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Das Lothringer Kreuz

Ich bin in Metz geboren, einer Stadt in Lothringen, die von einer mächtigen Kathedrale überragt wird, in einer Region im Nordosten Frankreichs, die auf eine komplizierte und wechselvolle Geschichte zurückblickt. Da die französisch-deutsche Grenze nur etwa 45 Kilometer weiter östlich verlief, war die Gegend schon seit tausend Jahren Ziel feindlicher Übergriffe. 1871 annektierten die Deutschen das Gebiet und hielten es fast fünfzig Jahre besetzt.

Als ich am 13. April 1920 – keine zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zur Welt kam, hatte sich die politische Landkarte Europas verändert und Elsaß-Lothringen befand sich erneut in französischer Hand. Da wir in dieser historisch bedeutenden Grenzregion als wahre französische Patrioten aufgewachsen waren, erfüllte es uns alle mit Stolz, als General de Gaulle im Zweiten Weltkrieg das Lothringer Kreuz mit den zwei Querbalken zum Symbol des freien Frankreich erkor.

Metz war eine geschäftige, weltoffene Stadt mit barocken Giebeldächern und klassizistischen Fassaden. In den Stahlwerken und Kohlegruben des Umlands arbeiteten Polen, Italiener und Tschechen. Da Metz eine Garnisonsstadt war, wimmelte es in den Straßen von Soldaten. Am Ostufer der Mosel gelegen, war die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt auf der Handelsroute zwischen Paris und Straßburg. Im 12. Jahrhundert wurde Metz freie Reichsstadt und hatte sich einen ganz eigenen Charakter bewahrt: Davon zeugten das mittelalterliche französische Viertel mit der gotischen Kathedrale Sainte-Étienne im Zentrum und die elegante »Ville Allemande« mit ihren Bürgerhäusern, die unter preußischer Besatzung entstanden war. Aufgrund seiner bunten Vielfalt an Plätzen aus dem 17. Jahrhundert, italienisch anmutender Straßenzüge und deutscher Prachtbauten war Metz keineswegs der triste Ort, den seine geografische Lage und seine industriellen Wurzeln hätten erwarten lassen.

Meine Eltern waren praktisch als Deutsche aufgewachsen. Da sie den Großteil ihres Lebens in einem besetzten Gebiet verbracht hatten, war es ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. In der Schule wurde Deutsch gelehrt und jedem, der in der Öffentlichkeit auch nur ein einziges französisches Wort von sich gab, drohte Arrest. Als ich zur Welt kam, waren beide Sprachen erlaubt. Sieben Jahre lang hatte ich in der Schule Deutsch als Zweitsprache. Wir Geschwister unterhielten uns mit unseren Schulfreunden und einigen Nachbarn auf Französisch, aber mit unseren Eltern und den meisten Angehörigen ihrer Generation auf Deutsch. Französisch war für uns eine Art Geheimsprache. Wenn wir nicht wollten, dass unsere Eltern mitbekamen, was wir im Schilde führten, schwatzten wir fröhlich auf Französisch drauflos.

Unser eigentlicher Familienname war Hoffnung Gutglück, was der Einfachheit halber zu »Hoffnung« abgekürzt wurde. Ich hieß mit Vornamen »Marthe«, französisch ausgesprochen. Mein Großvater mütterlicherseits, Moishé Bleitrach, war ein wunderbarer Mann, ein angesehener orthodoxer Rabbiner und Gelehrter. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er fast sechzig Jahre alt und trug einen langen Bart. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist sein dröhnendes Lachen, wenn ich daran zog.

Als ich etwa zwei Jahre alt war, hing ich wie eine Klette an meiner Mutter Regine. Sie war eine kleine, blonde, hübsche Frau, die ich geradezu vergötterte. Sie war warmherzig und lebenslustig und wirkte eher wie eine ältere Schwester. Sobald sie sich aus meinem Blickfeld entfernte, bekam ich einen hysterischen Anfall und schrie, bis ich blau im Gesicht wurde. Dann nahm mich einer meiner älteren Brüder, Fred oder Arnold, oder meine Schwester Cécile auf den Arm und schlug mir mit sichtbarem Vergnügen auf den Rücken, bis ich wieder normal atmete. Als ich mit vier Jahren begriff, dass meine Geschwister mir mein Theater übel nahmen, beschloss ich – Pazifistin, die ich schon damals war –, sie und meine arme Mutter endlich in Frieden zu lassen.

Sechzehn Monate nach meiner Geburt kam meine jüngere Schwester Stéphanie zur Welt, ein entzückendes, pummeliges kleines Ding mit dunkelbraunen Löckchen – das exakte Gegenteil von mir. Ich war klein, mager, blass und hellblond, genau wie meine Mutter. Kein Wunder, dass ich rasend eifersüchtig war.

»Sie mag ja hübsch sein«, tönte ich gegenüber Stéphanies zahlreichen Verehrern, »aber dafür bin ich sehr intelligent.« Doch meine Eifersucht legte sich bald, denn ich konnte gar nicht anders, als Stéphanie mit ihrem sonnigen Naturell und ihrem Engelsgesicht ins Herz zu schließen. Sie und Cécile waren die umgänglichsten von uns allen. Und so wurde aus dem Püppchen, das ich hätschelte und liebkoste, die Spielgefährtin, Freundin und Vertraute meiner Kindheit.

1924 kam meine Schwester Hélène zur Welt, ein zerbrechliches kleines Wesen; 1925 folgte das Nesthäkchen Rosy.

Bald darauf sollte ich eingeschult werden. Aber weil ich für meine sechs Jahre sehr klein war, meinten die Lehrerinnen, dass ich für die erste Klasse nicht reif genug wäre, und steckten mich zu meiner Schwester Stéphanie in die Vorschule. Trotz meiner Proteste setzten sie mich neben sie.

Während die anderen das Alphabet lernten, schwieg ich verstockt und schmollte. Da ich schon ganze Bücher lesen konnte, war es unter meiner Würde, mich am Unterricht zu beteiligen. Als die Lehrerin fragte, ob jemand von uns ein Lied vortragen wolle, streckte Steph zu meiner Bestürzung den Finger in die Höhe. Unsere ganze Familie – mit Ausnahme von Cécile und meiner Mutter – war völlig unmusikalisch. Deshalb zog ich hastig ihren Arm nach unten und zischte: »Lass das, dumme Gans! Du weißt doch, dass du nicht singen kannst.«

Aber die Lehrerin hatte sie bereits gesehen und rief sie nach vorn. Während ich mir die Hände vors Gesicht hielt, trällerte sie »Je cherche après Titine«, ein Chanson, das damals sehr populär war. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. In der Mittagspause lief ich nach Hause und erzählte meiner Mutter, was passiert war.

»Ich bleib da auf keinen Fall«, sagte ich und zog einen Flunsch. »Die halten mich für ein Kleinkind. Und dann hat Steph auch noch vorgesungen!« Meine Mutter konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Am Nachmittag brachte sie mich zur Schule zurück und legte der Lehrerin meine Geburtsurkunde vor, um zu beweisen, dass ich alt genug für die erste Klasse war. Von da an blieb ich von Stéphanies Gesangskünsten verschont.

Ich hasste die Schule und wünschte mir nichts sehnlicher, als mich zu Hause zu verkriechen und zu lesen. Jedes Buch, das uns die Lehrerin als Lektüre empfahl, kannte ich bereits. Ich war frustriert und langweilte mich zu Tode.

