Читать книгу Die Knochennäherin - Martin Arz - Страница 4
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Sie zitterte am ganzen Leib. Immer noch. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen? Es war ihre Schuld, ganz eindeutig, einzig und allein ihre Schuld. Sie wuchtete sich vom Bett auf und schlurfte schwer atmend ins Bad. Alles tat ihr weh. Sie verfluchte sich dafür, dass sie ihn immer noch liebte. Sie liebte ihn. Liebte sie ihn? Irgendwie jedenfalls. Sie blieb kurz stehen. Eigentlich hatte sie sich in der letzten Zeit nicht wirklich mit dieser Frage beschäftigt: Liebte sie ihn überhaupt noch?
Sie zog den gelben Nylonvorhang zur Seite und stieg in die Wanne, um sich zu duschen. Als sie den Vorhang zuzog und das Wasser aufdrehte, klebte sich der Vorhang sofort an ihre Beinen und der Hüfte. Sie seufzte und ließ das Wasser an sich herunterprasseln. Sich gegen den anschmiegsamen Vorhang zu wehren, war sinnlos. Auch ohne die Sogwirkung des heißen Dampfs würde der Vorhang an ihr pappen – einfach weil sie so enorm viel Körper hatte.
Fritz schaffte es immer wieder, dass sie in seinem Kosmos lebte, seine Spielchen mitmachte. Aber sie wollte keine Spielchen mehr spielen – raus aus seinem Kosmos.
Als Fritz das erste Mal diesen Namen, als er das erste Mal ›Viola‹ gekeucht hatte, da hatte sie blanke Wut überkommen. Sie hatte sich aufgebäumt wie ein bockendes Pferd, ihn von sich geschubst und sich dann auf ihn gewälzt. Da hatte sie ihn das erste Mal gewürgt. Ganz spontan. Er nannte es später eine ›Offenbarung‹. Nives war anfangs erschrocken darüber, dass es ihr Spaß gemacht hatte. Herrin über Leben und Tod sein. Seit damals stöhnte er immer wieder ›Viola‹, wenn er ES brauchte. Er benannte es nie, es war immer ES. Nives hatte allerdings einige Zeit gebraucht, um zu durchschauen, dass er nicht deshalb den Namen ihrer Nebenbuhlerin keuchte, weil er in Wirklichkeit Viola begehrte, während er mit Nives schlief. Für Fritz war es nur ein Spiel, sein Signal für den Wunschorgasmus mit Sauerstoffmangel.
Sie wusch sich die Haare und spülte das Schampoo gründlich aus. Dabei sah sie an sich hinunter. Wie widerlich fett sie war. Wütend drückte sie den klebenden Vorhang weg. Sie hasste diesen Körper. Alles ausschließlich für ihn. Nur weil er sie so üppig wollte. Sie hatte sich für ihn so fett gefressen. Wie schön sie einmal gewesen war … Männer, echte Männer hatten sich nach ihr verzehrt, hatten sich in Unkosten gestürzt, um sie zu beeindrucken … Nun, immerhin stürzte auch er sich immer noch in Unkosten, um sie zu beeindrucken. Das musste sie zugeben.
Nives drehte das Wasser ab und trocknete sich ab. Sie wickelte das große Badetuch um ihren Körper und verknotete es über der Brust. Auf dem Weg zurück ins Zimmer bürstete sie sich die nassen, blondierten Haare. Wie strohig sie waren, Spülung vergessen. Egal.
Ihr Blick fiel zufällig auf den Radiowecker. Ohne Kontaktlinsen konnte sie die Ziffern nicht deutlich erkennen. Mit zusammengekniffenen Augen erahnte sie, dass es kurz vor acht Uhr sein musste. Sie trat auf den Balkon hinaus und genoss die frühmorgendliche Hitze. Zwischen den Palmen und den üppig grünen Bäumen, deren Namen sie nicht kannte, sah sie hinunter auf den Strand. Wenig los in aller Herrgottsfrühe.
Das Hotel, das er für sie ausgesucht hatte, um dem Weihnachtstrubel zu entgehen, gefiel ihr. Es war ein tropisches Paradies, eine luxuriöse Anlage aus Pfahlhütten auf einer kleinen Halbinsel. Die Hütten erreichte man über Holzstege, die hoch über dem Boden liefen. Unten samtiges Grün, dichte Vegetation. Dazwischen Palmen und riesige Bäume, die angenehm Schatten spendeten. Ständig wuselten Gärtner durch die Anlage und sorgten für wohlgeordneten Wildwuchs. Nachts, wenn Tausende von Lichterketten in den Bäumen die Anlage in einen glitzernden Märchenwald verwandelten, wollte sie am liebsten die ganze Zeit nur über die Holzstege laufen und Atmosphäre tanken. Sie freute sich auch an diesem Morgen, dass sie noch eine der wenigen Hütten in Strandnähe mit direktem Meerblick bekommen hatten. Ihr Bungalow lag hoch über dem Erdboden, etliche Meter von den Felsen und dem Meer entfernt, und war vom Wasser durch einen üppigen Grüngürtel getrennt.
