Читать книгу Die Knochennäherin - Martin Arz - Страница 12

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»Die Praktikantin ist sich absolut sicher, dass die Lüftung lief, als sie den Toten fand«, referierte Annabella Scholz am nächsten Morgen ihre Recherchen. »So wie immer, wenn gefärbt wird. Das Zeug dort ist so giftig, dass es nur mit laufender Entlüftung verwendet werden darf. Die ganze Kammer wurde erst vor Kurzem renoviert, und die Anlage ist quasi neu. Die Frau ist übrigens erst seit einer Woche bei der Staatsoper.«

»Dann kann er also nicht von den Dämpfen ohnmächtig geworden sein. Gibt es schon Neuigkeiten aus der Pathologie?«

»Deine Freundin Gerda lässt ausrichten, dass du sie für die ersten Infos gleich mal anrufen sollst.« Die Kommissarin legte ihren Notizblock zur Seite. »Ach, und es wäre nicht schlecht, wenn du dich mit dem Oberstaatsanwalt zusammensetzt oder auch auseinandersetzt. Klingt völlig konträr, oder? Wenn man mal darüber nachdenkt, bedeutet aber letztlich beides dasselbe. Zusammensetzen – auseinandersetzen. Nein, bedeutet natürlich absolut nicht dasselbe … aber …«

»Du solltest beizeiten noch Germanistik studieren, Bella.«

»In einem anderen Leben, Chef. Die Staatsanwaltschaft will jedenfalls partout keine Gelder für eine Radiocarbonanalyse lockermachen.«

»Radiocarbonanalyse?«, fragte Pfeffer irritiert.

Annabella Scholz schlenderte zur neuen, chromblitzenden Espressomaschine, nicht irgendeine, sondern der Rolls-Royce unter den Espressomaschinen. Max Pfeffer hatte das Gerät auf eigene Kosten für teures Geld angeschafft, weil er die langweilig-bittere Plörre nicht mehr herunterwürgen konnte, die zuvor aus der asthmatisch röchelnden alten Kaffeemaschine getröpfelt war. Bella fühlte sich jedes Mal wie ein italienischer Barista, wenn sie die Dampfdüse in das Milchkännchen tauchte und Schaum produzierte. Fettarme H-Milch, so hatte sie gelernt, war die beste Schaumgrundlage, denn das Fett von Vollmilch verhinderte die Anreicherung mit Luftblasen. Bella war die Einzige, der Pfeffer erlaubte, mit der Maschine zu hantieren.

»Du wolltest doch eine Radiocarbonanalyse des Skeletts von Zacherlkirchen, oder? Der Staatsanwalt sieht dazu keine Notwendigkeit, denn laut deiner Freundin Gerda Pettenkofer und diesem Doktor Keppler handelt es sich um einen historischen Fund. Also soll da kein Geld verschwendet werden.«

Pfeffer seufzte. »Mach mir bitte auch einen Espresso macchiato. Danke.« Dann griff er zum Telefon. Bevor er eine Nummer wählte, legte er wieder auf und fragte: »Wie war das noch mal mit Angehörigen des Toten? Die Kollegen haben niemand ausfindig machen können?«

»Nein«, antwortete Bella. »Falls du den Toten vom Theater meinst. Der Mann lebte alleine in einer Zweizimmerwohnung im Schlachthofviertel, Schmellerstraße. Er hat keine Kinder – zumindest keine, von denen wir wissen –, keine Frau oder sonstige Lebensgefährten, nicht einmal geschieden. Auch keine Geschwister. Seine Eltern sind verstorben, die Mutter erst vor zwei Jahren, wenn ich mich recht erinnere. Steht in dem Bericht, der auf meinem Schreibtisch liegt. Sieht vorerst so aus, als würde niemand um Joseph Bloch trauern. Ach, und wundere dich nicht – es gibt auch kein Mobiltelefon von ihm. Er hatte keins, hat dieser Gewandmeister auch bestätigt.«

Schweigend nahm Max Pfeffer den Telefonhörer und wählte die Nummer der Pathologie.