Als ich mir einmal in der Stadtbücherei neue Bücher ausleihen wollte, warf die Bibliothekarin einen Blick auf meine Liste und musterte mich streng über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg. »Tut mir leid, aber du bist noch viel zu jung, um so etwas zu lesen.« Kaum war ich zu Hause, erzählte ich meinem ältesten Bruder Fred davon, der schnurstracks mit mir zur Stadtbücherei ging, um die Bibliothekarin zur Rede zu stellen.

»Meine Schwester darf lesen, was sie will«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Es ist Sache meiner Eltern zu entscheiden, welche Bücher gut für sie sind und welche nicht.« Nachdem er sich so beherzt für mich eingesetzt hatte, liebte ich ihn mehr denn je.

Als kleines Mädchen fühlte ich mich Fred besonders nah. Er war eher wie ein Vater als ein Bruder für mich. Jeden Abend las er uns nach dem Essen aus der Zeitung vor, ein tägliches Ritual, dem ich voller Ungeduld entgegensah. Ich saß auf dem Boden, an die Beine meiner Mutter gelehnt, und lauschte gebannt den neuesten Nachrichten über die politischen Entwicklungen in Europa.

Besonders fesselte mich das Schicksal des jüdischen Uhrmachers, Dichters und Anarchisten Samuel Schwartzbard, der nach den antijüdischen Pogromen von 1919 und 1920 aus der rumänischen Provinz Bessarabien, dem heutigen Moldawien, nach Paris geflohen war, wo er Arbeit in einer Uhrenfabrik fand. In Paris machte er den ehemaligen General und Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Symon Petljura, ausfindig, der mittlerweile Chef der ukrainischen Exilregierung in Paris war. Seine Truppen hatten an der jüdischen Bevölkerung in seiner Heimat schreckliche Gräueltaten verübt.

Am Morgen des 25. Mai 1926 lauerte Schwartzbard Petljura vor seinem Haus auf und gab mehrere tödliche Schüsse auf ihn ab. Es kam zu einem aufsehenerregenden Mordprozess, der für internationale Schlagzeilen sorgte. Dank Schwartzbards Verteidiger Henry Torrès ging es in diesem Verfahren jedoch weniger um die Ermordung Petljuras als um den Tod von 60.000 Juden, für die Torrès Petljura verantwortlich machte. Zahlreiche Zeugen berichteten von den grauenvollen Verbrechen, die Petljuras Kosaken begangen hatten. Sie hatten ganze Dörfer niedergebrannt und ihre Opfer, unter denen auch Kinder waren, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt und ermordet.

Ich war schockiert über diese Enthüllungen. Ich konnte nicht begreifen, wie man anderen Menschen so etwas antun konnte, einfach nur, weil sie Juden waren. Als Fred uns vorlas, dass die Geschworenen den Anarchisten freigesprochen hatten, vergoss ich Freudentränen. An diesem Abend beschloss ich, Anwältin zu werden, um den Schwachen und Hilflosen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Fred war ein liebevoller, fürsorglicher Bruder. Aber er konnte einen auch ganz schön piesacken. Manchmal lauerten er und Arnold uns im Flur unserer Wohnung auf, fielen über uns her und verpassten uns schmerzhafte Kopfnüsse. »Los, nehmt die Fäuste hoch und wehrt euch, ihr Heulsusen!«, riefen sie dann. Erst heute weiß ich, dass er uns beizubringen versuchte, wie man sich gegen körperliche Angriffe verteidigt.

Jeden Donnerstag, wenn meine Mutter für das Sabbatmahl einen Karpfen eingekauft hatte, jagte Fred mich mit dem riesigen, zappelnden Fisch durch die Wohnung. Das klaffende Maul und die stierenden Glupschaugen versetzten mich in Angst und Schrecken. Einmal keilte Fred mich in der Küche zwischen Herd und Wand ein und ich war so in Panik, dass ich die Luft anhielt. Meine Mutter, die sich sonst nicht in unsere ausgelassenen Spiele einmischte, riss Fred zur Seite. »Das reicht!«

Dann zog sie mich hinter dem Herd hervor und schlug mir kräftig auf den Rücken, damit ich wieder Farbe ins Gesicht bekam. »Das war das letzte Mal, dass du Marthe so getriezt hast«, ermahnte sie ihn. Er tat es nie wieder.

Papa war ein schwieriger, grüblerischer Mann, der ein Leben lang unter seiner unglücklichen Kindheit litt. Kein Wunder, dass er sich mit seiner Vaterrolle schwertat. Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Nachdem sein Vater wieder geheiratet hatte, wurden er und sein kleiner Bruder Benoît – das jüngste der fünf Kinder und noch ein Säugling – ins Waisenhaus gesteckt, wo er nur eine rudimentäre Schulbildung erhielt. Der Kontakt zu seinem gewalttätigen Vater beschränkte sich auf wenige unschöne Begegnungen. Seine Stiefmutter brachte zwei Söhne mit in die Ehe, die mit seinen älteren Geschwistern im gemeinsamen Haushalt leben durften. Dass man ihn und Benoît einfach abgeschoben hatte, war eine Kränkung, über die er nie hinwegkam.

Meine Eltern lernten sich durch ihre Geschwister kennen. Ein Bruder meiner Mutter heiratete eine von Vaters Schwestern. Papa verliebte sich sofort in die hübsche, zierliche Blondine. Aber auch meine Mutter war von dem gut aussehenden, schüchternen jungen Mann sehr angetan. Als einziges Mädchen unter sieben Brüdern war sie es gewohnt, verhätschelt zu werden, doch die zarten Gefühle meines Vaters waren etwas gänzlich anderes. Ihr Vater war strikt gegen diese Verbindung. Er hielt Mutters Freund für viel zu ungebildet.

»Ich kann meine einzige Tochter unmöglich einem derart unkultivierten Menschen anvertrauen. Da kann ich sie auch gleich einem Affen in die Arme werfen«, sagte er. Mein Vater, dem diese Bemerkung zu Ohren kam, verzieh ihm sein Leben lang nicht.

Großpapa hatte recht mit seinen Vorbehalten. Meine Eltern passten überhaupt nicht zusammen. Nach Freds Geburt brachte meine Mutter noch einen Jungen zur Welt. Er hieß Eugène. Dann folgte das erste Mädchen, Cécile. Als Eugène mit zwei Jahren an Scharlach starb, wäre ihre Ehe an dem schmerzhaften Verlust fast zerbrochen. Maman verlangte die Scheidung und zog mit den beiden Kindern zu ihren Eltern. Aber Papa beschwor sie, wieder zurückzukommen, und versprach ihr, in Zukunft ein besserer Ehemann zu sein. »Außerdem hast du kein Recht, mir meine Kinder wegzunehmen«, erklärte er ihr. Dem konnte sie nichts entgegensetzen. Mehr um Freds und Céciles als um ihrer selbst willen kehrte sie zu meinem Vater zurück und gebar ihm fünf weitere Kinder.

Aber wir verlebten auch heitere, unbeschwerte Stunden mit Papa. Er dachte sich spannende Geschichten aus und spielte mit uns. Wir schwammen zusammen in der Mosel oder unternahmen lange Spaziergänge. Doch obwohl er uns sehr liebte, konnte er keine wirkliche Nähe zu uns herstellen. Er war schrecklich eifersüchtig auf Maman, zu der wir eine innige Beziehung hatten. Allerdings erinnere ich mich noch, wie ich als kleines Mädchen wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus musste und mein Vater in Tränen ausbrach, als man mich in den Operationssaal schob. Ich war so gerührt von diesem Gefühlsausbruch, dass ich meine eigenen Ängste ganz vergaß. Doch meist erlebten wir unseren Vater als mürrischen, launischen Mann, der grundlos losbrüllte und uns wie ein preußischer General herumkommandierte.