Nives atmete tief ein. Ihr Blick fiel auf den Mann, der unten am Strand stand und in die Ferne starrte. Das musste er sein. Er wollte vor dem Frühstück ein wenig schwimmen gehen. Sie erkannte zwar, dass der Mann wie Fritz eine blaue Badehose trug, auch die Statur stimmte – klein, untersetzt. Doch sie war sich nicht sicher. Nives ging zurück ins Zimmer und holte die Digitalvideokamera. Nicht ihr Weihnachtsgeschenk, sein jüngstes und liebstes Spielzeug, geballte Hightech sogar für Profiansprüche – nein, das Luxusgerät war für sie tabu. Sie hatte ihm hoch und heilig schwören müssen, dass sie die neue Kamera nicht anfassen würde. Sie nahm also die alte, die mit der niedrigen Auflösung und den seiner Meinung nach lächerlichen Pixeln. Auf dem Balkon klappte sie das Display zur Seite, hielt auf den Mann am Strand, der nun in Richtung Meer blickte. Nives kannte die wichtigsten Funktionen und zoomte so stark heran, wie es die Kamera zuließ. Ihre Hand zitterte, das Bild wackelte. Wo war noch mal der Knopf, der das Wackeln ausgleichen konnte?
Der Zoom half nicht wirklich. Vielleicht stand da Fritz, vielleicht auch nicht. Sie rief seinen Namen, obwohl sie wusste, dass er zu weit weg war, um sie zu hören. Sie rief und winkte. Keine Reaktion.
Dann ließ sie etwas aufhorchen. Sie konnte es nicht benennen und sah sich suchend um. Ein Tier? Ein Vogel?
Es war kein Geräusch, wie ihr plötzlich klar wurde. Es war das Fehlen von Geräuschen. Kein Tier, kein Vogel. Nichts. Absolute, fast greifbare Stille, sogar die Wellen schwiegen. Die Wellen!
Sie sah hinunter auf den Strand. Das war ihr so seltsam vorgekommen. Es gab keine Wellen. Es gab kein Wasser, es gab überhaupt kein Meer. Nur Sand, vom Strand bis zum Ende der Halbinsel, auf der ihr Hotel sich befand. Nives rieb sich ungläubig die Augen. Kein Zweifel, das Meer war weg, die komplette Bucht war leergelaufen. Sie drehte sich um und versuchte, durch die Bäume zu spähen, die den Blick auf den weiten Horizont gegenüber der Bucht verdeckten. Ganz weit hinten vermeinte sie das Glitzern des Wassers zu erkennen. Erneut richtete sie die Kamera auf den Mann, der vermutlich Fritz war, und drückte auf den »Record«-Knopf. Sie wollte es festhalten: Er am endlosen Strand ohne Wasser. Wie bizarr. Es würde ihm gefallen, wenn er später den Film sah.
Dann hörte sie es. Die Stille fand urplötzlich ein Ende. Ein dumpfes Grollen rollte aus der Ferne heran. Es steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, eskalierte zu einem tosenden Crescendo. Nives sah vom Kameradisplay auf und blickte sich um. Für einen Moment fürchtete sie ein Erdbeben, doch der Hüttenbungalow stand still. Sie drehte den Kopf, als zwei dünnere Bäume krachend gegen die Brüstung ihrer Terrasse geschleudert wurden. Die Palmen und die größeren Bäume bogen sich bedrohlich, Zweige berührten den Holzboden der Terrasse.
Das Meer kam zurück.
Die Gischt spritzte zwischen den Holzbohlen des Terrassenbodens zu ihr hinauf, als sich das Wasser an den Felsen unter der Hütte rieb. Die Pfahlkonstruktion erhielt einen Stoß, der Nives schwanken ließ.
Eine gigantische Welle schob sich in die Bucht. Nives starrte in das Display der Videokamera und sah den Mann, der wohl Fritz war, in schäumendem Wasser verschwinden. Die Monsterwelle peitschte über den Strand, fraß sich in die beiden benachbarten Strandhotels und spülte über die Straße, bis sie an dem Hügel dahinter brach. Für einen kurzen Moment stoppte die Bewegung, die Oberfläche schien stillzustehen. Dann begann die Gegenbewegung. Das Wasser strömte zurück und riss alles mit sich, was nicht fest verankert war.
