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02 Die eben noch wärmende Nähe wurde jäh unterbrochen, als Max Pfeffer hochschnellte und nach seinem Handy tastete, das Geräusche wie ein Stahlwerk, in dem Kesseldampf abgelassen wird, von sich gab. Dann sagte eine Männerstimme »Okay, ready, let’s do it« und der industrielle Maschinensound des »Being Boiled«-Intros von Human League stampfte rhythmisch durch das Schlafzimmer, bis Pfeffer ranging.

»Ja«, bellte er ins Telefon, während Tim sich stöhnend umdrehte und seine langen Arme um Pfeffers Hüften schlang.

»Deshalb müsst ihr mich wecken?«, sagte Pfeffer ärgerlich. Tim biss Pfeffer spielerisch in die Hüfte.

»Gut, verstehe … Ja … Ist okay. Ich komme gleich.« Pfeffer legte auf.

»Du solltest dir endlich mal einen dezenteren Klingelton zulegen«, grummelte Tim, das Gesicht halb im Kissen. »Oder warte wenigstens, bis der Gesang mit ›Listen to the voice of Buddha‹ kommt, dann wacht man omtechnisch besser auf.«

»Ich brauch nen Klingelton für die Arbeit, den ich überall raushöre und von dem ich schnell aufwache«, antwortete Pfeffer knurrig und kuschelte sich noch kurz zu Tim.

»Haben wir wieder eine Leiche, Maxl?«

»Wir haben.«

»Und die brauchen dich bei der Leiche, weil ja sonst keiner Mörder finden kann?«

»Erraten.«

»Wie spät isses denn?«

»Gleich halb fünf.«

»Scheiße. Na gut, dann kann ich ja auch gleich aufstehen.«

»Spinnst du? Du musst nicht wegen mir …«

»Geh duschen, Herr Oberkriminaldirektor. Ich mach Kaffee und hab auch einen vollen Tag vor mir. Schadet gar nix, wenn ich mal früh aufstehe.«

»Wie du meinst, mein Schokocrossie.«

»Wow, der ist neu. Und so gar nicht rassistisch.« Mandelaugen funkelten, weiße Zähne blitzten und Sommersprossen tanzten auf Tims Kupferteint – und Max Pfeffer wusste wieder, ohne es wirklich jemals vergessen zu haben, warum er sich damals in diesen exotischen Hünen von der niederländischen Karibikinsel Curaçao verliebt hatte. Tim de Fries, der sich selbst immer als »holländische Kolonialware« bezeichnete, weil in seinen Adern das Blut fast aller Völker des einst gigantischen niederländischen Weltreichs floss; vom friesischen Bauern zur indonesischen Wäscherin bis hin zum ghanaischen Kaufmann reichten seine Vorfahren. Für Max Pfeffer war sein Lebensgefährte der Beweis, dass ein Mix aus allen Völkern und Hautfarben der Welt die schönsten Menschen hervorbringt.

»Eben. Ich gebe mir Mühe, Brownie.«

Max Pfeffer sprang schnell aus dem Bett und Tims spielerischer Schlag ging ins Leere.

»Schokocrossie ist mir lieber«, rief ihm Tim hinterher. »Klingt knackiger als Brownie. Und eigentlich bin ich ja eher ein Karamellbonbon …«

»Werds mir merken«, antwortete Pfeffer vom Flur aus, bevor ihm einfiel, dass er leiser sein musste, wollte er nicht seinen Sohn Florian aufwecken.

Ein zartes Morgenrot beleuchtete die Szenerie, als Max Pfeffer die Betontreppe neben den Gleisen hinunterstieg. Er ärgerte sich ein wenig, dass der Tag so begann, statt mit seinem üblichen Sportprogramm. Obwohl er erst Anfang vierzig war, hatte Max Pfeffer schon seit Jahren graue Haare. Daran hatte er sich nie gestört, und er hatte alle Versuche seines Friseurs, die Haare zu »renaturieren«, abgelehnt. Außerdem kontrastierten die Haare bestens mit seinen tiefbraunen, sanftkuscheligen Augen, die ihm nicht ausschließlich, aber doch zumeist bei Frauen gewisse Sympathiepunkte einbrachten. Ein Kollege hatte mal gesagt: »Du redest dir leicht mit deinen Schenkelöffneraugen …« Pfeffer fand sich selbst nicht besonders hübsch, aber er achtete sehr auf sich – seit er sich einen kurzen Bart hatte stehen lassen, brauchte er im Bad etwas kürzer. Er kleidete sich immer mit Stil und Geschmack. Was Pfeffer jedenfalls massiv störte, waren Fettpölsterchen und Bierbäuche. So etwas würde es bei ihm nicht geben. Also zog Max Pfeffer konsequent und diszipliniert seit ewigen Zeiten sein Sportprogramm durch. Idealerweise in der Früh. Außer an Tagen wie diesem.

