Читать книгу Die Knochennäherin - Martin Arz - Страница 6
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»Verrecken sollst du«, murmelte die Mutter mit abgewandtem Kopf mehr vor sich hin als zu jemandem. Sie redete gerade so laut, dass die Tochter sie hören konnte – die Tochter, die zu ihren Füßen in gekrümmter Hocke kauerte und sich schwer atmend an ihren Rockzipfeln festkrallte.
»Was?« Die junge Frau hob den Kopf und versuchte mit tränenverschleierten Augen, den Blick der Mutter zu erhaschen. Doch die schwergewichtige Frau starrte unvermindert ins Nichts.
»Was?!«, wiederholte die Tochter deshalb lauter, und ihre Stimme überschlug sich, bevor sie in einem Schluchzen erstarb. »Mutter, ich … verrecken?«
»Nichts habe ich gesagt«, antwortete die ältere Frau ungerührt und verschränkte die Arme vor ihrer schweren Brust. Ihr Gesicht blieb eine teilnahmslose Maske.
Mit letzter Kraft rappelte sich die junge Frau vom Boden auf, zog sich mühsam an den Falten von Mutters Rock hoch, bis sie auf Knien Halt fand. Hilfe suchend blickte sie zum Vater hinüber, der zusammengesunken am Küchentisch saß und das Gesicht in den Händen vergraben hielt.
»Papa?!«, rief die junge Frau.
»Du hast deine Mutter gehört«, kam nach einer schieren Ewigkeit die gebrochene Stimme zwischen den Fingern hervor. »Du … Ich kann nichts mehr für dich tun.«
»Papa?!«, wiederholte sie mit weit aufgerissenen Augen und streckte die Hand in Richtung Küchentisch. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber auf den staubigen Holzboden. Eine Wolke kleiner Partikelchen stob auf und tanzte irrwitzig im grellen Licht der Deckenbeleuchtung. Die Frau trug nur ein langes, grünlich-verwaschenes T-Shirt, das um ihren mageren Körper schlabberte, sowie eine hautfarbene Strumpfhose.
Die Mutter sah kurz zu ihr hinüber. Sie zog sich einen der einfachen Holzstühle heran und ließ sich schwer darauf fallen. Der Stuhl knarzte unter ihrem Gewicht. Sie musste dringend noch mehr abnehmen, schoss ihr durch den Kopf. Wenn sie wollte, konnte sie sehr diszipliniert sein. Es machte ihr sogar Spaß, jeden Morgen auf der Waage zu kontrollieren, wie die Pfunde purzelten. Zwar brach sie nun nicht mehr bei jeder Bewegung in Schweiß aus, doch es reichte noch nicht. Sie musste unbedingt die Achtzig knacken. Sie wollte wieder wer sein!
Und sie hatte die Chance dazu. Sie blendete die Szenerie um sich herum komplett aus. Sie wusste, dass er dort irgendwo im Verborgenen saß und alles beobachtete. Und sie wusste, dass er vermutlich schon längst betrunken war, wie immer um diese Uhrzeit. Sie meinte sogar, seine Fahne bis hierher riechen zu können. Seine Bier-Jägermeister-Fahne und diesen unangenehmen säuerlichen Körpergeruch, den er ausdünstete. Sie musste sich endlich etwas einfallen lassen. Es durfte einfach nicht sein, dass er sich weiterhin in ihrem Leben breitmachen konnte. Sie musste … – sich zusammenreißen! Sie öffnete die Augen und horchte auf das Keuchen der Tochter, die sich auf dem Dielenboden wand.
Konzentriere dich, dumme Kuh, schalt sie sich. Versau nicht diese Chance.
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Vater zuckte zusammen und blickte endlich auf.
Die Tochter hustete am Boden und wälzte sich auf den Rücken. »Er hat gesagt, dass er mich heiratet«, stammelte sie schwach.