Nives stand breitbeinig da, hielt sich mit der Linken am Geländer fest und blieb mit dem rechten Zeigefinger wie festbetoniert auf dem Auslöser. Autos, Möbel, Bäume, Menschen – der Wassersog in ihrem Display nahm sich alles. Sie sah nur das Geschehen im kleinen Monitor, es hätte ein Film sein können, die Realität um sie herum schien so unendlich weit entfernt.
Erst als das Wasser komplett zurückgegangen war, hörte sie auf zu filmen. Sie ließ die Kamera sinken und stand da, unfähig zu begreifen, was eben passiert war. Langsam gaben ihre Knie nach. Sie sackte zusammen und stierte zwischen die Bohlen unter ihr. Sie erkannte die Fundamente der Bentonsäulen, auf denen der Bungalow ruhte. Sie erkannte das Bootswrack, das sich um einen der Pfeiler gewickelt hatte, sie erkannte die Plastik-und Stoffplanen, die sich zwischen dem abgerissenen Bäumen verfangen hatten, die zertrümmerten Strandliegen aus Holz oder Metall, und sie erkannte den leblosen Körper eines kleinen blonden Mädchens, die mit weit aufgerissenen Augen und seltsam verdrehten Kopf direkt unter ihren Füßen auf dem Felsen lag.
Nives öffnete den Mund, um zu schreien. Doch ihr Schrei blieb tonlos.
Das erneute Krachen, das Splittern von Holz riss sie aus ihrer Starre. Gerade noch rechtzeitig, um mühsam ihren Leib hochzustemmen und einer Palme auszuweichen, die von der zweiten gewaltigen Welle gegen die Terrassenbrüstung gedrückt wurde. Die Hütte erbebte, die Holzbrüstung splitterte.
Was, wenn die ganze Terrassenkonstruktion nachgab? Was, wenn der ganze Bungalow nachgab? Schließlich waren die Hütten nur Pfahlbauten, die sich an den Steilhang der Halbinsel kuschelten. Nives versuchte zur Tür zu hechten, doch ihr ungeheures Körpergewicht sorgte dafür, dass es ein Versuch blieb. Sie fiel der Länge nach hin. So schnell sie konnte, rappelte sie sich auf und krabbelte zur Tür. Sie erreichte die Tür in dem Moment, als das Tosen auch schon wieder aufhörte. Nives drehte sich um und sah, wie die zweite Welle über den Strand fegte. Da das Gehölz vor ihrer Terrasse nun gelichtet war, konnte Nives die ganze Bucht überblicken. Die Straße, die hinter den benachbarten Strandhotels hervorkam und als eine Art Strandpromenade den Sand von den Hotelkomplexen am Fuß der Hügelkette trennte, konnte sie nicht mehr ausmachen. Gurgelnde Strudel bohrten sich zwischen die Häuser. Wieder gab es einen ungeheuren Sog, als sich das Wasser zurückzog. Autos, Möbel, Bäume, Menschen, Boote, ganze Hütten schossen auf das offene Meer hinaus.
Fritz!, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte sie ihn wirklich am Strand gesehen? Für einen Moment wünschte sie sich, dass er es gewesen war. Dann wäre er nun mit Sicherheit tot oder zumindest schwer verletzt. Keine der beiden Möglichkeiten erschreckte sie, wie sie feststellen musste. Im Gegenteil. Es würde vieles lösen und sie erlösen. Nives lächelte versonnen. Raus aus seinem Kosmos. Endgültig.
Die dritte, vergleichsweise harmlose Welle, die das Zerstörungswerk der Natur vollendete, riss sie aus ihren Gedanken. Nives bemerkte nun, dass die Klimaanlage nicht mehr funktionierte. Die Luft in der Hütte begann allmählich stickig und feucht zu dampfen. Nives entknotete das Badetuch und entwickelte eine hektische Betriebsamkeit, um ihre Panik herunterzuspielen. Sie schlüpfte schnell in ihren Badeanzug und wickelte sich das bunte Batiktuch, das sie erst vorgestern auf dem Nachtmarkt in Patong gekauft hatte, um die Hüften. Zuletzt setzte sie den Sonnenhut aus Stroh auf. Sie musste etwas tun, da draußen war eben das Unglaublichste passiert, das Schlimmste, Grauenhafteste … Etwas, wofür sie keine Worte fand und das sie nicht begreifen konnte.
Nives ließ sich schwer auf das Bett plumpsen und starrte ins Leere. Sie konnte nichts tun. Ob Fritz tot war, schien ihr plötzlich völlig unwichtig. Wie lange sie dasaß, wusste sie nicht. Es passierte häufiger, dass sie einfach so dasaß und vor sich hinstarrte.