Pfeffer schwang sich über das Absperrgitter und lief die paar Schritte durch ein bisschen Böschung mit Grünzeug, bis er am Schotterbett der Bahngleise stand. Vor ihm lag die Hackerbrücke im Licht des beginnenden Tages. Hinter mehreren Reihen Gleisen und Weichen, zwischen denen ein Wald von Signalmasten stand, erhob sich düster wie eine Trutzburg das Stellwerk. Auf den Gleisen dahinter rauschten schon die ersten S-Bahnen mit Pendlern in Richtung Hauptbahnhof, von der Ferne wehten die Lautsprecherdurchsagen her. Züge rangierten auf den seitlichen Gleisen. Ein weißer ICE glitt im Schleichtempo gespenstisch leise vorbei.

Die grellen Scheinwerfer der Spurensicherung wiesen Pfeffer den Weg. Er sah es schon von Weitem: Ungefähr in halber Höhe zwischen Brückengeländer und Bahngleisen hing ein menschlicher Körper an einem Seil. Dahinter sah er die Silhouette der Stadt, die Türme der Frauenkirche und die aufgehende Sonne. Im Halbdunkel den Weg halbwegs stolperfrei zwischen Bohlen, Schienen, Schotter und erstaunlich wenig Abfall zurückzulegen, war nicht so einfach. Pfeffer sah, dass wenige Meter vor ihm eine Frau mit kurzen blonden Haaren, die denselben Weg zu haben schien, stolperte und hinfiel. Seine Kollegin. Er beeilte sich und half ihr auf. »Gehts, Bella?«

»Chef, mein starker Held.« Hauptkommissarin Annabella Scholz richtete sich stöhnend auf, stemmte den linken Arm in die Seite und wischte sich über den mächtigen Bauch. Sie roch angenehm nach Kaffee. Seit sie Kontaktlinsen statt einer Brille trug, hatte sie etwas Lieblicheres an sich.

»Schwangerschaftsgymnastik, Bella?«, fragte Pfeffer schmunzelnd. Alle nannten Annabella nur Bella.

»Klar, Chef. Ist eine Yogaübung. Nennt sich Verbrühung mit heißem Kaffee am Morgen.« Sie wischte mit der flachen Hand weiter über ihre Kleidung, in der anderen hielt sie noch den Pappbecher, dessen Inhalt sie über sich geschüttet hatte.

»War er arg heiß?«

»Nein, geht schon. Nur ärgerlich, dass ich gleich die neue Hose eingesaut habe.«

Die beiden gingen vorsichtig weiter.

»Gehts wirklich, Bella?«, fragte Pfeffer und deutete auf den Bauch der schwangeren Kollegin.

»Klar. Er tritt nur ein wenig. Kein Thema.« Bella Scholz hielt sich sacht an Pfeffers Arm fest. »Warum haben sie dich rausgeholt, Chef?«, fragte sie dann. »Muss schon was verdammt Wichtiges sein.«

»Keine Ahnung«, antwortete Max Pfeffer. »Sie haben nur gesagt, dass das vermutlich ein höchst sensibler Fall sei, und dass auch The Big Boss informiert wurde und anwesend sein wird. Ebenso der Oberstaatsanwalt. Da muss ich also auch kommen.«

»Elefantenrunde«, sagte Bella Scholz trocken und deutete auf eine kleine Gruppe Menschen, die außerhalb des Flutlichts stand und sich unterhielt: Oberstaatsanwalt Norbert Bauer, Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser und Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer. Die Rechtsmedizinerin trug als Einzige der drei einen weißen Overall, ebenso wie die Kollegen der Spurensicherung innerhalb des gleißenden Flutlichtkreises. Bella Scholz sah beim Gehen konzentriert auf den Boden, um nicht noch einmal zu fallen. Deshalb fuhr sie überrascht zusammen, als Pfeffer plötzlich seinen Arm befreite, davonsprintete und dabei »Seid ihr völlig übergeschnappt! Stopp!« brüllte. Das Quietschen eines rangierenden Zugs verschluckte sein Geschrei.

