Читать книгу Von Selbst zu Selbst - Martha Sweezy - Страница 20
Xander und Naomi
ОглавлениеBei Naomi ist es in der Arbeit heute schlecht gelaufen, und als sie nach Hause kam, forderten die Kinder ihre Aufmerksamkeit. Obwohl Naomi erschöpft und überfordert war, hat sie getan, was getan werden musste. Sie hat überlegt, was sie zum Abendessen kochen soll, sie hat den Hund gefüttert und Karotten für die Kinder geschält, damit sie aufhören, Käse und Cracker zu futtern. Dennoch haben scheinbar weder ihr Mann Xander noch die Kinder wahrgenommen oder anerkannt, was sie alles getan hat. Ein Teil in ihrem Innern fühlt sich allein, nicht wertgeschätzt und wird immer ärgerlicher. Eigentlich will dieser Teil von Xander getröstet werden, aber Naomi ist mit einem Teil verschmolzen, den man als »Manager-Mama« bezeichnen könnte. Dann fällt ihr auch noch auf, dass Xander vergessen hat, den Abfall runterzubringen. Wieder einmal! Für den sich nicht wertgeschätzt fühlenden Teil, der Trost und Zuneigung bräuchte, ist das ein weiterer Beweis, dass niemand sich um ihn kümmert. Deshalb tritt ein wütender beschützender Teil auf den Plan. Und weil Naomis System mit Wut überschwemmt wird, nimmt sie die Bedürfnisse des Teils, der sich nicht wertgeschätzt fühlt, überhaupt nicht wahr. Stattdessen denkt sie, Xander müsste doch wissen, wie sehr sie es verabscheut, in der Küche mehrere stinkende Müllsäcke vorzufinden, wenn sie nach Hause kommt.
Eigentlich will Naomi sich wertgeschätzt und geliebt fühlen, und ihr System war verständlicherweise der Ansicht, dass Xander das leisten könnte. Aber statt Xander mitzuteilen, dass sie seine Aufmerksamkeit und Unterstützung braucht, geht sie in die Luft. Ihr wütender Teil hofft dabei, dass Xander ihr Bedürfnis erkennt und sie rettet, aber das ist ihr nicht bewusst.
Verständlicherweise ist Xander von Naomis Wut überrascht und verletzt. Auch er hatte einen langen Arbeitstag; er war gerade damit fertig, die Einkäufe einzuräumen, die er auf der Fahrt nach Hause besorgt hat. Ein Teil von Xander fühlt sich daher – wer hätte das gedacht? – ebenfalls überfordert und nicht wertgeschätzt. Jetzt leiden beide. Xander blafft zurück und beschuldigt Naomi, zu meckern und ihn anzugreifen. Der Streit untergräbt das Vergnügen daran, am Tagesende zu Hause zu sein, gemeinsam zu kochen, sich auf eine gute Mahlzeit mit den Kindern zu freuen und so weiter. Beide haben von der anderen Person nicht das bekommen, was sie wollten und brauchten.
Weshalb ist es dazu gekommen? Weshalb ernten wir das Gegenteil dessen, was wir uns erhofft haben? Weil wir zu der Illusion neigen, unsere Entscheidungen wären bewusst, erwachsen und auf die aktuelle Situation angepasst, während wir in Wirklichkeit so reagieren, wie frühere Erfahrungen es uns gelehrt haben. Gegenwart und Vergangenheit sind im Gehirn eng miteinander verknüpft. Wenn wir uns bedroht fühlen, wird in der Amygdala, dem primitiven Teil des Gehirns, das sich um unser Überleben und unsere Sicherheit kümmert, eine Reaktion ausgelöst. In der Amygdala ist unser implizites Gedächtnis gespeichert, das existiert, ohne bewusst wahrgenommen zu werden. Zum Beispiel wissen wir ohne Beteiligung des Bewusstseins, wie man Rad oder Auto fährt. Implizite Gedächtnisinhalte, die unter anderem zum Selbstschutz verwendet werden, bilden sich hauptsächlich in der Kindheit, in Zeiten von starkem Stress und dann, wenn unser Überleben gefährdet ist. Wenn in der Gegenwart implizite Erinnerungen wachgerufen werden, reagiert das Gehirn so, als befände es sich in der Vergangenheit (Cozolino 2002).
Wenn unser Gegenüber also etwas sagt oder tut, was uns an eine schmerzhafte frühere Erfahrung erinnert, kommt die Schutzreaktion oft ausgesprochen stark und blitzschnell. Als Naomi die vollen Müllsäcke sah, hat sich ein Teil von ihr, der sich früher ungeliebt (und nicht liebenswert) gefühlt hat, wieder so gefühlt. Als Reaktion darauf ist ihr beschützender Teil zum Angriff übergegangen. Passiert ist das, bevor sie auch nur einen Moment Zeit hatte, sich daran zu erinnern, dass Xander sie liebt, egal, ob er den Müll runtergebracht hat oder nicht. Die Geschwindigkeit, mit der wir emotionale Gefahren verarbeiten, verhindert Beurteilung, Reife und Weisheit (Cozolino 2002 und 2008; Siegel 2009). Die entscheidende Perspektive, die wir von unserem Zeitgefühl ableiten, wird durch die aktuelle Bedrohung außer Kraft gesetzt. In der Sprache unserer Therapiemethode versucht ein beschützender Teil ein stark aktiviertes inneres System abzuschirmen. Neurowissenschaftlich ausgedrückt, manifestiert die Aktivierung der Amygdala sich als Über- oder Untererregung. Das Paar trifft keine bewussten Entscheidungen, was nicht seine Schuld ist. Es verhält sich schlicht und einfach menschlich.
Der Ausgangspunkt einer Paartherapie zeichnet sich daher typischerweise durch negative Argumentationsmuster aus. Unabhängig vom Inhalt und davon, wer angefangen hat, sind solche Interaktionen vorhersehbar. In IFIO suchen wir wie in der systemischen Familientherapie nach zyklischem Verhalten (Minuchin und Fishman 1992). Zwischen dem klassischen familientherapeutischen Ansatz und IFIO gibt es jedoch einen Unterschied. Statt uns nur auf die interpersonellen Interaktionen zu konzentrieren, beschäftigen wir uns auch mit den inneren Interaktionen, speziell damit, wie das Verhalten von beschützenden Teilen durch die emotionale Reaktivität von verängstigten jungen Teilen (den Verbannten) hervorgerufen wird. Anders ausgedrückt, vermitteln wir den beiden Personen ein Verständnis dafür, inwiefern das, was sie in einer Streitsituation tun oder sagen, durch Verletzlichkeit und Bedürftigkeit motiviert ist. Wie auf diesen Seiten immer wieder deutlich werden wird, ist es von entscheidender Bedeutung, die Gefühle und Reaktionen im Innern wie im Äußeren zu verfolgen.