Eine Stimme riss sie aus der Lethargie.
»Mann, hast du diesen Wahnsinn mitbekommen?!«
Fritz.
Er stand vor ihr, wie sie ihn vermeinte, am Strand gesehen zu haben: ein kleiner, untersetzter, stark behaarter Mann mit blauer Badehose und ungepflegtem Fusselbart. Nives’ Herz machte einen kleinen Hüpfer, ob vor Freude oder Enttäuschung, konnte sie nicht sagen.
»Die sagen, das war ein Tsunami. So eine Monsterwelle. Wusch, alles mitgenommen, das Scheißding!«
»Du … ich dachte, du …«, stammelte Nives tonlos.
»Was? Keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Fritz kam zu ihr ans Bett, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Mich bringt so leicht nichts um.«
»Aber ich habe diesen Mann am Strand gesehen und gefilmt, der aussah wie du und dann die Welle …«
»Ich war gerade auf dem Weg nach oben, weißt schon, mitten auf der Holztreppe, die vom Strand zu den Hütten hochführt. Was für ein Wahnsinn! Ein Tsunami! Wow.« Fritz setzte sich neben sie aufs Bett. »Hey, ich könnte tatsächlich tot sein. Die Treppe hat es halb weggerissen.« Er grinste, als hätte er eine sensationelle Entdeckung gemacht. Dann sprang er auf. »Du hast den Tsunami gefilmt? Lass mich sehen.« Er schnappte sich aufgeregt die alte Kamera und sah sich ihre Aufnahme an. »Wow. Der sieht wirklich fast aus wie ich. Wahnsinn, das Wasser!«
Sie hasste es, wenn er »wow« sagte, als wären sie noch Teenager. Ein Mann, der bald sechzig wurde und wow – lächerlich. Ebenso lächerlich fand sie, dass er, nachdem er sein Double auf dem kleinen Display im Inferno verschwinden gesehen hatte, sofort mit ihr schlafen wollte.
Das tote Mädchen! Nives schreckte vom Bett hoch. Und was, wenn noch mehr Wellen kämen, Wellen, die am Ende ihre Hütte mitreißen würden? Sie rappelte sich auf und ging auf die Terrasse. Vorsichtig spähte sie zwischen den Lücken im Holzboden hinunter. Sie sah jede Menge Schrott, Holz, Planen, Kanister und Kleidung – aber kein Mädchen. Auch keine andere Leiche. Schnell richtete sie sich wieder auf. Nur nicht zu genau hinsehen, am Ende würde sie doch etwas entdecken, was sie nicht entdecken wollte.
Der Boden unter ihren Füßen knarrte, als sie das Gewicht verlagerte. Panik überkam sie. Nichts wie zurück ins sichere Zimmer.
Der kleine Elefant stand regungslos und mutterseelenallein am Strand, als sei er eine Statue. Nur das Wedeln seiner Ohren verriet, dass das Tier noch lebte. Nives erkannte es. Ein alter Mann war mit dem Elefäntchen, dessen Rückenhöhe ihr gerade bis zur Schulter reichte, nachts durch die Lokale der Umgebung gezogen, Touristen konnten sich mit dem Tier fotografieren lassen, es mit Bananen füttern, streicheln, bedauern und versuchen, ihm die drahtigen Haare auf dem Kopf auszureißen, die auf den ersten Blick wie Flausch aussahen. Nun schenkte niemand dem Elefanten Beachtung. Dabei war das Tier rot, ziegelrot.
Fritz spielte schon die ganze Zeit mit der Videokamera herum. Es nervte Nives endlos, gleichzeitig wunderte sie sich, dass er nicht die neue Luxuskamera mitgenommen hatte, sondern das alte Ding.
Wie die anderen Überlebenden waren sie stundenlang am Strand herumgeirrt. Stunde um Stunde, auf und ab. Nives, fassungslos und unfähig zu sprechen, allen Blicken ausweichend, jede Begegnung mit anderen Menschen panisch meidend. Fritz, aufgeregt wie ein kleines Kind, alles filmend, alles kommentierend. Er fasste jeden Müll an und las (in seinen Augen) interessante Teile auf, betrachtete diese eingehend und warf sie anschließend wieder weg. Das Ausmaß der Zerstörung schien ihn völlig kaltzulassen. Nives fand keine Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Das viele Laufen, ihr eigenes Gewicht so ungewohnt lange auf den Beinen zu halten, hatte sie komplett ermüdet. Dennoch steuerte sie auf den kleinen roten Elefanten zu, der zwischen den Trümmern zahlloser Strandliegen stand.