Hauptkommissarin Bella Scholz stolperte ein zweites Mal an diesem Morgen und schlug sich diesmal das rechte Knie an einer Schiene auf. Das Baby in ihrem Bauch trat und boxte.

»Stopp!«, brüllte Pfeffer noch einmal. Die Kollegen von der Spurensicherung drehten sich zu ihm um, auch Kriminaldirektorin Staubwasser, die Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer und Oberstaatsanwalt Bauer richteten ihre Aufmerksamkeit auf Pfeffer. Nun endlich nahmen ihn die Uniformierten oben auf der Brücke wahr und hielten inne. Sie waren auf die Absperrung auf der Brüstung geklettert, hatten mehrere Decken auf den Stacheldraht gelegt und waren dabei, den Erhängten am Seil, das ihm das Genick gebrochen und dann tief in seinen Hals eingeschnitten hatte, nach oben zu ziehen.

»Seid ihr wahnsinnig?!«, rief Pfeffer den Kollegen oben auf der Brücke zu. »Runterlassen, nicht raufziehen!«

»Aber wir haben doch Handschuhe an«, rief einer der Uniformierten.

»Runterlassen!«, brüllte Pfeffer.

Sofort ließen die beiden Uniformierten das Seil los, die Leiche rauschte nach unten und landete mit einem unangenehmen Knacksen wieder in ihrer Auffindposition.

»Das … also wirklich …«, stammelte Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser, als sie zu Pfeffer trat. Weder sie noch die Rechtsmedizinerin oder der Staatsanwalt hatten zuvor bemerkt, was vor sich gegangen war. »Wie pietätlos …«

»Wobei … sie hatten ihn doch schon fast oben«, sagte Oberstaatsanwalt Bauer. »Gut, warten wir eben, bis der Laster mit Hebebühne hier ist und ihn runterholt.«

Doktor Gerda Pettenkofer verdrehte die Augen und zündete sich eine Zigarette an. »Sie wissen schon, dass die beiden Kasper da oben mit ihrer Aktion meine Arbeit unnötig erschweren«, knurrte sie.

»Mein Gott«, entgegnete der Staatsanwalt, »Sie werden ja wohl noch feststellen können, welche Verletzungen zum Tode führten und welche danach …« Er brach ab und zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, falls hier irgendwer mit dem Handy fotografiert oder filmt, macht das keinen guten Eindruck von der Arbeit der Münchner Polizei, wenn sie einen Erhängten am Galgen hochziehen, oder?«, sagte Max Pfeffer. Er hatte ein, gelinde gesagt, schwieriges Verhältnis zu Oberstaatsanwalt Norbert Bauer.

»Da hat Kollege Pfeffer recht«, sagte Kriminaldirektorin Staubwasser. Inzwischen hatte auch Hauptkommissarin Scholz die Gruppe erreicht. »Sie fragen sich sicher, warum wir heute zu dieser unchristlichen Uhrzeit in großer Runde hier sind«, fuhr die Kriminaldirektorin fort. »Auch wenn unser Opfer noch nicht genau untersucht werden konnte, so ist doch selbst von hier unten eindeutig feststellbar, dass es sich um einen Menschen mit Migrationshintergrund handelt. Dazu diese exponierte Lage! Mitten in der Innenstadt in Sichtweite zum Hauptbahnhof. Und die Art und Weise lässt sofort an eine Hinrichtung denken.«

»Warum sind wir sicher, dass es kein Selbstmörder ist, der sich spektakulär verabschieden wollte?«, fragte Pfeffer.

»Weil …«, der Staatsanwalt zögerte. »Weil wir das noch nicht wissen. Es sieht allerdings nicht nach Selbstmord aus.« Er ließ offen, warum. Er hatte keine Ahnung, warum.