Sobald er das Haus verließ, änderte sich schlagartig die Atmosphäre. Wir Kinder plapperten munter drauflos und alberten herum. Meine Mutter entspannte sich spürbar und war sehr nachsichtig mit uns. Selbst wenn wir durch die Wohnung tobten oder uns manchmal lautstark zankten – »wie die Zigeuner«, pflegte sie dann zu sagen –, ließ sie uns meist gewähren.

Beim gemeinsamen Abendessen mit unserem Vater hatten wir uns allerdings zu benehmen. Dann wagten wir es nur, den Mund aufzumachen, wenn er guter Laune war. Wir alle fürchteten die Momente, in denen er uns oder Maman grundlos anherrschte. Denn sobald er sich in Rage geredet hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Da er nicht sehr wortgewandt war, warf er mit immer derberen Ausdrücken um sich. Wir durften nicht eher den Tisch verlassen, bis er seine Tirade beendet hatte. Manchmal sprang er auf und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Am liebsten würde ich euch windelweich prügeln. Aber dann wäre ich kein bisschen besser als mein Vater.« Und im nächsten Moment rauschte er aus dem Zimmer.

Als Kind hatte ich keinerlei Verständnis für die Launenhaftigkeit meines Vaters. Es machte mich wütend, dass er mit seinen Ausbrüchen unser Familienleben vergiftete. Als ich mich einmal bei meiner Mutter über ihn beklagte, seufzte sie und sagte: »Es könnte schlimmer sein. Immerhin spielt er nicht, trinkt nicht und bändelt nicht mit anderen Frauen an.«

»Schade«, erwiderte ich, worauf sie mich entsetzt ansah. »Wenn er sich eine Geliebte nehmen würde, hätten wir wenigstens unsere Ruhe.«

Trotz meines Grolls gegen ihn tat er mir auch leid. Es schien, als hätte er keinerlei Kontrolle über sein Verhalten, als handele er unter einem inneren Zwang. Nur selten kam hinter der schroffen Fassade seine empfindsame Seite zum Vorschein. Er stand immer etwas im Abseits, während wir mit unserer Mutter zu einer festen Einheit verschmolzen waren.

Beruflich war er recht erfolgreich. Er besaß einen kleinen Fotoladen, der auf Vergrößerungen und Einrahmungen spezialisiert war: Agrandissements Photographiques Encadrements. So konnten wir uns eine großzügige Sechs-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock eines Hauses in der Rue du Maréchal-Pétain leisten, ein gutes Stück vom ehemaligen jüdischen Getto entfernt. Als meine jüngeren Schwestern alt genug für die Schule waren, ging meine Mutter ihm im Laden zur Hand. Aber im Grunde half sie ihm, die täglichen Anforderungen des Lebens zu meistern. Mit unendlicher Geduld und eisernem Willen gelang es ihr, unser Zuhause in einen heiteren Ort zu verwandeln.

Wir hatten ein Dienstmädchen namens Sophie, das bei uns wohnte und mit uns Kindern in der Küche zu Mittag aß. Für uns war sie weniger eine Angestellte als eine große Schwester. Als sie nach zehn Jahren unsere Familie verließ, um zu heiraten, brachte mich das so aus dem Gleichgewicht, dass ich krank wurde. Einmal die Woche polierte Sophie sämtliche Holzböden, sodass die ganze Wohnung nach Bohnerwachs roch. Dieser Geruch ruft bis heute noch lebendige Erinnerungen an meine Kindheit in mir wach.

Wir waren eine sehr religiöse Familie und befolgten alle rituellen Vorschriften, auch wenn mein Vater bestimmt nicht so gläubig war wie meine Mutter. Freitagabends entzündete sie die Kerzen, mein Vater und meine Brüder setzten ihre Kippas auf und sprachen die Gebete. Maman führte einen streng koscheren Haushalt. Wir hatten getrenntes Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte und bei keiner Mahlzeit kam beides zugleich auf den Tisch. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und verstand es, jüdische Spezialitäten mit französischen und deutschen Speisen zu kombinieren. So gab es Karpfen oder gehackte Leber, Suppe, Huhn, Kalbs- oder Rinderbraten, Salat, frisches Gemüse und zum Nachtisch Obst. Freitags und an Feiertagen war die Wohnung vom Duft der frisch gebackenen Challa, der Kuchen und Aufläufe erfüllt. Vor dem Essen wurden über die Challa und den Wein hebräische Segenssprüche gesagt. Und nach dem Essen folgte ein Dankesgebet. Wir beteten auch abends vor dem Einschlafen und morgens nach dem Aufwachen. Meine Mutter und Cécile, die wunderbare Stimmen hatten, sangen nach dem Abendessen alte jiddische Lieder. Wir jüngeren Kinder sangen mit, ohne den Text zu verstehen. Wenn unser Vater lauthals mit einstimmte, verzogen wir das Gesicht, denn er sang noch falscher als wir.

Meine Eltern legten größten Wert darauf, dass wir eine möglichst umfassende, liberale Schulbildung genossen. Deshalb schickten sie uns auf staatliche Schulen, wo wir mit katholischen und protestantischen Kindern in Kontakt kamen. Meine Schwestern und ich besuchten ein Mädchengymnasium. Nachdem wir anfangs zu Hause bei einem Privatlehrer und später im Cheder Hebräisch lesen gelernt hatten, erteilte uns am Gymnasium Oberrabbiner Nathan Netter Religionsunterricht. Obwohl im übrigen Frankreich eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche herrschte, waren die strenggläubigen Elsässer und Lothringer seit 1918 von dieser Regelung ausgenommen. Jedes Schulkind hatte Anspruch auf Religionsunterricht bei einem Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft.

Jeden Samstag gingen wir fein herausgeputzt in die Synagoge, die sich im ärmsten Viertel von Metz befand. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, lauerte uns nach dem Gottesdienst eine Horde zerlumpter Jungen vor der Synagoge auf.

»Dreckige Juden«, rief einer von ihnen und spuckte uns vor die Füße. Die anderen warfen mit Steinen nach uns. Einer traf mich am Schienbein, was höllisch wehtat. Als mein Vater die Jungen böse anfunkelte, traten sie den Rückzug an, blieben aber in sicherer Entfernung stehen und beschimpften uns weiter.

Bestürzt sah ich meinen Vater an, der meinen Blick stumm erwiderte. Ich konnte nicht fassen, dass man uns so behandelte, nur weil wir Juden waren. Was spielte denn unsere Religion für eine Rolle? Ich starrte meinen Vater an, beschwor ihn wortlos, etwas zu unternehmen. Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog er langsam seinen schweren Ledergürtel aus der Hose. Dann drehte er sich um und stürmte mit dem Gürtel in der erhobenen Hand auf die Jungen zu.

»Wer von euch hat uns dreckige Juden genannt?«, brüllte er und ließ den Gürtel durch die Luft sausen. Mit offenem Mund sah ich zu, wie er die Straße entlangrannte, während Fred und Arnold mich hinter sich herzogen. Ich glaube, ich habe meinen Vater nie mehr geliebt als in jenem Moment.

Zum ersten Mal hatte ich am eigenen Leib erfahren, was es hieß, im Vorkriegseuropa Jüdin zu sein; und es sollte nicht das letzte Mal sein. Ein paar Jahre später schickte mich meine Mutter mit einem Einkaufsnetz zum Laden um die Ecke, um ein Dutzend Eier zu besorgen. Auf dem Heimweg versperrte mir ein Nachbarsmädchen, das ich vom Sehen kannte, den Weg.

»Du dreckige Jüdin«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich bin nicht dreckig!«, rief ich empört.

»Doch, bist du. Dreckig! Dreckig! Eine dreckige Jüdin!«, höhnte sie.