»Komm her, kleiner Racker«, sagte sie leise und streckte die Hand aus. Sie betastete seine rote Haut. Es war Farbe, vermutlich Wandfarbe. Er war nicht vollkommen rot, eher wie eine buntscheckige Kuh gefärbt. Nives vermutete, dass das Tier von einem oder mehreren Eimern Farbe getroffen worden war. Vielleicht hatte es vor der Welle in einem Schuppen Zuflucht gesucht, in dem jemand Farbe aufbewahrte. Sicher konnte man es mit Wasser abschrubben. Das Elefäntchen löste sich aus seiner Starre und machte ein paar unsichere Schritte auf Nives zu. Es hob den Rüssel und schlang die Spitze um ihre ausgestreckte Hand. Sie führte das Tier ins flache Wasser. Rings um sie herum fischten Menschen Trümmer aus dem Meer, thailändische Soldaten und ein paar Mönche in orangen Wickelgewändern hatten begonnen, Leichen aus dem Wasser zu bergen. Einige Touristen in quietschbunten Shorts halfen ihnen wortlos. Da, wo vorher die Strandpromenade entlanggeführt hatte, warteten nun zwei Pritschenwagen, auf denen Helfer die Toten stapelten.
Im seichten Wasser stand Nives Marell, die die Umgebung ausblendete und mit bloßen Händen an einem roten Elefäntchen herumschrubbte. Die Farbschicht warf Falten und bekam mit jeder Bewegung des Tiers mehr und mehr Risse, sie ließ sich jedoch nicht richtig abwaschen. Nives hielt inne, weil ihr der Gedanke, der sich in ihr Hirn schlich, so absurd und doch so real vorkam: Alles eine Inszenierung. Hollywood drehte den Katastrophenfilm des Jahrhunderts mit gigantischen Spezialeffekten. Sie hob den Kopf und sah sich um.
Und Action!
Plötzlich kam ihr die Szenerie erträglicher vor.
Irgendwann gab Nives auf, packte das Elefäntchen am Rüssel und zog es zurück zum Strand. Sie sah sich nach Fritz um, der auf einem umgestürzten Palmstrunk saß und ins Display starrte. Er filmte sie, sie hasste ihn dafür und zeigte es ihm, indem sie die Kamera gewaltsam wegdrehte, bevor sie sich erschöpft neben ihm niederließ.
Unvermittelt sagte Fritz: »Wow, was für ein grandioses Schauspiel! Was für eine Inszenierung!«
Nives schlug ihm wortlos ins Gesicht. Einmal, zweimal. Der Elefant nickte mit dem Kopf.
»Du verstehst wieder mal gar nichts!«, schrie er sie an und rieb sich die Wange. »Weißt du, was Stockhausen gesagt hat, als er die Bilder vom 11. September im Fernsehen gesehen hatte? ›Was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.‹ «
»Diesen bodenlosen Unsinn kannst du auswendig referieren?« Nives konnte und wollte diese Art des Denkens nicht begreifen. Nur Fritz, der hatte sich schon damals mit Verve auf die Seite Stockhausens gestellt. Zum Glück geschah dies in einer Zeit, als die Medien sich für Fritz Roloff kaum noch interessiert hatten, als seine Karriere nach zwei grandiosen, millionenschweren Flops am Ende schien.
»Das ist kein Unsinn! Nur weil die Welt aus lauter Debilen besteht, die nichts kapieren, die keinen Sinn für die Schönheit der Katastrophe haben, ist es noch lange kein Unsinn. Der Anschlag auf das World Trade Center war das größte Kunstwerk aller Zeiten – bis das hier passierte!« Er machte eine weit ausholende Geste. »Und ich bin dabei! Was für eine Inszenierung!«
»Ich möchte mit dir diesen hanebüchenen Blödsinn nicht ernsthaft diskutieren«, sagte Nives leise und bestimmt. »Ein Ton mehr und ich bin weg. Für immer.« Sie schrubbte dem Elefäntchen kräftig über den Rüssel und pulte mit den Fingernägeln etwas Farbe ab.
Zu ihrer Überraschung schwieg er tatsächlich und sah sich zum x-ten Mal die Welle an, die seinen Doppelgänger verschlungen hatte. Stop, rewind, play, stop, rewind, play …
»Was, wenn ich das da wäre«, fragte er dann wie nebenbei und kratzte sich am Bart. »Was, wenn ich tot wäre?«
»Du bist es aber nicht.« Nives seufzte.