Die Rechtsmedizinerin sprang ein: »Weil ein Selbstmörder hier wohl die leichtere Variante gewählt hätte, Maxl. Wenn er schon mühsam die Absperrung da oben überwunden hätte, die verhindern soll, dass Leute sich hier herunterstürzen, dann wäre er einfach über den Stacheldraht hinweg auf die Gleise vor einen einfahrenden Zug gesprungen. Sich da mit einem Seil zu erhängen, dürfte sich äußerst schwierig gestalten. Aber ich möchte hier auch betonen, dass auch ich einen Selbstmord nicht ausschließen kann, solange ich nicht die Leiche untersucht habe.«

»Wichtig ist momentan, dass die Öffentlichkeit aufs Äußerste sensibilisiert ist. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von hier wurde im Westend Theodoros Boulgarides von diesen Neonazis ermordet und wenige hundert Meter Luftlinie in die andere Richtung findet momentan der Prozess gegen die letzte überlebende Täterin der rechtsextremen Terrorzelle NSU statt! Da schaut die ganze Welt drauf! Wir haben uns schon einmal bis auf die Knochen blamiert, weil wir die Dönermor… die Morde an ausländischen Mitbürgern falsch eingeordnet hatten. Das darf nicht wieder vorkommen, haben wir uns verstanden?«

»Ich habe das verstanden«, sagte Pfeffer lakonisch mit dem Anflug eines Lächelns. Er wusste, wie alle der Anwesenden, dass nur einer aus ihrer Gruppe bei den blamablen Ermittlungspannen zu den NSU-Morden beteiligt gewesen war: Oberstaatsanwalt Norbert Bauer.

Doktor Gerda Pettenkofer trat ihre Zigarette aus. »Da kommt der Kranwagen endlich! Ich fahr am besten gleich mit den Jungs rauf zu unserem Kunden, damit die nicht wieder irgendwelche Dummheiten mit ihm anstellen, bevor sie ihn runterbringen.« Die Medizinerin setzte ihren umfangreichen Leib in Bewegung und ging mit energischem Schritt zu den Kollegen, die den Transporter mit ausfahrbarer Arbeitsbühne von der Deutschen Bahn unter dem Erhängten in Position brachten. Oranges Licht zuckte von den Warnleuchten auf dem Fahrerkabinendach durch den Morgenhimmel.

Kriminaldirektorin Staubwasser sah der Pettenkoferin mit gespitzten Lippen und missbilligend gerunzelten Augenbrauen hinterher. Dann drehte sie sich zur Gruppe zurück. »Wie der Herr Oberstaatsanwalt bereits gesagt hat, scheint es so, als sei hier absolutes Fingerspitzengefühl gefragt.«

»Und warum hat sie dann ausgerechnet uns herbestellt?«, sagte Bella Scholz leise. Der Kommentar wurde vom »Rattattrattattrattatt« eines vorbeifahrendes Zuges geschluckt. Doch Max Pfeffer, der neben ihr stand, hatte es gehört und schmunzelte.

»Finden Sie meine Ausführungen so witzig, Kollege Pfeffer?«, fragte die Kriminaldirektorin spitz.

»Nicht doch«, antwortete Pfeffer, »ich habe nur an etwas gedacht, was mich zum Schmunzeln brachte.« Er verstand sich in der Regel gut mit seiner Chefin.

»Ach«, Oberstaatsanwalt Bauer mischte sich ein. »Vielleicht wollen Sie uns dann alle daran teilhaben lassen?«

»Nein«, antwortete Pfeffer gelassen.

»Zurück zum Thema, meine Herren.« Jutta Staubwasser versuchte, an ihrer blondierten, festbetonierten Frisur herumzutuffen. »Die Öffentlichkeit wird uns haargenau auf die Finger schauen, wenn wir es hier tatsächlich mit einer Art Hinrichtung eines Aus… eines … eines Mitmenschen mit Migrationshintergrund zu tun haben. Wir stehen zwar erst ganz am Anfang der Ermittlungen, aber Oberstaatsanwalt Bauer und ich sind uns einig, dass wir auf alles vorbereitet sein müssen. Darum wird es, sobald wir die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin haben, eine Besondere Aufbauorganisation geben, von der wir schnellstmögliche Ergebnisse erwarten. Wie bereits gesagt, dürfen Fehler wie bei den NSU-Ermittlungen nicht mehr vorkommen. Dazu kommt dann noch die Pikanterie, dass einer der beiden Jungs, die die Leiche gefunden haben, Benno Althaus ist.«

»Ja, und?«, fragte Pfeffer.

»Benno Althaus!«, schnaubte der Oberstaatsanwalt ungehalten. »Mensch, denken Sie doch mal mit, Pfeffer. Der Sohn vom Zweiten Bürgermeister! Doktor Guido Althaus von den Grünen!«

»Ich bleibe dabei: Ja, und?«

Der Oberstaatsanwalt warf entnervt die Hände in die Höhe.

»Sie möchten, dass ich diese Sonderermittlungskommission leite?«, fragte Pfeffer ungerührt.