»Okay, Maxl«, kam Gerda Pettenkofer am anderen Ende der Leitung sofort zur Sache. »Wie üblich hattest du den richtigen Instinkt. Der Tote aus dem Theater, dieser Joseph Bloch, ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wegen der Dämpfe ohnmächtig geworden. Aber es war dennoch ein Unfall, dass er in den Trog fiel.«

»Also kein Mord.«

»Nicht so schnell. Er ist zusammengebrochen. Ungünstigerweise direkt in diesen Giftcocktail hinein. Aber er WAR bereits vorher vergiftet. Und zwar durch ein myoneuro-cardiokinetisches Mittel. Er ist in den Trog gefallen und war sofort tot. Er muss quasi im Sterben hineingefallen sein, denn er hat nicht aspiriert. Kein Färbemittel in seiner Lunge oder sonst wo in den Atemwegen. Das sind erste Testergebnisse, ich dachte, du willst es so schnell als möglich wissen. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich Genaueres weiß.«

»Myo-was?«, fragte der Kriminalrat ungeduldig. »Gerda, bitte!« Mit der freien Hand hielt er sich das Ohr zu, weil die Kaffeemaschine zu laut zischte.

»Myoneuro-cardiokinetisch, Maxl. Digitalis oder ein digitalisartiges Glykosid. Also ein Mittel, das auf das Herz sowie die nicht dem Willen unterworfene Muskulatur eine deutliche Auswirkung hat. Der Tote muss sich in den letzten Stunden vor seinem Ableben mehrfach übergeben haben. Auch das lässt auf ein Digitalisgift schließen.«

»Okay, dann müssen wir den Kräuterschnaps und alles andere untersuchen lassen, was er gestern getrunken hat. Ich setz die Jungs drauf an.«

»In seinem Magen habe ich bisher einen Kräuterschnaps, Bier und Kaffee nachweisen können. Genauer Bericht mit dem Namen des Gifts folgt as soon as possible.«

»Danke, Gerda, jetzt haben wir also einen Mord und müssen das Staatstheater auseinandernehmen. Bravo, wir haben ja sonst nichts zu tun. Bevor ich es vergesse: Was macht unser Skelett von gestern?«

»Nichts. Was soll es machen? Es liegt in einer Pappschachtel in der Kammer. Die Staatsanwaltschaft hat den Fall mangels öffentlichen Interesses vorerst auf Eis gelegt.«

»Aber du hast dich sicher mal auf das Eis begeben und genauer hingesehen und weißt mir einiges Neues zu berichten.«

Die Rechtsmedizinerin kicherte wie ein Schulmädchen. »Okay, Maxl, weil du es bist. Ich habe ganz, ganz kurz hingesehen, praktisch nur ein Blinzeln, und kann dir nur wirklich augenfällige Einzelheiten berichten. In Höhe der vierten und fünften Rippe links habe ich eine leichte Abschürfung entdeckt, die sich scharfkantig und v-förmig über die Knochen frisst. Außerdem ist in der vierten Rippe eine kleine Kerbe nach innen. Ich schließe daraus, dass die Person zu Lebzeiten mit einem scharfen Gegenstand verletzt oder sogar getötet wurde. Der Täter hat dem Opfer vermutlich mit einem Schwert oder einem Speer oder so etwas Ähnlichem in den Brustkorb gestochen und dabei auch die Rippen verletzt. Und die Lücken in den Zähnen hatten, soweit ich das auf die Schnelle gestern noch checken konnte, wirklich nie Füllungen. Das heißt, dass der Mensch mit schlechten Zähnen lebte. Das sind natürlich nur schnelle Analysen, die keinerlei Anspruch auf Gültigkeit haben. Dennoch, dies alles, mein lieber Max Pfeffer, sind leider weitere Hinweise darauf, dass es sich bei dem Toten um eine uralte Leiche handelt. Die gesamte Knochen- und Gewebestruktur …«

»Gut, Gerda, such schon mal ein kleines repräsentatives Knochenstückchen heraus, das wir dann zur Analyse schicken können.«

»Maxl!«, seufzte die Medizinerin geziert.

»Gerda«, echote der Kriminaler ebenso geziert. »Du hast eben selbst gesagt, dass der Tote aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet wurde.«

»Ja, aber für eine Radiocarbonanalyse reicht kein Knochenfitzelchen. Das geht nach der Devise je größer desto besser. Die brauchen einen ganzen Knochen oder eine schöne ausgesägte Scheibe.«

»Dann nimm den Oberschenkel. Da ist genug für alle dran. Ich werde den Staatsanwalt mit meinem Charme gewiss umstimmen können. Schick ihn los.«

»Apropos Charme«, sagte Gerda Pettenkofer. »Du wirst es ja nicht glauben, aber seit Neuestem gucke ich doch mit Begeisterung diese Soap ›Unser Block‹. Und ich vermisse deinen Sohn, diesen Charmebolzen. Cosmo war doch mal in dieser Serie mit dabei, oder?«