»Hat er das?« Die Stimme der Mutter schnitt messerscharf durch den Raum. »Nun nicht mehr! Schau an, was er aus dir gemacht hat!«
»Nein.« Die junge Frau am Boden bäumte sich auf. »Nein, das hast du aus mir gemacht. Du allein!«
»Meine Tochter eine Hure, die sich von einem dahergelaufenen Kanaken schwängern lässt. Was habe ich zum Heiligen Zachäus von Palmyra gebetet!« Die dicke Frau faltete so energisch ihre Hände, als wollte sie Kartoffeln zerquetschen, nicht beten, dann erhob sie sich schwerfällig und griff sich an die Brust.
»Meine Tochter, das Türkenliebchen! Meine Tochter …« Sie brach ab. Ihr Blick schweifte durch den Raum, sie ließ die Arme schlaff hängen und begann leicht zu zittern. Sie fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Als hätte sie einen Schleier weggezogen oder eine dicke Make-up-Schicht abgewischt, veränderte sich ihr Ausdruck schlagartig. Alle Härte wich aus ihren Zügen. Die Augen, eben noch türkiskalte Eisschollen, füllten sich mit Tränen und flammten warm auf. Ihr ohnehin sehr blasser Teint schien in Sekundenschnelle alle Reste von Farbe zu verlieren, schimmerte zartweiß, fast transparent wie die Oberfläche einer kostbaren Porzellanpuppe. Ihre Lippen, eben noch schmal zusammengepresst, entspannten sich und erblühten zu einer sinnlichen Knospe. Nun konnte man nicht nur erahnen, dass diese Frau einmal wunderschön gewesen war – man sah, dass sie es immer noch war.
»Ich …«, stammelte sie und sank neben der Tochter auf die Knie, »ich … will dich nicht verlieren, hörst du? Die Schande … mein einziges Kind …«
Die Worte sprudelten aus ihr heraus. Sie beugte sich vor und schlang vorsichtig die Arme um die junge Frau. Sie hob die Sterbende ein wenig an, zog sie auf ihren Schoß und wiegte sie leicht hin und her. Dabei verrutschte das lange T-Shirt der Tochter und gab ihren Unterleib frei. Blut rann die Schenkel herunter.
»Mein Kind«, flüsterte die Tochter. »Weg. Ausgeblutet.«
»Mein Gott!« Der Vater sprang auf und gab ein herbes Schluchzen von sich. »Ich kann das nicht mehr mit ansehen!«
»Ich auch nicht!«, mischte sich eine weitere männliche Stimme barsch ein.
Viola richtete sich seufzend auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nives und Werner beschirmten sich die Augen mit den Händen gegen das gleißende Licht und versuchten, im Dunkeln des weiten Raums hinter dem Licht etwas zu erkennen.
»Ich kann das auch nicht mehr sehen«, wiederholte die Stimme resigniert.
Viola erhob sich, strich das schlabberige T-Shirt zurecht und half dann der dicken Nives auf die Beine.
»Was ist nun schon wieder?«, fragte Werner ungeduldig. »Und würdest du bitte irgendwo ins Licht kommen, damit wir dich sehen können? Das Probelicht ist einfach scheiße. Blendet total.«
»Viola, du chargierst, du outrierst! Ich dachte, das hätten wir bereits ausdiskutiert. Das ist irgendwie echt … too much. Nives … brillant. Ehrlich, ich war … Gänsehaut. Echt. Gänsehaut! Du hast mir richtig Angst gemacht. Behalte das bitte bei! Viola, Süße, vielleicht hilft es dir, wenn du dir noch mal den Film mit Nives anschaust, wie sie damals die Rolle der Tochter angelegt hat.« Der Sprecher näherte sich, endlich konnten die drei auf der Bühne ihren Regisseur Hannes Wachsmuth sehen. Der großgewachsene, schlaksige Mann mit der schlechten Haltung strich sich durch die dichten, halblangen weißgrauen Haare und nahm seine Brille ab. Er wirkte müde.