Ohne nachzudenken holte ich aus und schleuderte ihr das Netz mit den Eiern an den Kopf. Eiweiß und Dotter liefen ihr über die Stirn und tropften auf ihr Kleid. Ich rannte nach Hause zu meiner Mutter, die mit mehlbestäubten Händen in der Küche stand. Ich erzählte ihr haarklein, was geschehen war.

Meine Mutter bückte sich und drückte mich fest an sich. Lächelnd strich sie mir eine Strähne aus der Stirn. »Du hast dich völlig richtig verhalten, Marthe«, sagte sie. »Lass es dir nicht gefallen, wenn jemand solche schlimmen Dinge zu dir sagt.«

Trotz einiger ähnlich unangenehmer Erlebnisse und der angespannten Atmosphäre, die mein Vater häufig zu Hause verbreitete, habe ich meine Kindheit überwiegend in positiver Erinnerung. Meine fröhlichen, liebevollen Geschwister und meine rührige Mutter, die uns dazu ermunterte, unseren Horizont zu erweitern und über uns hinauszuwachsen, machten das alles wett. »Jeder von euch kann etwas bewirken«, sagte sie zu uns. »Bleibt euch selbst treu und lasst euch von niemandem unterkriegen.«

Die Idole meiner Kindheit waren Maurice Bellonte und Dieudonné Costes, die beiden französischen Flieger, die 1930 einen Transatlantikflug von Paris nach New York unternahmen. Als ich von ihren Großtaten las, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages Pilotin zu werden. Seit ich als kleines Mädchen zum ersten Mal ein Flugzeug über Metz gesehen hatte, träumte ich davon. Deshalb konnte ich mein Glück kaum fassen, als ich erfuhr, dass unsere beiden Nationalhelden bei ihrem Triumphzug durch Frankreich nicht nur durch Metz kommen, sondern direkt an unserem Haus vorbeifahren würden. Die Aussicht, die beiden lebenden Legenden von unserem Balkon aus bestaunen zu können, versetzte mich in einen wahren Freudentaumel. Und so drängten sich am großen Tag die Schaulustigen am Straßenrand und schwenkten französische Fähnchen, während wir Kinder mit Maman auf dem Balkon standen und den beiden Flugpionieren aus vollem Hals zujubelten. Das war das erste Mal, dass ich mich in der Öffentlichkeit so lautstark gebärden durfte. Danach brachte ich vor Heiserkeit kaum einen Ton heraus.

»Wenn ich groß bin, werde ich Pilotin«, krächzte ich, als mich Maman abends ins Bett brachte.

»Ja, mein Schatz«, erwiderte sie lächelnd und küsste mich auf die Stirn. »Ganz bestimmt.«

Etwa zur selben Zeit wurde die neu erbaute katholische Kapelle Sainte-Thérèse eingeweiht. Eine Klassenkameradin lud mich zu der feierlichen Zeremonie ein, und da meine Eltern nichts dagegen hatten, ging ich mit. Allerdings hielt ich mich im Hintergrund. Es behagte mir nicht, mich zu meiner Freundin und ihrer Familie in eine Kirchenbank zu setzen; ich wollte zuschauen, nicht teilnehmen. Ich war beeindruckt von dem Prunk, dem Weihrauch, der Musik, den Chorknaben und den prächtigen Gewändern des Bischofs und der Priester. Der präzise Ablauf des Hochamts, bei dem alle einer perfekt einstudierten Choreografie folgten, faszinierte mich.

Danach war ich noch einmal zur Glockenweihe dort – eine ebenfalls sehr feierliche Zeremonie – und zur Erstkommunion einiger Freundinnen. Schon von Kindesbeinen an interessierte ich mich für andere Religionen. Manchmal begleiteten wir unser Dienstmädchen Sophie in den evangelischen Gottesdienst. Meine Eltern hatten nicht die geringsten Befürchtungen, dass unser jüdischer Glauben darunter leiden könnte. Obwohl mich die katholischen Messen in Sainte-Thérèse sehr beeindruckten, änderte dies nichts an meiner religiösen Überzeugung.

Ich hatte einen großen Freundeskreis, hauptsächlich Schulkameradinnen, aber der Mittelpunkt meines Lebens war meine Familie, mit der ich am meisten Zeit verbrachte. Stéphanie und Cécile standen mir am nächsten. Wir waren praktisch unzertrennlich: Wir schliefen im selben Zimmer, gingen zusammen zur Schule, nahmen gemeinsam unsere Mahlzeiten ein und spielten miteinander. Wenn wir am Wochenende oder in den Ferien ins Kino oder Theater gehen wollten, war uns dies nur tagsüber und in Begleitung eines unserer Brüder erlaubt. Aber vorher mussten wir irgendwelche häuslichen Pflichten übernehmen, beispielsweise unser Zimmer aufräumen und unserer Mutter zur Hand gehen. Manchmal nahmen diese Arbeiten so viel Zeit in Anspruch, dass wir nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit fertig wurden – ein Umstand, den mein Vater natürlich bewusst einkalkuliert hatte.

Immer häufiger begann ich mich gegen Papas despotisches Gebaren aufzulehnen, was zu erbitterten Auseinandersetzungen führte.

»Wenn du so weitermachst, steck ich dich in eine Besserungsanstalt. Da werden sie dir schon Gehorsam beibringen!«, rief er manchmal entnervt.

Cécile begehrte nie auf und bekam deshalb meist ihren Willen. Stéphanie war viel zu friedfertig, um sich mit jemandem anzulegen. Sie nahm die häuslichen Verhältnisse widerspruchslos hin. Meine jüngeren Geschwister hielten es ebenso. Nur Rosy, die ziemlich naseweis war, schaffte es stets, ihren Kopf durchzusetzen.

Meine Mutter redete immer wieder beschwichtigend auf mich ein.

»Such doch nicht ständig Streit mit ihm«, sagte sie dann. »Nimm dir ein Beispiel an Cécile und halte dich etwas zurück.« Aber das konnte ich nicht. Je älter ich wurde, desto mehr wurmte es mich, dass Papa uns mit seiner schlechten Laune terrorisierte. Ich traute mich kaum, nach der Schule eine Freundin mit nach Hause zu bringen, denn man wusste nie, in welcher Stimmung man ihn antreffen würde. Maman nahm jeden Gast herzlich auf, aber Papa verschreckte meine Freundinnen mit seiner Schroffheit so sehr, dass sie nicht mehr wiederkamen.

Meine beste Freundin hieß Sophie Weyne und war die Tochter einer guten Bekannten meiner Mutter. Sie war blond und sehr hübsch. Obwohl wir weder in derselben Gegend wohnten, noch dieselbe Schule besuchten, trafen wir uns regelmäßig. Wir waren ein Herz und eine Seele. Wenn ich nicht wegdurfte, kam Sophie zu uns – trotz der Anwesenheit meines miesepetrigen Vaters. Manchmal brachte sie auch ihre ältere Schwester Regine mit. Dann saßen wir mit Cécile und Stéphanie um den Esstisch und unterhielten uns stundenlang über Filme, Bücher und manchmal auch Jungen.

Damals gab es nur einen Jungen, der sich für mich interessierte, und der wurde mir bald ziemlich lästig. Er hieß Grandidier, war groß und schlaksig und in meinen Augen ein ungehobelter Gassenjunge. Ich weiß nicht, was er an mir fand, aber er war anscheinend total vernarrt in mich. Zwei Jahre lang folgte er mir wie ein Hündchen. Er postierte sich vor unserem Haus und starrte stundenlang zu unseren Fenstern hinauf. Wenn ich allein oder mit Stéphanie herauskam, um zur Schule, zur Synagoge oder einkaufen zu gehen, heftete er sich an unsere Fersen. Wir rannten dann so schnell wir konnten, um ihn abzuhängen. Als Cécile und ich einmal einen Jahrmarkt besuchten und vor dem Karussell anstanden, tauchte er plötzlich neben uns auf und wollte uns zu einer Fahrt einladen. Zu allem Überfluss versuchte er, mich auch noch zu einer Verabredung zu überreden.