»Man würde es glauben, wenn man diese Bilder hier sehen würde. Stell dir mal vor, ich könnte abtauchen. Untertauchen. Eine neue Existenz aufbauen. Den Beweis für meinen Tod könnte man …«
»Hör auf!«, rief sie. »Bist du so krank? Warst du schon immer so krank?!«
»Nur so als Spaß, verstehst du nicht, Maus? Für eine Woche oder zwei. Du zeigst den Film. Lass mich tot sein. Und dann tauche ich wieder auf. Was für eine Publicity für unseren nächsten Film! Wahnsinn, das ist überhaupt die Idee! Wenn im März die Dreharbeiten beginnen, haben wir im Vorfeld jede Menge Medienpräsenz. Du machst den Anfang und trauerst öffentlichkeitswirksam um mich …« Er brach ab und setzte sich seine Sonnenbrille auf. »Was ist das denn für ein Elefant?«
Nives starrte ihn an. Die Frage, ob sie ihn liebte, fiel ihr wieder ein. Nun wusste sie die Antwort.
»Das öffentliche Trauern für die Kameras kann Viola sicher besser als ich«, sagte sie dann kühl. Sein neuer Film! Sie könnte wieder die Wände hochgehen. Nach Jahren hatte er endlich einen Produzenten gefunden, der das Wagnis eingehen wollte, einen neuen Fritz Roloff-Film zu finanzieren. Nach den letzten Roloff-Flops grenzte das an ein Wunder. Und Nives Marell sollte wie in guten alten Zeiten die Hauptrolle spielen. Und ganz wie in alten Zeiten sollte sie auch mindestens eine Nacktszene sowie eine Bettszene haben. Sie, als fette alte Frau. Ihre Proteste waren ungehört verhallt.
»Schau dir Altmanns ›Prêt-à-porter‹ an«, hatte Fritz sie angeschnauzt. »Da haben Sophia Loren und Marcello Mastroianni eine zischend heiße Bettszene. Okay, Marcello schläft dabei ein, aber Sophia ist sensationell. Sie ist sechzig, und es ist keine Sekunde lächerlich!«
»Sophia Loren ist auch kein Wal!«, hatte sie zurückgegiftet.
»Vielleicht sollte ich Sophia fragen, ob sie die Rolle spielen will.«
»Bitte! Nur zu.«
Seit Fritz den Produzenten gefunden hatte – eben erst zwei Monate her –, hatte Nives mit einer heimlichen Abmagerungskur begonnen. Sie wollte nicht als nackter Freak auftreten, also hungerte sie so, dass er es nicht merkte, denn er wollte die Freakshow. Ein schwieriges Unterfangen, aber immerhin hatte sie schon fünf Kilo geschafft. Noch fiel es niemandem außer ihr auf.
Ein älterer Mann mit beiger Shorts und labbrigem weißen Unterhemd, das am Bauch spannte und gleichzeitig die schlaffe Brust freiließ, blieb stehen und starrte Nives an. Dann schwirrte sein Blick zu dem ziegelroten Elefäntchen und wieder zurück. Er näherte sich zögernd und lächelte. An der linken Hand zerrte er einen kleinen Thaijungen hinter sich her. Das Kind, das höchsten zehn Jahre alt sein mochte, blickte mit toten Augen auf seine Füße, dann in Nives’ Augen, dann wieder auf die Füße.
»You are Nives Marell, right?«, fragte der Mann mit leiser Stimme. Er sagte »Näivis Märell«.
Nives nickte.
»I’m Geoff from Boston. I recognized your eyes! Your beautiful eyes.« Der Mann strahlte und schüttelte ihre Hand mit beiden Händen, dabei ließ er den Thaiboy nicht los. Er zerdrückte fast die Hand des Knaben zwischen seiner und Nives’. Nives spürte die zarte Kinderhaut auf ihrem Handrücken und fühlte sich unangenehm berührt.
Ihre Augen. Die berühmten türkisen Katzenaugen der Nives Marell – früher hatte man sie deswegen mit der jungen Simone Signoret verglichen.
»I’m your biggest fan! Really, believe me.« Geoff aus Boston strahlte sie an. »I’ve seen all your movies, all of them. All, all. Even those old German ones. I’m your biggest fan. Never dared to dream meeting you … specially in this … this dramatic circumstances …«
»Ja, danke, äh, thank you so much, Geoff. Yes, it’s a catastrophe! I’m shattered. « Wie lange sie schon keinen Small Talk mehr mit Fans hatte machen müssen, noch dazu auf Englisch. Es war so ewig lange her, dass sie völlig aus der Übung war. Sie starrte auf den Jungen und versuchte sich nicht auszumalen, durch welche Hölle er ging. Sie blickte zu dem Mann auf und unterdrückte ein kleines Schluchzen. Sie nahm ihre Sonnebrille und setzte sie so demonstrativ auf, dass der Mann die kleine Träne, die sie zustande brachte, noch erkennen konnte. »Ich bin … fassungslos, I am stunned, speachless.« Sie spielte gut. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, fand sie in ihre Rolle. Sie konnte es immer noch. »Excuse me, Geoff, but I …« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung und biss sich auf die bebende Unterlippe.
