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03 Arslan hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wieder einmal. Nicht nur, dass ständig Züge vorbeirumpelten, es waren vor allem die Ratten, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte sie gesehen. So groß und fett, wie er sich Ratten immer vorgestellt hatte, waren sie zwar nicht, aber dennoch. Und so viele waren es auch nicht. Aber es reichten schon die zwei, drei, die er gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine einzige gewesen, die mehrfach vorbeigekommen war. Aber Arslan verdrängte den Gedanken. Wo zwei, drei waren, waren bestimmt auch zwanzig, dreißig. Arslan fürchtete sich davor, einzuschlafen und dann von den Tieren angeknabbert zu werden. Zwar hatte ihm Tayfun versichert, das sei nur Geschwätz, denn Ratten würden vor Menschen Angst haben, doch was wusste Tayfun schon. Der musste ja nicht in einem selbst gebastelten Zelt an einem Bahndamm übernachten. Nein, Tayfun hatte weiterhin sein warmes, weiches Bett und ein Dach über dem Kopf.

Und dann die ständige Angst, entdeckt zu werden. Was, wenn jemand kommen würde mitten in der Nacht? Was, wenn ein Obdachloser ihm diesen Platz streitig machen würde? Neben seinem Zelt stand ein leeres, backsteinernes Bahnwärterhäuschen, oder was das auch immer früher gewesen sein sollte. Eingeschlagene Fensterscheiben, bröckelnder Putz und Graffiti. Arslan hatte sich zuerst darin sein Nest einrichten wollen, doch dann die Spuren von mehr als einem anderen Bewohner gefunden. Faulige Matratzen, Müll und kaputte Schlafsäcke. Zwar war in den beiden letzten Nächten niemand aufgetaucht, dennoch wollte Arslan mögliche Scherereien um den Schlafplatz vermeiden und hatte sein Zelt aus alten blauen Planen hinter dem Häuschen aufgestellt. Zuvor hatte er die Umgebung genau abgesucht, um nicht zufällig in die Exkremente seiner Vorgänger zu treten oder sich sich darin zu betten.

Arslan hasste das Gedankenkarussell, das ihn wach hielt.

Und dann auch noch dieses Geschrei. Es kam immer wieder vor, dass die Betrunkenen unten an der Straße herumgrölten oder sich lautstark verabschiedeten, wenn sie aus der »Zur Gruam« getorkelt kamen. Arslan kannte die Kneipe gut. Er war hier auch schon mehr als einmal abgestürzt. Doch nun machten ihm die Stimmen Angst. Vor allem, da es sich offenkundig um eine Frauenstimme handelte, die nun laut um Hilfe rief. Und die Stimme kam näher! Das bedeutete, dass diese Frau (und womöglich Männer, die sie bedrohten) die kleine Mauer unten an der Thalkirchner Straße hochgeklettert war und nun den Trampelpfad hinauf zu den Gleisen folgte.

»Verpiss dich!«, schrie die Frauenstimme. »Lass mich los! Nein!«

»Stell dich nicht so an!«, brüllte eine Männerstimme.

»Nein! Du tust mir weh! … Du Scheißarsch! Nein!«

»Halt endlich deine blöde … Aaaarghhh … Scheißdrecksschlampe! Das wirst du büßen!«

»Nein!«

Arslan hörte das Getrappel der Schritte, hörte zurückschnalzende Zweige, hörte die Schläge und das Reißen von Stoff. Und die Frau schrie immer nur »Nein!«. Schließlich hielt es Arslan nicht mehr aus. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, schlüpfte in seine Schuhe und krabbelte aus dem Zelt. Er spähte um die Ecke des Bahnwärterhäuschens und sah im fahlen Morgenlicht einen Mann und eine Frau zwischen den Büschen im Clinch. Sie waren beide jung, höchstens Anfang zwanzig. Er zerrte an ihrer dünnen Sommerjacke, die nur noch in Fetzen an ihr hing. Sie schlug und trat nach ihm, verfehlte ihn aber meist. Beide hatten erhebliche Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, weil sie betrunken oder auf Droge oder beides waren. Schließlich warf er sich auf sie und zerriss endgültig ihre Jacke. Er drückte ihr seinen Ellbogen auf die Kehle und keuchte: »So, du Dreckstück, jetzt kriegst dus!« Er kniete breitbeinig über ihr.