»Cosmas ein Charmebolzen?« Pfeffer musste lachen. Er war der Einzige, der seinen ältesten Sohn noch bei seinem richtigen Namen Cosmas nannte. Für den Rest der Welt war er Cosmo. Vor gut einem Jahr hatte der ein paar Folgen lang bei der beliebten Daily Soap ›Unser Block‹ vor der Kamera gestanden. Es hatte nur mit einem kleinen Auftritt von Cosmos Hip-Hop-Band ›Volle Härte‹ angefangen. Der damals noch Minderjährige hatte für die nötigen Verträge einfach die Unterschrift seines Vaters gefälscht. Cosmo Pfeffer, der vom Vater den sportlichen Körperbau und die kuscheligen braunen Augen geerbt hatte, war gut angekommen, und so hatte man ihn für eine kleine Nebenrolle engagiert. Nichts Spektakuläres, meist war er nur im Hintergrund herumgestanden, selten mehr als ein paar Sätze Text.

»Der Ruhm ist ein scheues Reh. Ebenso schnell weg, wie es auftaucht.« Pfeffer dachte an das enttäuschte Gesicht seines Ältesten, als er ohne Angabe von Gründen eines schönen Tages seine Kündigung erhalten hatte. »Zuerst haben sie seine Band nicht mehr in der Serie einbauen können oder wollen, dann haben sie seine kleine Rolle komplett gestrichen. Charmebolzen hin oder her. Ich bin ehrlich gesagt froh darüber, der Junge soll schließlich für sein Abitur lernen.«

»Recht so, strenger Vater«, sagte Gerda Pettenkofer und lachte raucherhustend.

»Wenn du ihn übrigens heutzutage bei der Arbeit sehen willst, dann geh am Freitagnachmittag oder Samstag zu Getränke Wittler. Da kannst du ihn dann beim Getränkekistenschleppen bewundern.«

»Auch ein cooler Job!«

»Und er hat tatsächlich ab und an bezahlte Auftritte mit seiner Band.«

»Quasi auf dem Weg zum Superstar, der Junge.«

»Quasi.«

»Bis die Tage, Maxl.«

Nachdem Pfeffer aufgelegt hatte, stellte Kommissarin Annabella Scholz ihrem Chef den Espresso macchiato hin und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Mord?«

»Doppelmord. Sozusagen.« Pfeffer rührte zwei Löffel Zucker unter und nahm einen kleinen Schluck. »Der Mann im Farbtrog wurde vergiftet und das Skelett erstochen.«

»Ich schick dann gleich die Kollegen in die Wohnung von Joseph Bloch, oder sollen wir selbst hin?«

»Vorerst nicht. Schick die Kollegen.«

»Ist dir eigentlich klar, dass diese Nives Marell irgendwie mit beiden Fällen zu tun hat?« Kommissarin Scholz umklammerte ihren Milchkaffee mit beiden Händen. »Wir finden auf ihrem Land das Skelett, und sie arbeitet momentan am Residenztheater. Wenn das mal kein Zufall ist.«

»Na, keine voreiligen Schlüsse. So offensichtlich sehe ich da noch keinen Zusammenhang.« Pfeffer leerte seine Tasse in einem Zug. »Jetzt muss ich erst mal den Oberstaatsanwalt weichklopfen.«

Früher konnte man das Verhältnis zwischen Oberstaatsanwalt Bauer und Kriminalrat Pfeffer als beinahe freundschaftlich bezeichnen. Die beiden Männer hatten viele Fälle gemeinsam bearbeitet und waren immer gut miteinander ausgekommen. Jeder respektierte die Kompetenz des anderen. Bei schwierigen Rechtslagen oder kniffligen Angelegenheiten hatten sie sich mehr als einmal arrangiert.

Doch seit jenem Fall, bei dem sich Oberstaatsanwalt Bauer als Diener zweier Herren entpuppt hatte, als Staatsdiener und als Kirchendiener, als er Pfeffer mehr oder minder unverhohlen zu schlampiger Arbeit aufgefordert hatte, um höchste kirchliche Kreise zu schützen – seit damals war das Verhältnis beider Männer extrem abgekühlt. Bauer war natürlich so geschickt gewesen, sich juristisch nichts zuschulden kommen zu lassen. Doch in den ersten Monaten nach dem Vorfall hatte sich Bauer um jede Begegnung mit Pfeffer gedrückt, ließ sich im Zweifelsfall sogar krankschreiben. Danach fanden sie langsam wieder zu einem distanzierten Miteinander. Doch auch Außenstehenden fiel seitdem auf, dass sich die Machtverhältnisse verschoben hatten.

