemacht hatte.
Peer war am Abend des ersten Aprils immerhin schon 1220 Euro losgeworden (Brokat hatte ihm „nur“ 1200 Euro in Rechnung gestellt, was eigentlich noch immer zu viel dafür war, dass sie den Abend nicht mit ihm ausklingen ließ) und legte sich kurz nach Mitternacht ins Bett. Er versuchte zu beten, weil er sich davon etwas versprach, aber es mochte ihm nicht so recht gelingen. Dann versuchte er, zu verstehen, warum er sich nicht anders fühlte als sonst und schob es einfach darauf, dass er angetrunken war und deshalb nicht genug Feingespür für sich selbst haben konnte.
Immerhin hatte er gut getrunken und eine schöne Frau in seinem Bett gehabt. Als durchschnittlicher Mann war er damit zufrieden, als Mensch war er schlichtweg einsam. Aber auch die Einsamkeit ertrug er als fühlendes Wesen ganz gut. Er sagte sich, dass neue Tage neues Glück brächten – daran glaubte er tatsächlich.
Hätte das Gesamte der Existenz einen Plan für die Ereignisse gehabt, dann wäre die Pointe eventuell „April, April!“ gewesen. Die Existenz hätte Peer angerufen, oder ihm eine Gummischlange auf die Schulter geklatscht. Aber es handelte sich eben nicht um einen großen kosmischen Scherz.
Aber da es Peer wie allen Menschen ging, war da nichts, was ihn ausgeklügelterweise in diese Situation gebracht hatte. Niemand hatte die Welt so hergerichtet, dass genau er an genau diesem Tage diese Dinge erlebte. Sie waren einfach passiert und damit hatte sich die Sache für die Götter auch schon erledigt.
Das Einmischen durch irgendeine höhere Macht war zu diesem Zeitpunkt aber die leichter zu verstehende Erklärung für Peer Flint.