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07

Werner Androsch ließ das Textbuch von »Kanakenbraut« auf den Schoß sinken und seufzte. Er hatte immer noch Textunsicherheiten, obwohl sie sich schon mit riesigen Schritten den Endproben näherten. Besonders im zweiten Akt kam er immer wieder raus. Er konnte und wollte sich einfach nicht darauf verlassen, dass Nives ihm als Souffleuse diente. Sie beherrschte alle Dialoge auswendig, flüsterte ihm die Stichworte zu, wenn er hing. Auch er hätte eigentlich den kompletten Text von »Kanakenbraut« auswendig können müssen, schließlich hatte er früher auf der Bühne und im Film den Türken gespielt.

Werner Androsch starrte aus dem Fenster. Die beleuchteten Türme der Giesinger Kirche zeichneten sich gegen den indigoblauen Nachthimmel ab. Der Schauspieler liebte diesen Blick, er hatte damals den Ausschlag gegeben, diese Wohnung am Roecklplatz zu kaufen. Bei Tag konnte man die ganzen Isarauen überblicken, bei Föhn rückten die Alpen greifbar nah heran.

Der Schauspieler trommelte nervös mit den Fingern der rechten Hand auf die Sesselarmlehne. Nicht hinsehen, sagte er sich, nicht hinsehen. Es funktionierte nicht. Natürlich musste er hinsehen. Die Autosuggestion, die ihm sein Therapeut, zu dem er längst nicht mehr ging, in jeder Sitzung aufs Neue empfohlen hatte, funktionierte einfach nicht. Werner Androsch sah hin – er sah zu dem naturweißen Vorhang, der links neben dem großen Panoramafenster in akkuraten Falten hing. Sein Blick wanderte hinauf zu der Vorgangstange und den Metallringen, die den Vorhang hielten.

Nicht, sagte er zu sich, nicht. Lass es nicht zu. Es ist alles in Ordnung. Alles bestens!

Doch nichts war in Ordnung. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann über die pomadigen Haare. Er hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf und lief hinaus auf den Balkon. Die kühle Nachtluft kroch in seine Poren. Er schloss kurz die Augen. Sofort wurde ihm schwindelig und er riss sie panisch wieder auf. Unentschlossen zupfte er ein paar verwelkte Blüten von der roten Geranie und entsorgte sie in der kleinen braunen Biotonne. Als er wieder in die Wohnung zurückging, vermied er jeden Blick hinüber zum Vorhang. Werner Androsch begab sich schnurstracks in die Küche. Eigentlich war es nur eine Kochnische, die schlauchartig vom Wohnzimmer abging. Aus der untersten Schublade, in der er sein Werkzeug aufbewahrte, holte er das Metermaß. Für einen Moment zögerte er noch, warf das Maßband spielerisch von einer Hand in die andere. Er stand mit dem Rücken zum Fenster. Doch es half nichts, der Drang war stärker. Werner Androsch drehte sich um, schob einen Stuhl vor das Fenster und stieg hinauf. Er legte das Maß an und überprüfte die Abstände zwischen den Metallringen, die den Vorhang hielten. Er korrigierte vorsichtig mit den Fingerspitzen den einen oder anderen Ring. Hatte er sich doch nicht geirrt: Hier und da hatte sich der Abstand um ein bis zwei Millimeter verändert. Dabei hatte er erst am Vormittag kontrolliert. Wie jeden Vormittag, denn bevor Werner Androsch das Haus verließ, maß er immer den exakten Sitz der Vorhangringe nach. Ebenso die Breite der Falten, die der Stoff warf, die er nun ebenfalls überprüfte und korrigierte.

Wie konnte es sein, dass der Vorhang jeden Abend ein paar Millimeter anders hing, als er ihn morgens arrangierte?

Er wusste ganz objektiv, dass es völlig egal sein konnte, ob der Vorhang millimetergenau in Falten gerafft war. Das hatte er auch seinem Therapeuten gegenüber zugeben müssen. Doch das Wissen half ihm nichts. Der Zwang kümmerte sich nicht darum, er war stärker. Immerhin gab es Tage, so wie diesen, da schaffte Werner es, eine Zeitlang zu Hause zu sein, Essen zu machen, fernzusehen, zu lesen, ohne dass er sofort seinem Tick nachgeben musste. Für Werner Androsch war das ein enormer Fortschritt. Die Sache mit dem Vorhang war freilich nur einer von zahllosen Ticks in seinem Leben.

Als das Telefon klingelte, fiel ihm vor Überraschung das Maßband aus der Hand. Er starrte auf den Apparat. Sollte er rangehen? Er entschied sich dagegen. Es könnte allerdings Sabine sein. Der Anruf, den er sehnlich erwartete. Er stieg letztlich vom Stuhl und nahm das Gespräch an.