»I see.« Der Mann schüttelte ihr noch einmal die Hand. »I’m so sorry. I didn’t want to disturb. I’m so sorry. If I can do anything for you, let me know. You’ve still got your hotel room?«
Nives Marell nickte mit zusammengekniffenen Lippen, brachte ein schiefes Lächeln zustande und ließ ihre Hand zu Fritz wandern. Sie tätschelte seinen Oberschenkel. Fritz nahm ihre Hand und drückte sie fest. Geoff aus Boston grinste unsicher, verabschiedete sich und zog schließlich den Thaijungen hinter sich her.
»Those old German ones. Der Arsch. Die sind von mir, those old German ones. Du bist aber immer noch scheißgut, Nives Marell. Ich sage doch, unser nächster Film wird wieder ein Knaller«, sagte Fritz Roloff grinsend. »Er hat mich übrigens nicht erkannt.«
»Da kannst du dir bei einem Amerikaner was drauf einbilden. Mit diesem Fusselbart und der riesen Sonnenbrille erkennt dich sowieso keiner. Mich hingegen erkennt man seit Jahren nur noch an meinen Augen! Ich war mal schön.«
»Du bist noch schön, Maus. Für mich.«
»Ich will für niemanden schön sein, der Katastrophen schön findet!«
Fritz brach in schallendes Gelächter aus.
Nives Marell stand von dem Palmstrunk auf, zog das Elefäntchen am rechten Ohr und sagte im Weggehen: »Fick dich, Fritz Roloff, fick dich doch einfach.«
»Bleib hier, du blöde Kuh.« Fritz sprang auf und lief hinter ihr her. Er packte ihr Handgelenk.
»Lass mich los. Ich rufe jetzt Rocco an. In Deutschland müsste jetzt Tag sein. Vielleicht hat er auch schon versucht, mich zu erreichen«, sagte Nives und legte ihre Handtasche auf den Rücken des kleinen Elefanten. Sie wühlte umständlich darin herum, bis sie das gesuchte Mobiltelefon endlich zu Tage förderte. Es war noch ausgeschaltet.
»Nix wirst du!« Fritz entriss ihr das Handy.
»Gib es her. Rocco wird sich Sorgen machen. Alle werden sich Sorgen machen! Das ist bestimmt längst auch in Deutschland in den Nachrichten. Die Toten hier, das wird auch bei uns eine Nachricht sein! Wenn es stimmt, dass nicht nur die Bucht hier, sondern die ganze Insel betroffen ist …«
»Sollen sie sich doch Sorgen machen! Lass sie ein wenig zappeln.« Fritz schleuderte ihr Mobiltelefon in weitem Bogen quer über den Strand ins Meer.
Nives bebte vor Zorn und krallte ihre Finger in den Nacken des kleinen Elefanten. »Du bist ein Schwein, Fritz Roloff, ein erbärmliches Schwein.«
»Und? Deshalb liebst du mich doch, oder?«
Als sie den Mund aufmachte, um ihm zu antworten, kam ein Klingeln dazwischen. Ein Klingeln aus ihrer Tasche. Sie wühlte erneut und zog nach einer Weile ein zweites Handy hervor. Fritz’ Handy. Er warf gerne seine Sachen in ihre Handtasche: Schlüssel, Papiere, Telefone, Drehbücher, Post, MP3-Player, Filofax et cetera, damit er Platz für seine Hände in den Hosentaschen hatte. Einmal hatte sie sich über das Gewicht ihrer Tasche gewundert und festgestellt, dass er sein Notebook in ihre Tasche gesteckt hatte. Sie hatte es herausgeholt und vor seine Füße geschleudert. Zu ihrer beider Überraschung war es heil geblieben.
Das Display des Mobiltelefons zeigte ›Viola privat‹ an. Natürlich, sie hatte es immer gewusst. Die Geschichte mit Viola war entgegen seiner Beteuerungen keineswegs beendet. Nives fixierte Fritz, der sie abschätzig ansah. Sein Blick sagte ›Trau dich!‹.
»Gib her«, sagte er dann und griff nach dem Telefon.