Arslan sprintete von hinten heran und trat dem Kerl mit Schwung zwischen die Beine. Vor Schmerz jaulend wälzte sich der Mann zur Seite und presste die Hände in den Schritt. Arslan trat ihm in den Magen.

»Ey, was soll der Scheiß!«, quiekte der Kerl, Sabber lief ihm aus dem Mund.

»Lass die Frau in Ruhe«, sagte Arslan laut und bestimmt.

»Ey, das geht dich doch gar nix an«, wimmerte der Kerl. »Scheiße, tut das weh.« Mühsam robbte er herum und versuchte, auf die Beine zu kommen.

»Verpiss dich«, sagte Arslan und gab dem Kerl, der schwankend zum Stehen gekommen war, einen Schubs, dass der vornüber in den nächsten Busch kippte und schließlich den kleinen Abhang hinunter zur Thalkirchner Straße kullerte.

»Bist du okay?«, fragte Arslan besorgt die junge Frau, die sich aufgesetzt hatte und zitternd ihre Knie mit den Armen umschlang.

»Hab dich nicht gebeten, mir zu helfen, oder?«, giftete sie am ganzen Leib schlotternd.

Arslan runzelte die Stirn. »Äh, ’tschuldigung? Hab ich da was missverstanden?«

»Allerdings«, raunzte sie und strich sich die rosa gefärbten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte ein Lippenpiercing, an dem sie hektisch herumkaute.

»Der Scheißkerl wollte dich vergewaltigen«, sagte Arslan, fassungslos über ihre Reaktion.

»Ach der!« Sie winkte ab und versuchte ihr Zittern unter Kontrolle zu kriegen. »Mein Ex. Mit dem wäre ich schon fertig geworden.«

»Sah nicht danach aus.«

»Was geht dich das denn an?« Das Mädchen sprang auf.

»Entschuldige bitte, dass ich dich gerettet habe!«

»Du mich gerettet?« Sie lachte bitter. »Klar. Danke. Du mich gerettet!«

»Wenn das so ein krankes Spielchen von euch ist, wenn ihr diese Gewaltnummer als Kick braucht, dann kannst du mir echt leidtun.« Arslan wandte sich ab und stapfte zu seinem Zelt zurück. »Schönes Leben noch.«

»Ey, jetzt sei doch nicht gleich sauer«, rief das Mädchen mit den rosa Haaren und lief ihm nach. »Warte doch mal.« Sie holte ihn ein. »Mein Ex ist ein Arsch, und danke, dass du mir geholfen hast. Aber der hätte mir nichts getan. Ehrlich. Wir sind nur besoffen.«

»Okay«, sagte Arslan.

»Wie heißt du?«

»Nnnääh … Arslan.«

»Da musst du nachdenken? Oder weißt du das nicht so genau?«

»Arslan.«

»Krass. So heißt doch der Löwe in den ›Chroniken von Narnia‹.«

»Der heißt Aslan ohne r.«

»Ach?«

»Ja, klingt ganz ähnlich. Ist wohl Absicht, denn Arslan heißt Löwe!«

»Echt? Ich bin Kiki. Eigentlich Kirsten, aber das ist ein Scheißname.« Sie deutete auf das improvisierte Zelt aus blauen Plastikplanen hinter dem Bahnwärterhäuschen. Ihre Arme waren übersät mit blauen Flecken – und Arslan war sich sicher, dass er auch Einstiche sah. »Wohnst du hier? Krass!« Sie bückte sich und schielte in das Zelt hinein. Dann lief sie zum Backsteinhaus und sah durch die zerschlagenen Fenster hinein. »Krass!«, rief sie wieder. »Da wohnen bestimmt Illegale, oder?«

»Kann sein«, sagte Arslan.