Jutta Staubwasser schmunzelte und sagte süffisant: »Wie nicht anders zu erwarten, denken Sie mit, Kollege Pfeffer. Ja. Ich habe Oberstaatsanwalt Bauer davon überzeugen können, dass Sie der richtige Mann dazu sind. Stellen Sie sich bitte schnell ein Team für eine Sonderkommission zusammen, damit Sie loslegen können, wenn die Rechtsmediziner fertig sind.«

»Wenn oder falls es sich um Mord und nicht um Selbstmord handelt«, sagte Hauptkommissarin Scholz.

»Richtig.« Die Kriminaldirektorin lächelte verbindlich. »Falls. So, und nun entschuldigen Sie mich bitte. Meine Anwesenheit dürfte sich hier erübrigt haben. Wir sehen uns im Büro.« Jutta Staubwasser verabschiedete sich und bemühte sich so damenhaft wie möglich über die Gleise und den Schotter zu stöckeln. Es fiel ihr nicht ganz leicht, denn das taubenblaue Kostüm, das sie heute gewählt hatte, hatte einen recht engen Rock, der ihre Schrittgröße drastisch einschränkte.

»Mich brauchen Sie ja auch nicht mehr.« Der Oberstaatsanwalt kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kriminalbeamten jovial die Hände und ging.

»Ich habs doch gesagt. Elefantenrunde.« Bella Scholz legte die Hände um ihren Bauch. »Denen geht der Arsch auf Grundeis. Nach den NSU-Morden. Und dann beginnt auch noch bald die Wiesn.« Sie sah hinüber zu dem orange blinkenden Transporter mit Arbeitsbühne. Der Teleskoparm war weit herausgefahren. Oben im Arbeitskorb konnte man zwei Männer in weißen Overalls erkennen, die den Toten aus der Schlinge befreiten. Bei ihnen stand Doktor Gerda Pettenkofer und notierte sich etwas.

»Eigentlich kannst du hier alleine weitermachen, oder?«, sagte Max Pfeffer. »Elefantenrunde ist zu Ende.«

»Schon klar, Chef.«

»Vergiss bitte nicht das Stellwerk, vielleicht haben die oben im Turm was gesehen. Ach, und natürlich den Busbahnhof. Haben die die ganze Nacht auf?«

»Ja, Chef.« Bella Scholz klang ungehalten. Er hatte gesagt, sie solle sich darum kümmern, also würde sie sich darum kümmern. Kontrollfreak.

»Okay. Kaffee? Ich hol uns drüben im ZOB noch einen Kaffee, dann sehen wir weiter.« Er deutete auf den Zentralen Omnibusbahnhof, der hinter der dunklen Silhouette des Stellwerkturms wie ein gestrandetes Ufo mit abgehacktem Hinterteil lag und bereits um diese frühe Uhrzeit hell erleuchtet war. »Du kannst ja in der Zwischenzeit … Wer hat eigentlich die Leiche gefunden? Wo ist dieser wahnsinnig wichtige Sohn?« Er sah sich um und machte zwei Jungs mit dicken Kapuzensweatern aus, die sich jenseits der Gleise an einer Betonmauer herumdrückten und eifrig mit ihren Smartphones herumhantierten.

»Weiß ich doch nicht«, antwortete Bella Scholz erstaunt, »bin auch erst mit dir gekommen.«

»Hab sie schon.« Pfeffer deutete zu den Jungs. Ein paar Meter neben ihnen stand ein uniformierter Beamter und rauchte. Die Betonmauer schien zu einem flachen, langen Schuppen mit bemoostem Dach zu gehören, der an die Böschung gebaut war. In der ganzen langen Mauer gab es nur eine einzige Tür. »Shit, was habe ich gesagt zum Thema gefilmte Aktionen, die dem Ansehen der Polizei schaden könnten?« Er lief zu den Jungs hinüber.

»Servus.«

»Servus.« Aufgeweckte, ziemlich spitzbübisch dreinblickende Augenpaare blitzten unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen hervor. Die Burschen konnten höchstens sechzehn oder siebzehn sein und hatten etwas von überneugierigen Welpen. Pfeffer mochte sie sofort.

»Max Pfeffer, Kripo München. Und ihr seids?«

»Der Benno Althaus«, sagte der Größere und hielt Pfeffer wohlerzogen die Hand hin.

»Und der Louis Poletti.« Auch der Kleinere schüttelte Pfeffer die Hand.