Viola Bruhns verdrehte die Augen. »Wozu soll ich mir diesen Film mit Nives ansehen? ICH spiele die Tochter! Ich kann es nicht mehr hören, Hannes. Wirklich! Die große Nives Marell, unsere Frau in Hollywood. Wann war das noch einmal? Entschuldige, Nives, Schätzchen, du weißt, dass ich dich und deine Arbeit … nun … brillant, zweifelsohne, Hannes hat absolut recht … Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, du hast die Rolle der Tochter in der Verfilmung von ›Kanakenbraut‹ ganz eigen angelegt, ganz speziell … Aber damals, als du die Rolle gespielt hast … ich meine, da … « Sie machte eine viel- und gleichzeitig nichtssagende Handbewegung und ließ den Satz unvollendet.
»Da wog ich eine Tonne weniger, wolltest du sagen?« Nives Marell sah ihrer Kollegin offen in die Augen. »Sicher, Viola, Liebes. Aber ich habe die Bundesfilmpreise, den César und den Goldenen Löwen von Venedig damals nicht wegen meiner Figur bekommen. Ich habe die Tochter übrigens nicht nur im Film, sondern auch in der Theaterfassung gespielt …«
»Das wissen wir alle.« Viola Bruhns lächelte falsch. »Unter Fritz Roloff persönlich!«
»Zickenalarm«, seufzte Werner Androsch, der den Vater spielte, und setzte sich auf die Tischkante. Mit beiden Händen fuhr er erst über sein Gesicht, dann über seine schütteren, nach hinten pomadisierten Haare.
»Habe ich ein Wort über ihr Gewicht verloren?« Viola sah sich um, suchte Augenkontakt mit ihren Kollegen. Alle wichen ihrem Blick aus. »Ein Wort, Hannes? Werner?«
»Lass mich da raus!«, antwortete der Schauspieler und stierte auf seine Schuhe.
»Wenigstens war ich damals, als ich die Tochter spielte, tatsächlich im glaubwürdigen Tochteralter«, sagte Nives Marell.
»Wie bitte?«, fuhr Viola hoch. »Nives, meine Liebe, auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ich könnte tatsächlich deine Tochter sein.«
»Könnte«, seufzte Nives. »Gott sei Dank nur könnte!«
»Können wir uns wieder konzentrieren«, ging der Regisseur Hannes Wachsmuth mit lauter Stimme dazwischen. An seiner Autorität gab es keine Zweifel, schließlich war er nicht nur Regisseur dieser Inszenierung, sondern auch Intendant des Theaters. »Viola, Süße, du …«
»Ich habe mit keinem Wort ihr Gewicht erwähnt, Hannes!« Violas Stimme bekam etwas Mädchenhaftes, Einschmeichelndes.
»Nein, sicher, hast du nicht.« Hannes Wachsmuth ließ die Schultern hängen. Es war mehr eine Geste, um Viola zu beruhigen als echte Resignation. Er hatte schon zu lange ein vorgeblich heimliches, in Wahrheit nur allzu bekanntes Verhältnis mit ihr, als dass er nicht genau wusste, wie er sie manipulieren konnte.
»Siehst du.« Viola Bruhns drehte sich triumphierend zu Nives Marell um. »Siehst du!« Sie schüttelte den Kopf und sah ihren Regisseur ernst an. »Hannes, wir geben alle unser Bestes, um ›Kanakenbraut‹ ganz im Sinn von Fritz auf die Bühne zu bringen. Wir vermissen ihn alle. Ich besonders, schließlich waren wir …« Sie brach ab. Ihre Augenlider flatterten dramatisch.
Alle wussten, was sie meinte. Alle verachteten sie dafür.
»Sie chargiert schon wieder«, flüsterte Nives Marell halblaut vor sich hin.