»Bist du auch illegal?«

»Nein!« Arslan zögerte. »Und ich bin eigentlich auch nicht obdachlos.«

»Schon klar.« Kiki lachte. »Eigentlich. Ne, ne, Mössjöh ist eigentlich nicht obdachlos. Riecht nur so.«

Betreten schnüffelte Arslan an seinen Klamotten und unter seinen Achseln. Sie hatte so was von recht. Und das, obwohl er fast jeden Tag ins Schyrenbad drüben in Untergiesing ging und sich dort duschte. »Bin echt nicht obdachlos!«

»Und warum übernachtest du dann hier auf einem Bahndamm. Weil du schon immer mal mit Aussicht auf die Großmarkthalle pennen wolltest?«

Arslan setzte sich auf den Erdboden und sah hinüber zur Großmarkthalle. »Ich brauche gerade ein bisschen Abstand. Von allem.«

»Kenn ich! Brauch ich auch manchmal.« Kiki setzte sich neben ihn und zündete sich eine Zigarette an. Auch sie roch obdachlos. »Auch eine?« Arslan nahm an. »Und? Was machen wir jetzt?«

»Ich weiß nicht, was du machst, aber ich treff mich bald mit einem Freund.«

»Ja klar!«, sagte Kiki spöttisch und blies zwei Rauchringe zu Arslan.

»Ist so. Bald macht vorne an der Lindwurmstraße der erste Bäcker auf, da treff ich mich mit meinem Freund auf nen Kaffee.«

»Hast du Geld? Ich komm mit.«

»Nein. Denk nicht mal dran.«

»Bist du Türke?«

»Nein, ich bin Deutscher.«

»Klar, sieht man sofort, Spacko.« Sie lachte. »Tippe eigentlich fast schon auf Araber oder Ägypter oder so.«

»Spinnst du? Ich bin doch kein Araber! Meine Eltern sind Türken, falls du das meinst.«

»Alles klar.« Kiki schnippte ihre nicht einmal halb gerauchte Zigarette in einem hohen Bogen weg und zündete sich eine neue an. »Dein türkisches Machogehabe kannst du dir bei mir auf jeden Fall sparen. Ich mach, was ich will, Alter. Und wenn ich mit zum Bäcker will, dann will ich das eben.«

»Geh zum Bäcker, wann du willst und wo du willst. Aber du gehst nicht mit mir zum Bäcker.«

»Oh, jetzt aber! Machoarsch.«

»Leck mich.«

Sie begleitete ihn zum Bäcker in der Lindwurmstraße, der schon um halb sieben aufmachte. Ein paar Frühaufsteher lehnten schon an den Stehtischen und schlürften Kaffee. Weil Tayfun noch nicht da war, spendierte Arslan Kiki einen Cappuccino zum Mitnehmen und eine Butterbreze. Zu seinem Erstaunen wurde er sie damit tatsächlich los. Sie biss herzhaft in die Breze, zwinkerte ihm zu und flitzte davon.

Als es sieben Uhr war und die Bäckerei sich richtig füllte, bekam Arslan eine Nachricht von Tayfun auf sein Handy: »Sorry, schaffs net, was dazwischengekommen, melde mich später. T.«

Arslan konnte sich gut vorstellen, was dazwischengekommen war. Besser gesagt: wer. Sie hieß Saida. Saida war Tayfuns »Hase«, wie er immer zu sagen pflegte. Wobei sich Arslan gar nicht so sicher war, dass das Saida auch so sah.

Arslan bestellte sich noch einen Latte zum Mitnehmen und eine kalte Leberkässemmel. Wenn er etwas in München lieben gelernt hatte, dann Leberkässemmeln, ob warm oder kalt. Dann trottete er zu seinem Versteck zurück. Als er am Zelt ankam, musste er feststellen, dass sein Rucksack mit seinen Klamotten weg war. Arslan streckte sich, ballte die Fäuste und brüllte aus Leibeskräften. Ein vorbeiratternder Güterzug verschluckte den Schrei.

Westend 17

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