»Na, komm schon«, drängte er mich. »Wir könnten doch wenigstens mal nachmittags zusammen spaziergehen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass er mir auf die Nerven gehe und mich gefälligst in Ruhe lassen solle.

Dann schickte er mir aus heiterem Himmel eine Karte – die erste private Post, die ich je bekommen hatte. Ich war entsetzt. Mein Vater, der jeden Morgen den Briefkasten leerte, zitierte mich in sein Arbeitszimmer und stellte mich zur Rede.

»Du bist viel zu jung für einen Freund«, sagte er streng und reichte mir die anstoßerregende Karte, auf der mir Grandidier seine unsterbliche Liebe gestand. »Du wirst diesen Jungen nicht wiedersehen.«

»Aber Papa, ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt«, protestierte ich. »Ich habe mich kein einziges Mal mit ihm getroffen.« Glücklicherweise glaubte er mir. Aber der hartnäckige Grandidier sollte mir noch eine ganze Weile nicht von der Pelle gehen.

Ich interessierte mich nach wie vor mehr für Bücher als für Jungen. Von Kindheit an war Lesen in unserer lebhaften Familie meine Zuflucht gewesen. Mein Großvater hatte die Liebe zu Büchern in mir geweckt. Meine Mutter, die sehr belesen war, hatte er ebenso stark inspiriert wie mich. Auch Fred war ein Büchernarr. Ich genoss es, bäuchlings auf der Bank im großen Erkerfenster unseres Wohnzimmers zu liegen und mich in ein Buch zu vertiefen. Hinter dicken Vorhängen verborgen, ignorierte ich die Ermahnungen meiner Eltern, die mich zu irgendwelchen Hausarbeiten riefen, und verschlang stattdessen Ivanhoe, Robinson Crusoe, Robin Hood oder Der Schweizerische Robinson. Mich faszinierten Walter Scotts historische Romane, die Theaterstücke von Molière, Racine und Corneille und die Gedichte Mussets, Vignys und Baudelaires.

Da ich mehr Zeit mit Lesen als mit Lernen verbrachte, war ich eine schlechte Schülerin, was mir immer wieder Tadel von meinen Lehrerinnen einbrachte: »Deine Schwestern sind Musterschülerinnen, vor allem Stéphanie. Warum nimmst du dir kein Beispiel an ihr?«

Was Bildung angeht, übte mein Großvater den größten Einfluss auf mich aus. Ab meinem 14. oder 15. Lebensjahr übernachteten Cécile und ich regelmäßig bei meinen Großeltern, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Wir gingen dann nach dem Abendessen zu ihrer Wohnung, die nur ein paar Straßen entfernt lag.

So sehr wir uns auf Großpapa freuten, so wenig erpicht waren wir auf Großmamas Gesellschaft. Sie war eine schwierige Frau mit blitzenden blauen Augen, einem scharfen Verstand und einer spitzen Zunge. Sie hatte ihre sieben Söhne stets meiner Mutter, ihrer einzigen Tochter, vorgezogen. Und als wir auf der Welt waren, mussten wir hinter den Kindern unserer Onkel zurückstehen. Während sie beispielsweise meinen Cousins und Cousinen großzügige Geschenke machte, gingen wir leer aus. Sie behandelte meine Mutter wie ihr Dienstmädchen und trieb meinen Großvater mit ihren ständigen Nörgeleien zur Verzweiflung. Trotzdem trug er sie auf Händen. Wenn sie ihm allerdings zu sehr zusetzte, sagte er seufzend: »Das kommt davon, wenn man eine schöne Frau heiratet.« Als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte, war das eine Offenbarung für mich. Ich hätte nie gedacht, dass mein frommer Großvater für weibliche Reize empfänglich war. Da begriff ich, dass nicht nur junge Leute ihren Leidenschaften erliegen können.

Jeden Morgen um vier stand mein Großvater auf, um zu beten und die hebräischen Schriften zu studieren, von denen er eine äußerst kostbare Sammlung besaß. Er führte eine rege Korrespondenz mit Gelehrten aus aller Welt und verbrachte den Großteil seiner Zeit mit der Auslegung hebräischer Texte und dem Verfassen von Gedichten und Briefen. Großpapa nahm eine führende Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinde von Metz ein. Er hatte nicht nur die orthodoxe Synagoge gegründet, sondern auch alle anderen traditionellen jüdischen Einrichtungen wie die Mikwe, das Ritualbad, und den Cheder, die hebräische Schule. Darüber hinaus hatte er an der Errichtung des jüdischen Friedhofs mitgewirkt und veranlasst, dass die Gebeine jüdischer Bürger von einem katholischen Friedhof in einer lothringischen Nachbargemeinde dorthin umgebettet wurden.

Gegen sieben Uhr verließ er sein Arbeitszimmer, um die frisch gebackenen Bagels zu holen, die direkt vor die Haustür geliefert wurden. Dann bereitete er für mich und Cécile das Frühstück. Jedes Mal erlebten wir aufs Neue, wie sich der große Gelehrte in einen fürsorglichen Großvater verwandelte. Cécile und ich setzten uns fröhlich an den Küchentisch, auf den er eine weiße Leinentischdecke gebreitet und feine Porzellantassen gestellt hatte. Während des Frühstücks bombardierten wir ihn mit Fragen, meist über Politik oder über griechisch-römische Geschichte, die sein Steckenpferd war.

Es ist dem Beispiel meines Großvaters, meiner Mutter und meines Bruders Fred zu verdanken, dass ich mich schon früh für das aktuelle politische Geschehen interessierte. Von meinem sechsten Lebensjahr an las ich täglich die Morgenzeitung. Aber auch Großpapas fesselnde Erzählungen über die griechisch-römische Kultur, in die er Geschichten über unsere israelitischen Vorfahren einflocht, weckten einen großen Wissensdurst in mir. Ich verschlang Bücher über Könige, Kaiser, Prinzen und wunderschöne Königinnen und ihre schicksalhaften Beziehungen zu Göttern und Halbgöttern, die – im Gegensatz zu dem Gott, den wir verehrten – ebenso niederträchtig handelten wie Menschen. Als junges Mädchen las ich immer wieder die Werke Homers und Bücher über römische Geschichte, natürlich in französischer Übersetzung. Ich tauchte in eine Welt ein, in der sich historische Fakten mit Mythen und Legenden vermischten, und erlebte hautnah die fantastischen Abenteuer göttlicher, halbgöttlicher und sterblicher Helden mit.

Großpapa machte uns Kinder auch mit jüdischen Geboten vertraut, die ihm am Herzen lagen, darunter Wohltätigkeit, oder Zedaka, und Toleranz.

»Die Menschen sind intolerant, weil sie sich vor allem fürchten, was sie nicht verstehen oder was ihnen fremd erscheint«, sagte er zu mir. »Du darfst nie einen Menschen nach seiner Religion, Hautfarbe oder seinen Überzeugungen beurteilen. Wenn jemand deine Hilfe braucht, frag nicht nach seiner Rasse oder seinem Glauben, sondern hilf einfach. Und brüste dich nicht mit deinen guten Taten, denn das würde die Person, der du geholfen hast, herabsetzen.«

Dann zitierte er zur Verdeutlichung eine Stelle aus der Bibel oder einer anderen Quelle. Sein überragender Intellekt beflügelte mich. Er und Fred waren meine großen Vorbilder.