»Gut, das ist eine Weile her, dass er und ich …«, fuhr Viola unbeirrt fort, doch Nives fiel ihr ins Wort: »Und er und ich auch, Liebes, und was war mit Werner? Also hör auf, hier die trauernde Witwe zu spielen. Ich war dabei, als Fritz Roloff starb. Ich, Viola. Nicht du.«
»Darauf kannst du dir was einbilden.« Violas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Schätzchen, wie du nur zu genau wissen dürftest, ist hier niemand an dem Stück beteiligt, ich betone, niemand, der nicht ein besonderes Verhältnis zu … oder auch mit Fritz Roloff hatte.«
»Doch, ich«, meldete sich ein junger Mann, der bisher neben der Bühne gehockt hatte. Er richtete sich auf und streckte sich. Sein muskulöser nackter Oberkörper zog sofort die Blicke auf sich. Er trug eine schamlos tief sitzende rote Trainingshose, über deren Bund sich schwarze Schamhaare kräuselten, so wie es seine Rolle als der Kanake in ›Kanakenbraut‹ forderte. Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte kein Verhältnis mit oder zu Fritz Roloff. Ich kannte ihn nicht mal.«
»So habe ich das nicht gemeint, Levent.« Viola Bruhns ging zu Levent Demir hinüber und fuhr ihm sanft über den Kopf durch das dichte schwarze Haar. Mit einer minimalen Kopfbewegung drückte der türkische Schauspieler sein Unbehagen über die Berührung aus. Viola genoss es, ihre Hand besonders langsam zurückzuziehen und dabei wie zufällig seine breiten Schultern zu berühren. Eine kaum merkliche Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Viola schmunzelte.
»Doch, so hast du es gemeint«, sagte Nives Marell. »Genau so.«
»Wirklich?« Levent Demir zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Er sah nacheinander Viola Bruhns, Nives Marell, Werner Androsch und Hannes Wachsmuth an.
»Wirklich«, antwortete Nives, und Werner ließ zischend Luft zwischen seinen Lippen entweichen.
»Wow.« Levent Demir zuckte erneut mit den Schultern.
»Ich glaube nicht, dass hier die erotischen Eskapaden von wem auch immer zur Disposition stehen«, sagte Hannes Wachsmuth hörbar verärgert. »Bitte noch mal zurück auf Position. Wir sollten den letzten Akt ab dem ›Verrecken sollst du‹ von Nives noch einmal komplett durchspielen. Dann ist Feierabend.«
»Ich hab noch ’ne Anprobe«, murmelte Levent Demir, bevor er sich wieder ins Dunkel setzte, um sein Stichwort bei der Schlussszene abzuwarten.
Nives hatte sich nicht geirrt. Er saß wirklich da im Dunkeln. Obwohl er noch nichts bei den Proben zu suchen hatte. Noch spielten die Schauspieler mit Probenkostümen, die man aus dem Fundus zusammengesucht hatte. Noch hatte er nichts weiter zu tun, als die Zuschnitte zu machen und die Schneider zu beaufsichtigen. Jedenfalls tat er so. Seit der Neue da war, war alles schwieriger geworden. Denn der Neue war gut, wirklich gut, und das hatten die anderen längst bemerkt. Es wurde immer schwieriger, das Gesicht zu wahren. Da er nie zu kämpfen gelernt hatte, überließ er freiwillig das Terrain dem Neuen und bemühte sich, die letzten Jahre vor der Pensionierung so angenehm wie möglich zu gestalten.
Aber Nives zu beobachten – das liebte er, dafür stahl er sich gerne mal weg. Wie schön sie immer noch war. Nives Marell, dieses blasse, wohlgenährte, blutjunge Bauernmädel, das der große Fritz Roloff einst entdeckt hatte. Dieser üppige blonde Barockengel, der hoch hinausflog, der erst die Münchner Kleinkunstbühnen, dann den deutschen Film und schließlich die internationalen Kinoleinwände im Sturm erobert hatte. Er war dabei gewesen! Auch als der Absturz kam. Als der deutsche Star nach seinem Hollywood-Ausflug aufging wie ein Hefekuchen, gefüttert von unstillbarer Sehnsucht nach der wahren Liebe, gebläht von dem gierigen Hunger nach Koks und Champagner. Er war dabei gewesen, als sie in Frankreich und Italien von B- zu C-Filmen abrutschte, als die Angebote ausblieben, als La Nives Kassengift wurde, als keiner mehr ihre legendären türkisgrünen Katzenaugen auf Celluloid bannen wollte, als niemand mehr ihre milchweiße Haut strahlen und ihren üppigen Busen wogen sehen wollte – als es aus und vorbei war.