»Herzlichen Glückwunsch!«, zwitscherte eine fröhliche Frauenstimme. »Sie haben gewonnen!«

»Äh, wie?«, stammelte Werner Androsch irritiert. »Gewonnen?«

Die Frauenstimme quasselte einfach weiter, ohne auf seinen Zwischenruf einzugehen. Erst als sie sagte »Wenn Sie Ihren Gewinn abrufen wollen, drücken Sie jetzt bitte die Eins auf Ihrer Telefontastatur«, dämmerte es Werner und er legte wütend auf. Sofort klingelte es erneut. Diesmal ließ er es so lange läuten, bis der Anrufbeantworter ansprang. Wenn es wirklich Sabine sein sollte, würde sie ihm auf Band sprechen.

»Werner, bist du zu Hause?«, fragte leise eine Frauenstimme. »Wenn ja, geh bitte ran. Es ist wichtig.«

Pause.

»Es ist wegen Sepp«, sagte die Frau.

»Ja, ich bin da«, meldete sich der Schauspieler schließlich doch und stoppte den Anrufbeantworter. Er hatte die Stimme nicht wirklich erkannt, doch sie erinnerte ihn an eine Bekannte aus seiner Vergangenheit.

»Hallo, ich bins, Traudl.«

Werner Androsch sortierte gedanklich in Windeseile sein Adressbuch. Eine Traudl kam darin nicht vor. Zumindest nicht beim Schnellscan. »Traudl?«

»Ja. Weißt schon. Traudl Sonnenbichl.«

»Traudl«, sagte Werner überrascht. Er erinnerte sich an die Schneiderin, die früher, ganz, ganz früher zu ihrer Clique gehört hatte. Schlagartig erschien das Bild einer aufgedonnerten Landpomeranze mit einem weißblonden Storchennest auf dem Kopf vor seinem inneren Auge, die die gewagtesten Minikleider trug und in Schwabinger Nachtclubs mit Nives Marell oder Fritz Roloff oder auch mit ihm auf den Tischen tanzte. Das war über dreißig Jahre her. Wie sie wohl nun aussah? Nun, das hatte er bereits gehört, arbeitete sie ebenfalls am Residenztheater, allerdings im Gegensatz zu ihm in Festanstellung. Noch war er ihr nie bei den Proben begegnet.

»Erinnerst dich noch ein wenig an mich, gell, Werner?« Traudl Sonnenbichl flüsterte, ganz entgegen ihrer früheren Angewohnheit. Werner hatte sie als laut und lärmend in Erinnerung. »Grad hat mich der Erwin von der Nachtpforte angerufen. Sie haben den Sepp gefunden.«

»Sepp? Sepp Bloch? Wie gefunden?«

»Tot.«

»Oh.« Werner Androsch knete sich die Unterlippe. Traudl Sonnenbichl würde von ihm keine Betroffenheitsshow erwarten. »War ja eh nur eine Frage der Zeit, bis er sich totsäuft …«

»Er steckte mit dem Kopf im Färbetrog, drunten in der Färberei. Eine Praktikantin von der Oper hat ihn gefunden.«

»Warum rufst du mich deshalb an?«

»Ich dachte, es würde dich interessieren.«

»Alles, was mit Joseph Bloch zu tun hat, ist für mich absolut uninteressant. Auch sein Tod.« Werner Androsch fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Entschuldige, Traudl, aber … mir ist der Sepp egal … Das mag für dich hart klingen.«

»Nein, nein, Werner, klingt es nicht. Er war mir auch … egal …«

»Du hast ihn gehasst, Traudl. Das wusste jeder.«

»Ja, du aber auch. Nun ist er tot.«

»Dann freu dich doch.«

Traudl Sonnenbichl lachte trocken. »Du bist wie immer, Werner. Bloß nichts und niemanden an dich ranlassen.« Sie stockte. »Hast du … hast du vielleicht Lust, dich noch auf ein Bier mit mir zu treffen? Ich gehe gleich noch ins Trinkkisterl. Weißt, wo das ist?«

Werner wusste das nur zu gut. Er sah die speckige, heruntergekommene Eckkneipe in der Frauenlobstraße vor sich, sah die talgigen, verbrauchten Gesichter der Im-Leben-zu-kurz-Gekommenen, die das Stammpublikum bildeten, hörte die schlechte Schlagermusik, die aus alten Boxen schepperte und roch den Dunst aus Rauch und Alkohol. Er war zu oft im Trinkkisterl gewesen. Wenn das nun auch Traudls Stammkneipe war, warum hatte er sie dort nie gesehen? Nun beantwortete er ihre Frage mit einer Lüge. »Nein, kenn ich nicht.«

»Nicht? Na, ich geh da auch fast nie hin. Mir war nur grad so danach. Meist geh ich zu Biggi ins Walther-Stüberl in der Waltherstraße. Da können wir auch hin, wenn du willst.«

»Nein, Traudl, danke, ich will nicht.«

»Oh, na gut, dann geh ich eben allein. Aber erst werde ich noch den Sebastian anrufen.«

»Wen?«

»Meinen neuen Chef. Du kennst ihn, er übernahm immer die Anproben, wenn Sepp nicht da war. Sebastian Oßwald, unser Gewandmeister. Nives habe ich bisher noch nicht erreicht.«

Die Knochennäherin

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