»Passts auf, Buam«, sagte der Kriminalrat. »Ich brauch keine wilden Geschichten, warum ihr euch hier vor dem ersten Hahnenschrei auf dem Bahngelände herumtreibt, okay?« Er deutete auf die Rucksäcke am Boden. »Ihr wolltet hier taggen oder was auch immer sprühen.« Die beiden Burschen tauschten einen verschwörerischen Blick und bliesen synchron die Wangen auf. Pfeffer sah hinüber zum nächsten Brückenpfeiler und deutete auf das halbfertige Writing. »Gut, ich sehe, ihr hattet schon angefangen.«

»Wir?«, sagte Louis betont unschuldig.

»Das waren wir nicht!«, rief Benno empört.

»Wollen wir jetzt gemeinsam eure Rucksäcke öffnen? Und wollt ihr mir dann die Sketchbooks und Sprühdosen als Unterrichtsmaterial verkaufen? Wisst ihr, mir ist völlig wurscht, was ihr wo hinmalt. Ich halte euch keine Standpauken, dass das Sachbeschädigung und illegal ist und hier vor allem saugefährlich mit den ganzen Zügen. Im Gegenteil. Ich bin echt positiv überrascht, dass ihr die Polizei gerufen habt, statt abzuhauen. Danke. Ganz im Ernst.« Die beiden Jungs grinsten stolz.

»Das war für euch bestimmt ganz schön hart. So eine Leiche da hängen zu sehen …«

Louis, der Kleinere, zuckte mit den Schultern. »Nö. So hab ich schon meinen Opa gesehen. Der hat sich nämlich aufgehängt. Da war ich zehn.«

Pfeffer zog erstaunt die Augenbrauen hoch und gab ein »Oh« von sich.

»Nix oh. Ich mochte ihn nicht besonders, den Alten. Hat mich nicht groß geschockt.«

»Dann ist gut.« Pfeffers Stimme glitt eine Tonlage tiefer und wurde schneidend sachlich. »Ich muss euch allerdings dringend darauf hinweisen, dass es strafbar ist, ohne Genehmigung einen Polizeieinsatz zu filmen oder zu fotografieren. Und dann das Ganze noch irgendwo online zu stellen.« Er sah den beiden Jungs abwechselnd fest in die Augen. Benno senkte den Blick.

»Ich werde euch nur dieses eine Mal auffordern, eure Fotos und Videos von dieser Aktion sofort zu löschen. Alle. Ausnahmslos alle. Und falls ihr es schon irgendwo auf Facebook oder YouTube oder Flickr oder wo auch immer gepostet habt, löscht es auch dort. Sofort. Sonst wirds teuer für euch oder eure Eltern. Richtig teuer.«

»Ja, schon klar«, sagte der Größere gedehnt. Beide wischten und drückten auf ihren Smartphones herum.

»Auch auf …«, murmelte Louis.

»Klar, Mann, hast doch den Kriminalkommissar gehört«, sagte Benno mit hektisch geröteten Wangen. »Die haben doch unsere Adressen …«

»Kriminalrat«, sagte Pfeffer.

»So, zufrieden?«, fragte Benno schließlich und hielt Pfeffer das iPhone hin.

»Danke euch.« Pfeffer drehte sich zum Gehen. »Wann geht die Schule los? Um acht? Da habt ihr noch ein bisschen Zeit. Meine Kollegin kümmert sich gleich um euch und wird eure Aussagen protokollieren.«

»Aber die ist doch schwanger«, sagte Benno erstaunt.

»Ja und? Ach, ich bin gerade auf dem Weg zum ZOB. Soll ich euch einen Kaffee oder so von drüben mitbringen? «

»Voll porno«, sagte der Kleinere und strahlte. »Wenn der Kollege …«, er deutete mit dem Kopf auf den rauchenden Uniformierten, »uns dann noch eine Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt. Wäre klasse. Doppelter Espresso mit Zucker bitte. Danke.«

»Und ich nen Caramel Light Frappuccino …«, meinte Benno ernsthaft.

»Also einen Kaffee mit Milch und Zucker«, antwortete Pfeffer trocken.

»Vollspast«, flüsterte Louis.

»Aber ich mag den Caramel …«

»Ach, halt die Klappe.«

»Selber Klappe, selber Vollspast.« Benno äffte Louis nach: »Wenn der Kollege uns dann noch ne Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt …«

Westend 17

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