Nun, er war auch bei anderen Gelegenheiten in Nives’ Leben dabei gewesen – und das gereichte ihm bisher nicht zum Schaden! Im Gegenteil. Jetzt war er wieder dabei, als sie nach langen Jahren der Vergessenheit ihr Comeback versuchte. Was für ein verrücktes Karussell das Leben doch sein konnte. Er lächelte. Er und Nives wieder bei der Arbeit vereint. Dass sie ihn bei jeder Begegnung mit inbrünstiger Verachtung anstierte, stachelte ihn nur noch mehr an. Sollte sie ihn hassen, er hatte sie in der Hand. Wer hätte das gedacht. Sie war ihm ausgeliefert. Und das nur, weil er sie auch in jener Nacht beobachtet hatte, als sie etwas tat, wobei sie auf gar keinen Fall hatte beobachtet werden wollen.
Er schraubte leise seine Thermoskanne auf und goss sich mit zittrigen Händen einen Becher Kaffee ein, während auf der Probebühne Viola erneut überdramatisch starb. Kaffee, schwarz und stark, ohne Zucker, ohne Milch. Er pustete vorsichtig in den Becher, beinahe schwappte das Getränk über, so sehr zitterten seine Hände. Dann bekam er den Tremor unter Kontrolle und trank in gierigen Schlucken. Es schüttelte ihn, so bitter schmeckte der Kaffee. Was war nur los mit ihm? Schon seit Tagen schmeckten ihm der Kaffee und leider auch das Bier bitter, viel zu bitter. Der Kräuterschnaps, den er immer hinterherschüttete, musste ja bitter sein, das irritierte ihn nicht. Gestern war ihm speiübel nach dem dritten Bier gewesen, richtig elend. Dabei war es da noch nicht mal halb drei Uhr nachmittags. Für gewöhnlich hatte er da schon mehr Biere. Heute in der Früh hatte er kaum seine zwei Halbe herunterbekommen, so grauslich bitter schmeckten sie – und jetzt der Kaffee. Er unterdrückte den aufkeimenden Brechreiz, er musste dringend mit seinem Hausarzt reden. Am besten noch heute. Wider besseres Wissen trank er noch einen Becher und noch einen. Bis die Kanne leer war. Bitter. Er schüttelte sich, Galle kroch seine Speiseröhre hinauf.
Eben war Viola auf der Bühne mit einer grotesken Verrenkung gestorben, und Nives schluchzte ergreifend. Das konnte sie wirklich – schauspielern. Das Publikum würde Rotz und Wasser heulen, wenn Nives die Trauernde gab und am Ende vor der Reliquie des Heiligen Zachäus von Palmyra zusammenbrach. Das Publikum hatte auch geschluchzt, als sie aus Thailand zurückgekommen war und die Welt über den tragischen Tod des großen Fritz Roloff unterrichtet hatte.
Er würgte den Mix aus bitterem Gallegeschmack und Kaffee hinunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. Er brauchte dringend ein Bier. Jetzt. Sofort. Nein, besser einen Jägermeister. Und dann zum Arzt.
»Viola, Süße«, unterbrach eben Hannes Wachsmuth die letzte Szene.
Das ideale Stichwort. Obwohl ihm hundeelend war, nutzte er die Unterbrechung, packte seine Thermoskanne und verließ den Probebühnenraum so unauffällig wie möglich. Beim Hinausgehen nickte er mit so viel Beherrschung, wie er noch aufbringen konnte, den Regie- und Kostümassistenten zu. Krämpfe beutelten seinen Magen. In den Beinen und Armen schienen Ameisen zu laufen. Er kratzte sich. Nun kribbelte es auch noch in seinen Lippen.
»Verdammt! Können wir bitte in Ruhe proben?!«, hörte er Hannes Wachsmuth noch schreien, während er die Tür hinter sich zuzog.