Nach und nach schlich sich in unseren Alltag ein Gefühl der Bedrohung ein. Einmal fuhr mein Vater in ein Dorf außerhalb von Metz, um bei einem Kunden ein paar gerahmte Fotos abzuliefern. Als er dessen Haus betreten wollte, kamen zwei Gendarmen auf ihn zu und fragten nach seinem Ausweis.

»Einen kleinen Moment bitte, Herr Wachtmeister«, sagte mein Vater respektvoll zu dem älteren der beiden. »Ich muss nur schnell die Rahmen hier abstellen.«

Als er die Bilder vorsichtig an die Hauswand lehnte, erklärte der Beamte kurzerhand, er sei verhaftet. Die beiden Polizisten behaupteten später, mein Vater wäre ihrer Aufforderung nicht unverzüglich nachgekommen und hätte sich deshalb der Insubordination schuldig gemacht. Papa blieb vierundzwanzig Stunden lang verschwunden und wir hatten keine Ahnung, was mit ihm passiert war. Meine besorgte Mutter ging sogar aufs Polizeirevier, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

Als mein Vater am nächsten Tag heimkehrte, von Schrammen und blauen Flecken übersät, war er ein gebrochener Mann. Ein Gendarm hatte ihn auf der Wache eine Treppe hinuntergestoßen und bewusstlos geschlagen. Der Verhandlungstermin war für den folgenden Monat festgesetzt worden.

Mein Vater, der ein sehr stolzer Mann war, kam über die demütigenden Erlebnisse jenes Tages nicht hinweg. Er, der immer eine große Hochachtung vor Militär und Polizei gehabt hatte, verstand nicht, weshalb man ihn ohne jeden Grund so drangsaliert hatte. Wahrscheinlich bestand sein einziges »Verbrechen« darin, Jude zu sein. Diese Begegnung mit staatlicher Willkür brachte sein ganzes Weltbild ins Wanken. Vermutlich rief der Vorfall auch schlimme Kindheitserinnerungen in ihm wach.

Kurz darauf erkrankte Papa schwer an Hepatitis. Er wurde ganz gelb im Gesicht und musste das Bett hüten. Nachdem ihn der Arzt untersucht hatte, meinte dieser, dass die Lage sehr ernst sei. Maman war außer sich. Es dauerte Wochen, bis Vater sich wieder erholte. Da er so lange krank gewesen war, hatte man seinen Prozess immer wieder aufschieben müssen. Als es schließlich zur Verhandlung kam, sorgte sein Fall für Schlagzeilen. Die Zeitungen berichteten, dass man einen Vater von sieben Kindern grundlos zusammengeschlagen habe, woraufhin der Richter ein Einsehen hatte und ihn freisprach.

Damals begann ich vieles, was ich bisher als gegeben hingenommen hatte, infrage zu stellen. So beschloss ich eines Tages, Vegetarierin zu werden. Obwohl meine Mutter meine neuen Ernährungsgrundsätze für eine vorübergehende Laune hielt, versuchte sie nicht, mir meinem Entschluss auszureden, sondern bereitete eigens für mich fleischlose Gerichte zu.

Als ich allerdings erklärte, dass ich Hebräisch lernen wolle, war sie bestürzt. »Nur Jungen studieren die heiligen Schriften. Mädchen doch nicht«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Ich bin’s leid, Gebete herunterzuleiern, die ich nicht verstehe«, hielt ich ihr entgegen. »Ich weigere mich, wie ein Papagei irgendwelche Worte nachzuplappern. Ich denke nicht mal an Gott, wenn ich bete. Stattdessen gehen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Es ist doch reine Heuchelei, zu beten, wenn man mit dem Herzen nicht dabei ist.«

Maman konnte meine Rebellion gegen unsere religiösen Praktiken nur schwer akzeptieren. Kein einziges Ereignis in ihrem Leben, nicht einmal Eugènes Tod, hatte ihren starken, aufrichtigen Glauben je erschüttert. Dass ich meinen infrage stellte, betrübte sie sehr. Trotzdem verlangte sie nie mehr von mir, dass ich betete.

Auch Großpapa zog es vor, mich gewähren zu lassen. Als er bemerkte, dass Cécile und ich die Tischgebete nicht mehr mitsprachen, sorgte er taktvoll dafür, dass er in diesen Momenten nicht im Zimmer war. Er wollte uns nicht durch seine Anwesenheit dazu nötigen, gegen unser Gewissen zu handeln.

Zu jener Zeit vollzogen sich in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen. In Italien hatten Mussolini und die Faschisten die Macht ergriffen. Deutsche Truppen waren ins französische Rheinland einmarschiert. In England starb König Georg V. In Spanien herrschte Bürgerkrieg. In Berlin gewann der schwarze US-amerikanische Leichtathlet Jesse Owens bei den Olympischen Sommerspielen vier Goldmedaillen und musste sich von Adolf Hitler öffentlich demütigen lassen. In Frankreich betrat der Weltkriegsveteran Oberstleutnant François de La Rocque mit seiner rechtsextremen, ultranationalistischen Organisation Croix de Feu die politische Bühne. De La Rocque verstand es, die Massen zu mobilisieren. Unter seinem Einfluss kam es zu schweren Unruhen, die den Rücktritt der linksgerichteten Regierung zur Folge hatten. Je unverhohlener sich Politiker und Kriegstreiber zur Judenfrage äußerten, desto mehr Gehör fanden sie beim einfachen Volk. Durch fanatische Demagogen aufgestachelt, fühlte sich der Mann auf der Straße in seinen Ressentiments bestätigt. Als der jüdische Sozialist Léon Blum Premierminister wurde, führte dies zu weiteren Ausschreitungen. Mittlerweile trat der Antisemitismus in Frankreich offen zutage. Es wurden Forderungen laut, Juden von öffentlichen Ämtern auszuschließen, so wie es in Deutschland bereits der Fall war. Diese Entwicklungen machten mir Angst, ebenso die wachsende Bedrohung durch Hitler und die Nationalsozialisten. Dennoch hielt ich an meiner pazifistischen Haltung fest.

»Krieg ist keine Lösung«, erklärte ich großspurig. »Die Politiker sollten sich zusammensetzen und miteinander reden. Kriege bringen nichts als Tod und Zerstörung. Es muss eine Alternative geben.«

Fred und Arnold waren da anderer Meinung. »Hitler muss aufgehalten werden und zwar schnell. Du verstehst das nicht, Marthe. Du hast den letzten Krieg nicht miterlebt.«

Trotz seiner ausgezeichneten Leistungen war Fred mit siebzehn von der Schule abgegangen, um in Antwerpen eine Ausbildung zum Diamantenhändler zu machen. Als jedoch die Diamantenindustrie infolge der Weltwirtschaftskrise einbrach, zog er nach Nancy, wo er die Schneiderwerkstatt meines Onkels Henri übernahm. Mein Bruder Arnold folgte bald nach und fing bei ihm als Zuschneider an. Jeden Sonntag kam Fred mit dem Zug nach Metz, nur um uns Mädchen abends auszuführen. Mein Vater hätte uns niemals allein vor die Tür gelassen. Sophie und meine anderen Freundinnen waren furchtbar neidisch auf uns. Fred war der vollendete Kavalier: Er lüftete den Hut zur Begrüßung und behandelte uns wie richtige Damen. Ich vergötterte ihn geradezu und war jedes Mal kreuzunglücklich, wenn er wieder wegfuhr.