Früher waren Pfeffer und Bauer als beinahe gleichstarke Alphamännchen aufgetreten. Nun gab es ohne Zweifel nur noch einen Alpha: Maximilian Pfeffer. Auch bei diesem Telefonat.

»Wozu diese C-14-Analyse, Herr Pfeffer«, sagte der Oberstaatsanwalt. »Wissen Sie, was das kostet?«

»Nein, das weiß ich nicht. Sagen Sie es mir.« Pfeffer wechselte den Telefonhörer zum anderen Ohr, weil er mitschreiben wollte.

»Gute zweihundert Euro.«

Pfeffer musste ein Lachen unterdrücken. »Das ist nicht Ihr Ernst. Sie blocken ab wegen zweihundert Euro, Herr Bauer?«

»Es sind immer nur hier mal zweihundert, dort mal hundert Euro. Auch zweihundert Euro sind Geld des Steuerzahlers. Nach aktuellem Stand der Dinge sind sich unsere Frau Doktor Pettenkofer plus dieser Mann vom Landesamt für Denkmalpflege darin einig, dass das Skelett älteren Datums ist. Wir haben hier anderes zu tun, als nun daraus einen Fall zu konstruieren. Was, wenn sich herausstellt, dass es tatsächlich ein keltischer oder frühmittelalterlicher Fund ist? Wir sind nicht dazu da, anderen Behörden wie den Denkmalschützern die Unkosten abzunehmen. Wir sind hier auch nicht in einer dieser realitätsfernen amerikanischen Serien, in denen bei jedem abgerissenen Finger eine Armada von Spezialisten in Bewegung gesetzt wird. Wo die Labors vor Hightech nur so blitzen und Ameisenkacke analysiert wird, um einen Täter zu fangen. Das hat auch in den USA nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wir haben ganz klare Anweisungen, welche Kosten vertretbar sind, um Verbrechen aufzuklären, und welche nicht. Radiokohlenstoffanalysen von Skeletten, die nach Auskunft des Landesamtes für Denkmalpflege plus der Rechtsmedizin eindeutig älteren Datums sind, gehören definitiv nicht dazu. Hören Sie, Kriminalrat Pfeffer, ich brauche mehr Beweise, dass …«

»Eine Radiocarbonanalyse wird uns Sicherheit geben, Herr Bauer. Wenn es Probleme mit der Budgetierung gibt, können wir gerne mit Kriminaldirektorin Staubwasser sprechen. Da finden wir eine Lösung. Wir sind bereits dabei, die Vermisstenkarteien der Region durchzugehen«, sagte Pfeffer und ärgerte sich im gleichen Augenblick, dass er daran nicht schon längst gedacht hatte. Auf die einfachsten Dinge kam man manchmal nicht. »Idiot, damischer«, sagte er in Gedanken zu sich und gab Bella einen Wink. Die verstand und machte sich eine Notiz. Dann setzte sie sich an den Computer.

»Die Vermisstenkartei?« Oberstaatsanwalt Bauer zögerte hörbar.

Darauf hatte Pfeffer gewartet. Er wusste, dass er bald am Ziel sein würde. Er sagte: »Vermisste aus Zacherlkirchen und den Nachbarorten.«

»Na gut, wenn Sie mir einen Fall aus den letzten zwanzig Jahren bringen, der möglicherweise mit dem Skelett in Zusammenhang stehen könnte, dann sollen Sie Ihre Analyse haben.«

»Danke, Oberstaatsanwalt Bauer. Aber ich denke, zwanzig Jahre reichen nicht. Wir sollten …«

»Zwanzig Jahre müssen reichen, Herr Pfeffer. Es dürfte auch Ihnen bekannt sein, dass die Akten über Vermisstenfälle nach zwanzig Jahren vernichtet werden.« Sarkasmus blitzte auf.

»Sicher. Aber wir werden uns auch vor Ort umhören, wer weiß, vielleicht wissen die Alten von weiter zurückliegenden Vermisstenfällen. Vielleicht wurde einem alten Austragsbauern der Austrag nicht gegönnt. Der Steuerzahler hat sicher auch an der Aufklärung älterer Verbrechen ein Interesse. Vielen Dank, Herr Oberstaatsanwalt.«

Der Kriminalrat legte schnell auf und sagte zu Annabella Scholz: »Bella, bring mir einen Vermissten aus Zacherlkirchen bei, der unser Skelett sein könnte. Aber zackig.«

»Ach Chef, was glaubst du, was ich hier gerade mache?«, kam es hinter dem Monitor hervor.

Die Knochennäherin

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