Kaum draußen, eilte er mit schleppenden Schritten den langen Flur hinunter Richtung Fahrstuhl und drückte seine linke Faust in den Bauch. Kalter Schweiß brach ihm aus. Dann hielt er kurz inne, drehte um und taumelte so schnell er konnte zu den Toiletten am anderen Ende des Ganges. Dass es in diesem Stockwerk nur Damentoiletten gab, störte ihn nicht. Er riss die Tür auf und übergab sich ins Waschbecken. Das Brennen in seinem Inneren ließ ein wenig nach. Er würgte, doch es kam nichts mehr außer gelber Spucke. Schwer atmend ließ er Wasser ins Becken laufen und versuchte, so gut als möglich sein Erbrochenes zu beseitigen. Dann wusch er sich das Gesicht und ordnete die spärlichen grauen Haare. Beim Blick in den Spiegel sah er sich wie durch einen Nebelschleier. Er musste zum Arzt. Er brauchte ein Bier. Erst das Bier, dann der Arzt.
Er verließ die Damentoilette und stieß mit Traudl zusammen. Die Schneiderin hatte eben nach der Türklinke greifen wollen und prallte nun erschrocken zurück. Traudl, die irgendwann in den Siebzigern stehen geblieben war und seitdem weder Make-up noch Kleidungsstil geändert hatte. Traudl, die sich die platinblondierten Haare wie ein riesiges Storchennest auftoupierte, wohl damit sie ein Gegengewicht zu ihrer überaus üppigen Oberweite bildeten. Traudl, diese alternde wandelnde Beleidigung für sein Auge, immer schon so provinziell wie ihr bäuerlicher Name: Traudl Sonnenbichl, geborene Kropfhamer. Wie er sie hasste.
Und wie sie ihn hasste. Kaum dass sich Traudl Sonnenbichl von dem kurzen Schreck erholt hatte, blitzen ihre Augen unter den übertrieben hellblau geschminkten Lidern vernichtend. Sie verzog abschätzig den Mund und sagte: »Jetzt hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt, Sepp. Verlass dich drauf. Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, dass du dich in der Damentoilette …«
»Halt dein Maul, Traudl, halt einfach dein dummes Schandmaul.« Er hob die Hand, wie wenn er sie ins Gesicht schlagen wollte, gab ihr aber nur einen schwachen, ungehobelten Schubs und stieg mit wackeligen Beinen die Treppen hinauf, die an diesem Ende des Ganges zu den obersten Stockwerken des Theaters führten.
»Halt! Deinen Müll solltest du dir schon mitnehmen.« Traudl holte ihn auf der zweiten Stufe ein und drückte ihm seine Thermoskanne in die Hand, die er neben dem Waschbecken hatte stehen lassen.
Er grunzte etwas und ging mühsam weiter die Treppen hinauf. Oben musste er zunächst wieder die Toilette aufsuchen und sich übergeben. Dann betrat er die Herrenschneiderei und versuchte, den Blicken der Schneider auszuweichen. Er rang um Haltung, ging zu seinem Arbeitstisch und sah seinen Kollegen, den er für sich immer noch den Neuen nannte, obwohl der schon seit mehr als zwei Jahren hier arbeitete, verbissen lächelnd an.
»Du, Basti, ich muss zum Arzt. Mir gehts nicht gut.«
»Hmmm«, brummte der Angesprochene, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er zeichnete mit geübten Bewegungen einen Halbkreis auf den riesigen Bogen braunen Papiers, das auf seinem Arbeitstisch lag. »Du hast heute noch eine Anprobe mit Levent Demir für ›Kanakenbraut‹.«
»Weiß ich, Basti, weiß ich. Grad drum … tut mir auch wirklich leid. Aber mir geht’s gar nicht gut.« Er beugte sich vor, um den Blick von Sebastian Oßwald zu erhaschen. Doch der konzentrierte sich demonstrativ auf das Schnittmuster für ein Sakko, das er zeichnete, dabei pulsierte eine Ader an der Schläfe und seine Wangenmuskeln mahlten.