Auf dem Gymnasium langweilte ich mich entsetzlich. Durch die Romane von Zola, Balzac, Dumas, Tolstoi, Jules Verne und Jack London inspiriert, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als von der Schule abzugehen und die Welt zu sehen, ehe es zu spät war. Meine Zukunftspläne waren allerdings reichlich unausgegoren. Mal träumte ich von einer Karriere als Anwältin, dann wollte ich Pilotin werden, obwohl ich so klein war, dass ich mit meinen Füßen kaum die Pedale erreicht hätte. Mit siebzehn war ich ausgewachsen und brachte es auf gerade mal 1,50 Meter. Ich war erheblich kleiner als meine Geschwister. Selbst meine Mutter mit ihren 1,57 Meter überragte mich. »Ich werde niemals einen kleinen Mann heiraten«, sagte ich einmal zu ihr. »Ich will schließlich keine Zwerge zur Welt bringen.«

Maman schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie kommst du nur auf solche Gedanken, Marthe?«

1937 verabschiedete ich mich freudestrahlend von meinen Lehrerinnen, um bei Cécile Modes anzufangen, dem Hutsalon meiner Schwester, der sich im Zentrum von Metz, am Place de la République befand. Mir hatte zwar nie eine Laufbahn als Modistin vorgeschwebt, aber ich war froh, endlich den Zwängen des öffentlichen Erziehungswesens zu entkommen. Alle fanden, dass Cécile wunderschöne Hüte machte. Es waren raffinierte Kreationen für junge und jung gebliebene Frauen. Ich besitze immer noch ein Foto, auf dem Cécile, meine Freundin Sophie, ihre Schwester Regine und ich Céciles Modelle tragen. Damals führten wir ein rundum sorgloses Leben. Erst rückblickend erkenne ich, wie großherzig es von Cécile war, mich einzustellen. Ich war so ungeschickt, dass ich mehr als einen Hut ruinierte. Einmal hätte ich fast das ganze Atelier in Brand gesetzt, weil ich abends vergaß, das elektrische Bügeleisen auszuschalten. Es brannte über Nacht ein riesiges Loch in unseren Arbeitstisch. Aber Cécile hatte eine Engelsgeduld mit mir und war nie böse auf mich. Sie wusste wohl, dass es schlimmere Dinge auf der Welt gab, über die man sich aufregen konnte.

Im Sommer 1938 fuhr ich mit Stéphanie, Rosy, Hélène, Sophie und ein paar Freundinnen in ein Ferienlager im Vallée de Chevreuse nicht weit von Paris. Wir waren dort schon einmal mit unseren Eltern gewesen, aber diesmal waren wir alt genug, um allein verreisen zu dürfen. Wir verbrachten herrliche Wochen mit Schwimmen, Radfahren, Spielen und Herumalbern. Ich besitze noch einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen wir ausgelassen vor der Kamera posieren. Niemand ahnte, dass mit diesen unbeschwerten Sommertagen unsere Jugend zu Ende gehen sollte.

Im Oktober desselben Jahres marschierten deutsche Truppen in die Tschechoslowakei ein. Einen Monat später begann für die Juden Deutschlands – die bereits zahllose persönliche Einschränkungen wie soziale Ausgrenzung und Ausgangssperren hinnehmen mussten – ein Martyrium ohnegleichen, während die große Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung tatenlos zusah. Die von der Regierung inszenierte Reichskristallnacht markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen »Judenpolitik«. Hunderte von Synagogen wurden in Brand gesteckt und Tausende jüdischer Geschäfte verwüstet. Horden junger Braunhemden zogen randalierend durch die Städte und zertrümmerten systematisch die Schaufenster jüdischer Läden. Zahllose Juden wurden festgenommen oder auf offener Straße niedergeschlagen; einundneunzig von ihnen starben.

Wir waren schockiert, als wir von diesen Ereignissen erfuhren. Wir hatten Verwandte in Düsseldorf, die Färbers. Cécile Färber, die Nichte meines Vaters, erwartete ihr drittes Kind. In der Kristallnacht stand die Gestapo vor der Tür und wollte Céciles Mann verhaften. Sie demolierten die gesamte Einrichtung, zerschlugen die Fenster und bedrohten die Familie. Irgendwie gelang es Cécile, sie davon abzubringen, ihren Mann festzunehmen. Noch in derselben Nacht floh er nach Holland, während sie sich bis zur Geburt ihrer Tochter Mindele bei ihrem Dienstmädchen versteckte. Dann folgte sie ihm nach. Später gingen sie nach Palästina und ließen Mindele in der Obhut holländischer Verwandter zurück. Ihre beiden Söhne, den zweijährigen Josie und den dreijährigen Jacquie, schickten sie zu uns. Fred und Cécile fuhren mit der Bahn bis zur Grenze, wo sie die beiden Jungen in Empfang nahmen. Das mutige Dienstmädchen hatte die Kinder bis dorthin begleitet. Sie alle riskierten es, von deutschen Grenzposten verhaftet zu werden, aber sie sahen es als ihre Pflicht an, zu helfen. Ein paar Tage später brachten wir Josie zu Tante Hélène, einer älteren Schwester meines Vaters, nach Nancy. Jacquie blieb bei uns. Die übrige in Deutschland lebende Familie meines Vaters – darunter seine ältere Schwester Feigel, ihr Mann und ihre jüngste Tochter Berthe – wurde verhaftet und nach Polen deportiert. Sie kehrten nie mehr zurück.

Als der dreijährige Jacquie, der kein Wort Französisch sprach, bei uns eintraf, war er völlig verstört. Er sah uns mit großen Augen an und sagte kein Wort. Doch als sein Blick auf meine damals vierzehnjährige Schwester Hélène fiel, fing er an zu strahlen. Er schloss sie sofort ins Herz und wich ihr nicht mehr von der Seite. Hélène freute sich, einen kleinen »Bruder« zu haben, mit dem sie spielen konnte, und sie genoss seine Zuwendung. Aber da sie wie Fred eine schelmische Ader hatte, piesackte sie den armen Jacquie oft unerbittlich. Oder sie kommandierte ihn herum. Sie sagte zu ihm, sie habe kalte Hände, worauf er zu ihr rannte, um sie ihr zu wärmen. Oder sie bat ihn, ihr etwas zum Anziehen zu bringen. Doch wenn sie sich mit ihm beschäftigte, hatte sie eine unendliche Geduld, um die ich sie heimlich beneidete. Wir alle wussten, dass Jacquie seine Familie lange Zeit nicht wiedersehen würde – möglicherweise nie. Dass Hélène ihn unter ihre Fittiche nahm, schien ihn über die schmerzliche Trennung hinwegzutrösten.

Nach den Ereignissen in der Kristallnacht beschloss unsere Familie, jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland beizustehen. Auf Anregung unseres jungen Rabbi Elie Bloch erklärten sich viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde bereit, ihren Beitrag zu leisten. Meine Mutter gehörte zu den aktivsten Helferinnen.

Wir fanden die Untätigkeit der französischen Regierung empörend und diskutierten oft darüber, welche Maßnahmen man gegen Deutschland ergreifen könnte.

»Die Franzosen haben genauso viel Schuld an dieser Katastrophe wie die Engländer«, schimpfte meine Mutter. »Sie lassen es zu, dass Hitler einfach irgendwo einmarschiert und sich nimmt, was er will. Offensichtlich hat niemand den Mumm, ihm die Stirn zu bieten.«

Wir nahmen mindestens zehn Familien, die aus Deutschland geflohen waren, vorübergehend bei uns auf. Was sie uns über ihr Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft erzählten, war weit schlimmer als alles, was wir durch die Presse wussten. Man hatte ihnen nach und nach ihre Bürgerrechte entzogen, ihre Renten einbehalten, ihnen Schmuck, Aktien und Kunstgegenstände geraubt, ihnen verboten, Auto zu fahren, Radio zu hören oder sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufzuhalten. An den meisten Läden und Betrieben hingen Schilder mit der Aufschrift: JUDEN UNERWÜNSCHT. Auf Schritt und Tritt wurden sie beschimpft oder gar misshandelt.