Nives drehte sich abrupt weg, drückte die grüne Taste, hielt sich das Telefon ans Ohr und sagte laut: »Hallo?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz irritiertes Schweigen. Dann sagte die Frauenstimme: »Hallo, hier ist Viola. Nives, Liebes, bist du das? Was für eine Frage, natürlich bist du das. Du, ich habe eben in den Morgennachrichten … nun, bei euch scheint etwas passiert zu sein … diese Monsterwelle …«
»Richtig«, unterbrach Nives. »Eine Monsterwelle. Eine Katastrophe. Angeblich soll es ganz Phuket erwischt haben.«
»Phuket? Nives, Liebes, die Welle ist bis nach Afrika geschwappt! Halb Thailand, Indien, Sri Lanka – angeblich alles zerstört! Die Seychellen sollen komplett unter Wasser sein! Es gibt aber noch kaum Bilder.«
Nives brauchte einen Moment, um die Neuigkeiten zu verdauen. »Alles zerstört«, wiederholte sie tonlos, und ihr Hirn spielte Karussell. Langsam kristallisierte sich ein Gedanke aus dem Strudel. Fritz wollte seine Inszenierung, sie würde wieder seine Spielchen mitmachen. Auch wegen dieser Viola.
»Hallo, Nives?«, kam es aus dem Hörer.
»Ja, alles kaputt hier, so viele Leichen.« Nives schluchzte kurz und sah dabei mit kalten Augen zu Fritz hinüber, der schmunzelte. Nives Marell begann zu spielen. »Du kannst es dir nicht vorstellen, Viola, Liebes. Es ist so … so … grauenvoll …« Sie brach in Schluchzen aus. Fritz applaudierte ihr pantomimisch. »All die Toten, all das Leid! Und dann der arme kleine Elefant …«, stammelte sie stakkatoartig.
»Nives, Schätzchen.« Viola schien deutlich mitgenommen und vor allem durch die Erwähnung eines kleinen Elefanten schwer irritiert. »Sicher, auch die Tiere … Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Was ist mit Fritz … mit euch, meine ich! Was ist mit euch?«
»Ich weiß nicht, was mit Fritz ist. Unser Hotel …«, log Nives mit bebender Stimme und machte eine Pause. Sie wollte nicht gleich zu viel bieten. Erst abwarten, was Viola wollte, was sie im Fernsehen gesehen hatte.
»Was soll das heißen?« Violas Stimme schrillte panisch durch das Handy. »Ich habe eben im Internet recherchiert, und euer Hotel ist nicht vom Tsunami betroffen. Das haben die da geschrieben! Euer Hotel ist nicht betroffen!« Die Stimme überschlug sich. »Das schreiben sie auf der Hotelwebsite. Nur eine Notiz: Don’t worry about our guests. The hotel is still standing. More news soon. Vor einer halben Stunde aktualisiert. Ich war eben noch online. Du lügst doch.«
»Viola, Liebes. Beruhige dich.« Nives biss sich auf die Lippe. »Ja, es stimmt, dass unser Hotel verschont wurde. Ich selbst war im Bungalow, als es passierte. Die Welle hat uns nicht erreicht. Aber Fritz … nun, er wollte an den Strand gehen. Fünf Minuten bevor es passierte. Er wollte schwimmen, du weißt doch, wie gerne er früh schwimmen geht.«
»Nein! Das weiß ich nicht.«
»Dann weißt du es eben jetzt. Ich habe auf der Terrasse gestanden und ihn am Strand gesehen, als die Welle kam. Er war auf einmal nicht mehr da. Verstehst du, Viola?« Sie weinte überzeugend, zumindest für eine Ohrenzeugin im fernen Deutschland, denn ihre Augen blieben trocken.
»Wie nicht mehr da?« Violas Stimme war nur ein fernes Flüstern.
»Nicht mehr da. Als die Welle zurückging, war er nicht mehr da. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich laufe den Strand auf und ab und rufe ihn … aber … Fritz, rufe ich, Fritz!« Ihre Stimme schallte über den Strand. Sie übertrieb, das merkte sie selbst. Unnötig, dass Fritz ihr Handzeichen gab, weniger dick aufzutragen.
»Dann geh noch mal!«, herrschte Viola sie an. »Such ihn.«
»Viola, Liebes, wir sollten nicht unnötig die Akkuleistung verschwenden. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß.« Nives legte schnell auf.
»Du bist klasse«, sagte Fritz und küsste sie auf den Mund. »Siehst du, das war der erste Schritt zu meinem Verschwinden. Den nächsten planen wir jetzt. Bald bin ich mausetot!«
»Ja, bald bist du mausetot, Fritz Roloff. Plan, was du willst. Ich rufe Rocco an, damit er weiß, dass es uns … dass es mir gut geht.«