»Schon gut, Sepp. Ist dir wieder so wahnsinnig schlecht? Wieder alles bitter?« Sebastian sprach so beherrscht, als wäre es nicht gang und gäbe, dass sein Kollege ihn in der heißen Phase, wenn die Endproben und die fertigen Kostüme anstanden, im Stich ließ und eine Krankheit vorschob. Sebastian Oßwald konnte die Stunden zählen, in denen sein Kollege bei der Arbeit war, nicht umgekehrt. »Geh nur, Sepp. Ich mach die Anprobe mit Levent Demir. Soll ich morgen gleich noch die Anprobe mit Werner Androsch einplanen? Ich habe ja sonst nichts zu tun.«
Der letzte Satz peitschte durch die Luft wie ein Goaßlschnoizer. Die Schneider im Nebenraum, die durch die offene Doppelflügeltür jedes Wort mitbekamen, tauschten verstohlene Blicke, senkten die Köpfe über ihrer Arbeit und vermieden jedes Geräusch, um nichts zu verpassen. Keine Nähmaschine surrte, keine Bügelmaschine zischte, alle hatten plötzlich dringende Handarbeit zu erledigen.
»Tut mir ja leid, Basti, wirklich.« Sepp lächelte verkrampft. »Ich … morgen bin ich wieder auf dem Damm. Verlass dich drauf, gell, Basti.«
»Geh jetzt besser, Sepp. Morgen ist ein neuer Tag.« Sebastian Oßwald, der es hasste, wenn man ihn Basti nannte, zweiter Gewandmeister am Staatsschauspiel München, bebte vor Wut, biss sich auf die Lippen und freute sich auf den kommenden Tag, der einiges an Veränderung bringen würde. Dafür hatte er gesorgt. Er packte die Thermosflasche, die Sepp einfach auf seinem Arbeitstisch abgestellt hatte, und trug sie hinüber auf seines Kollegen Tisch. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit und sah nicht auf, als Joseph Bloch, genannt Sepp, erster Gewandmeister am Staatsschauspiel München, das letzte Mal in seinem Leben die Herrenkostümwerkstatt verließ.
Sepp Bloch taumelte. Er kannte sich selbst nicht wieder. Sicher, sein Kollege hielt ihn für einen Hypochonder, doch was wusste der junge Hupfer schon von den Gebrechen des Älterwerdens! Diese Krämpfe. Womöglich sein zweiter Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Magendurchbruch? Er musste sich so sehr auf das Gehen konzentrieren, dass er niemanden wahrnahm, der ihm entgegenkam. Nicht Traudl, die die Toilette verließ und ihm einen bösen Blick hinterherschickte. Nicht Nives Marell, die nach Beendigung der Proben auf dem Weg zur ersten Anprobe für ihr Kostüm war und ihm »Hat dieses Leben nicht endlich genug von dir?« zuraunte. Nicht Werner Androsch, der mit seinem Kollegen Levent Demir vor dem Aufzug wartete und sich dann für die Treppen entschied, weil er mit Sepp Bloch nicht Lift fahren wollte. »Der Lift ist zu klein für uns beide«, sagte er schnippisch, als er Levent Demir und Sepp Bloch alleine die Kabine betreten ließ und sich abwandte.
»Was hat der denn?«, fragte Levent Demir.
Nun erst nahm Sepp den jungen Mann wahr. Er konnte kaum die Lider heben. Statt zu antworten, machte er eine fahrige Handbewegung.
»Ihnen geht es aber auch nicht gut, Sepp. Sie sollten zum Arzt gehen.«
»Schon gut«, sagte Sepp müde. »Bin auf dem Weg.«
»Brauchen Sie Hilfe? Sie sehen sehr mitgenommen aus.«
»Schon in Ordnung. Passt schon!«
»Dann macht der Sebastian später die Anprobe mit mir?«
Sepp Bloch nickte und schwankte nach draußen, als sich die Aufzugstür im Erdgeschoss endlich öffnete. Ihm entging, wie Levent Demir erleichtert ausatmete und gleichzeitig missbilligend den Kopf schüttelte.
Ein Bier – nein, erst einen Magenbitter, dann wird alles besser, dachte er, als er am Pförtner vorbeitaumelte, die wenigen Stufen zum Hof beinahe hinunterstürzte und über den düsteren Innenhof in Richtung Färberei steuerte. Meinen Jägermeister! Erst einen Jägermeister, dann geh ich zum Arzt.