Meine Mutter brachte die Flüchtlinge für ein paar Tage bei uns unter und versorgte sie, bis sie weiterreisen konnten. Stéphanie, Cécile und ich versuchten, sie ein wenig aufzuheitern, während mein Vater ihnen finanziell unter die Arme griff. Da man ihre Bankkonten gesperrt hatte, waren viele ohne einen Pfennig in der Tasche aufgebrochen und hatten nur das Notwendigste mitgenommen. Sie waren unterwegs zu Verwandten in Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien, Amerika oder Palästina.

Das Schicksal dieser Menschen erschütterte mich tief, aber offen gestanden glaubte ich keinen Moment lang, dass uns einmal das Gleiche passieren könnte. Nicht in Frankreich.

»Das werden die Franzosen niemals zulassen«, beruhigte ich meine Mutter, die sich allmählich ernste Sorgen machte. Ich war überzeugt davon, dass man Hitler durch geschicktes Taktieren aufhalten könne. Als ich von Chamberlains Besuch bei Hitler erfuhr, jubelte ich. Hitler mochte verrückt sein, aber mit der richtigen Strategie würde man ihn schon zur Vernunft bringen. Ich war jung und idealistisch. Ich glaubte an das Gute im Menschen und vertraute darauf, dass es sich am Ende auch durchsetzen würde. Die Ereignisse des Jahres 1939 sollten mich allerdings eines Besseren belehren.

Doch zunächst geschah etwas, das mein Leben schlagartig verdüsterte. Am Tag vor Pessach starb mein geliebter Großvater. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen. Vielleicht hatte er den Wahnsinn in Europa nicht mehr länger ertragen. Er wurde 76 Jahre alt. An einem warmen Frühlingstag bestatteten wir ihn unter Tränen auf dem jüdischen Friedhof, dessen Errichtung zum Teil sein Verdienst war. Hunderte von Menschen schlossen sich dem Trauerzug an, der mitten durch Metz führte. Kinder sprachen uns an und erzählten, dass Großpapa ihnen immer etwas Süßes zugesteckt hatte. Bedürftige Familien berichteten, dass er ihnen regelmäßig zum Sabbat Kohle und Lebensmittel gebracht habe. Er hatte die schweren Säcke eigenhändig ins dritte oder vierte Stockwerk hinaufgeschleppt. Es überraschte und rührte uns, dass er so beliebt gewesen war. Großpapas Tod war ein großer Verlust für uns. Doch einige Jahre später waren wir unendlich dankbar dafür, dass er nicht mehr hatte erleben müssen, was in Frankreich geschah. Unser Großvater hatte, wenn auch nicht bewusst, einen würdevollen Tod den entwürdigenden Schikanen vorgezogen, die uns erwarteten.

Als im September desselben Jahres Deutschland und die Sowjetunion in Polen einmarschierten und Frankreich und Großbritannien ihnen den Krieg erklärten, wurde mir endgültig klar, wie naiv meine Hoffnung auf eine friedliche Lösung gewesen war. Meine Eltern ängstigten sich weit mehr als wir Kinder. Schließlich hatten sie schon einen Weltkrieg miterlebt. Als Vater dreier Kinder war Papa zwar vom Militärdienst freigestellt worden, aber natürlich hatte die Familie unter den Härten des Kriegs gelitten. Wenn Cécile und Fred nachts von den Bombardements der Alliierten geweckt wurden, lief Maman ins Kinderzimmer und sprach mit ihnen das Schma Israel. »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!«, betete sie inbrünstig. Meine Geschwister beruhigten sich sofort und schliefen trotz des Lärms wieder ein.

In Frankreich erfolgte die allgemeine Mobilmachung. Fred, der in Nancy eingezogen wurde, kam direkt an die Maginot-Linie, ein schwer befestigter Verteidigungsgürtel entlang der Grenze zu Deutschland. Arnold leistete seinen Militärdienst in Tunesien ab und blieb dort bei seinem Regiment. Die ganze Familie, besonders meine Mutter, hatte große Angst um meine Brüder.

Nicht lange danach veröffentlichte die Stadtverwaltung eine amtliche Bekanntmachung: Alle Familien, die es sich leisten konnten, sollten die Stadt verlassen.

»Weggehen?«, rief mein Vater empört. »Wohin denn? Alles, was wir haben, ist hier in Metz. Hier haben wir uns eine Existenz aufgebaut.« Er hatte seinen Fotoladen und Cécile ihren Hutsalon; unsere jüngeren Schwestern besuchten noch die Schule. Und was sollte mit unserer Großmutter geschehen? Und mit Großpapas kostbarer Bibliothek?

»Für Ihre Familie ist Poitiers vorgesehen«, sagte uns der gestresste Beamte der Stadtverwaltung. »Es ist ja nur eine vorübergehende Vorsichtsmaßnahme, bis sich alles wieder beruhigt hat. Betrachten Sie es als einen Kurzurlaub. Versuchen Sie, bei Verwandten oder Freunden unterzukommen. Nehmen Sie nur mit, was Sie unbedingt benötigen. Aber verlieren Sie keine Zeit.«

Benoît, der jüngste Bruder meines Vaters, wohnte in Poitiers, etwa siebenhundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Das schien am anderen Ende der Welt zu sein. Deshalb gingen alle davon aus, dass die Stadt vom Krieg verschont bliebe. Da die Argumente der Behörden nicht von der Hand zu weisen waren, beschlossen wir nach einer kurzen Beratung mit Freunden und Verwandten, so bald wie möglich aufzubrechen.

»Seht es als verspäteten Sommerurlaub an«, versuchte meine Mutter uns aufzumuntern, als es am nächsten Morgen ans Packen ging. »Ehe ihr euch verseht, sind wir wieder zu Hause.«

Ich war mittlerweile 19 Jahre alt und sah unserer Abreise mit gemischten Gefühlen entgegen. Während ich meine persönlichen Sachen in einem kleinen Koffer verstaute, gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Metz war mein Zuhause. Hier hatte ich meine Freundinnen und meine Arbeit. Andererseits könnte ein neues Leben in einer fremden Stadt ein großes Abenteuer sein, auch wenn mich die ungewisse Zukunft ein wenig ängstigte. Aber was würde Cécile machen, die sich mit ihrem Hutsalon einen treuen Kundenstamm aufgebaut hatte? Und Stéphanie, die unbedingt Ärztin werden wollte? Und würden Hélène und Rosy, die hervorragende Schülerinnen waren, die Schule abschließen können?

Als ich aufblickte, sah ich Jacquie mit schreckgeweiteten Augen im Türrahmen stehen.

»Kommen jetzt die Deutschen?«, fragte er und steckte schnell wieder den tröstenden Daumen in den Mund. Dieser unschuldige kleine Junge, der miterlebt hatte, wie verrohte Gestapo-Beamte in sein Zuhause eingedrungen waren und alles kurz und klein geschlagen hatten, und der brutal dem Schoß seiner Familie entrissen worden war, musste furchtbare Angst haben.

Ich tadelte mich innerlich für meinen Egoismus, lief zu ihm und drückte ihn fest an mich. »Nein, Jacquie«, sagte ich und strich ihm über sein flaumiges braunes Haar. »Die Deutschen werden nicht in Frankreich einmarschieren. Niemals. Das versprech ich dir.«

Im Land des Feindes

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