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Vorgeschichte - Das UnBuch
ОглавлениеWie kam ich zu „Mein Kampf“, dem UnBuch?
An einem wunderschönen Frühlingsmorgen vor vielen Jahren schlenderte ich über einen Flohmarkt irgendwo in Österreich. Ich erinnere mich nicht mehr, wo es war. Seltsamerweise ist mir der Geruch dieses Frühlingssamstages noch in der Nase, als wenn es gestern gewesen wäre. Die Geräusche des Marktes, die Farben der Waren, der Geschmack der frischen Luft, die Stimmen der Menschen, alles ist präsent. Aber der Ort bleibt wie gelöscht. Ein breiter Fluss ist mir im Gedächtnis geblieben. Es musste die Donau gewesen sein, wobei es sich nicht um Wien handelte. Es kommen viele Städte in Frage. Eigentlich ist der Ort unerheblich, aber irgendwie zermartert man sich gerne das Hirn, wenn einem einfache Begriffe nicht einfallen. Manchmal gehe ich dann das Alphabet durch und habe bei dem entsprechenden Anfangsbuchstaben eine Eingebung. Oder die Erinnerung kommt wieder, wenn man nicht mehr darüber grübelt. In diesem Fall funktioniert beides nicht. Wie gesagt, der Ort ist nicht das Entscheidende.
Ein typischer Flohmarkt, viel Ramsch, ein paar wirklich bemerkenswerte Antiquitäten, auch billige Jeans, wer weiß woher, wurden angeboten. Und Schallplatten! Schon längst hatte die CD die schwarzen Scheiben verdrängt, aber Liebhaber wollen nie auf den typischen Klang von in Vinyl gepresster Musik verzichten. Ich schaute mir die bunten Hüllen an. Alles war dabei, von Abba bis Zappa, und ich dachte wohlig an meine Jugend. Damals waren wir begeistert von den Bands, die in den Siebzigern Rockgeschichte schrieben.
„Mogst a Scheibn heern?“, fragte der Verkäufer in breitem Wienerisch. Er sah selbst aus wie aus den Siebzigern, lange Haare, buntes Hemd, Parka, Schlaghosen.
„I hob an Plottnspüiler und Strom hob i a!“ (Der Leser aus Wien möge mir diese Schreibweise verzeihen).
„Ja, gerne, spiel mal die von Uriah Heep.“
„Do, host an Headphone!“
Ich ließ mir die harten Klänge in den Kopf dröhnen. Mit einigem Gekratze zwar aber extrem cool.
„Danke, leider habe ich keinen Plattenspieler mehr.“
„Konn i Dir a verkaufn,“ war seine prompte Antwort.
„Nein danke, lass mal, bin mit den CDs ganz zufrieden.“
Heute habe ich wieder einen Plattenspieler.
Es waren die neunziger Jahre. Aus beruflichen Gründen lebte ich im schönen Wien. Ich wunderte mich jeden Tag mehr, wie sehr Österreich auch für einen Piefke Ausland war. Als ich in die Alpenrepublik kam, war ich von der Illusion beseelt, aufgrund zahlreicher Skiurlaube und der gemeinsamen deutschen Sprache auf alles vorbereitet zu sein. Weit gefehlt! Mit der Sprache konnte man zwar die Tageszeitungen verstehen, aber wenn der Einheimische es darauf anlegte, egal ob Wiener, Tiroler oder Kärntner, hatte man keine Chance. Aber meistens waren sie nett und höflich und bemühten sich, dass ich sie verstand. Dennoch waren sie irgendwie anders. Ich hatte das Gefühl, sie nahmen bei aller Melancholie das Leben leichter. Sie stießen niemanden vor den Kopf, gingen aber dennoch ihren eigenen Weg. Durchaus bewundernswert.
Ich schlenderte langsam weiter. Kaufte mir bei einer sehr alten Frau einen Kaffee aus der Thermoskanne und genoss die behagliche Atmosphäre des Flohmarktes.
Elektrogeräte aller Art für Küche, Werkstatt und Badezimmer interessierten mich nicht so sehr. Ebenso wenig die Klamotten. Bei den Möbeln sah es schon anders aus. Wunderschöne Schränke und Kommoden, gut erhalten, preislich eher am oberen Ende. Es war aber nicht der richtige Tag für einen Möbelkauf, dachte ich.
Dann erspähte ich mehrere Telefonapparate in verschiedenen Farben mit Wählscheibe und ein paar Schreibmaschinen. Schön nostalgisch, aber benutzen will man so etwas doch nicht mehr. Obwohl die Schreibmaschine heute eine Renaissance erleben soll. Da e-mails von jedem Verfassungsorgan beliebig mitgelesen werden, muss das gute alte Briefgeheimnis wieder her. Ein mit Schreibmaschine geschriebenes Dokument im verschlossenen Briefumschlag darf selbstverständlich nicht geöffnet werden. Da wäre die NSA ganz schön aufgeschmissen!
So ging ich weiter ohne Ziel, meinen Kaffee aus dem Pappbecher schlürfend und kam an einen Bücherstand. Alt lag neben fast neu. Taschenbuch neben Ledereinband. Romane, Erzählungen, Reiseführer, Koch- und Kinderbücher, Comics, die Bibel neben... was war das? Ein roter Einband, Format wie ein Gebetbuch, das ich noch aus meiner Kindheit als Messdiener kannte. Es war schon reichlich abgegriffen, die Ränder der Seiten vergilbt. In verblassten goldenen Lettern waren zwei Worte auf dem Einband zu lesen: Mein Kampf.
Wow! Das verbotene Buch. Jeder kennt es, keiner hat es im Bücherschrank und wenn, hat er es nicht gelesen. Der Autor der größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte, ein Massenmörder. Der Verkäufer versicherte mir fast begeistert, dass es ein Original wäre, Tornisterausgabe für Soldaten, beide Bände in einem. „Damit niemand an der Front vergaß, wer ihn in den Tod geschickt hat“, meinte er sarkastisch.
„Das darf in keinem Haushalt fehlen. Da lernst was über diesen Drecksnazi. Steht alles drin. 70 Schilling und kannst es haben.“ Seinen schwachen Dialekt konnte ich nicht einordnen. In den Neunzigern gab es noch die alten Währungen. 10 D-Mark, also etwa 5 Euro für ein Stück Geschichte. Mein Entschluss war schnell gefasst.
„60 Schilling.“ Man bezahlt auf dem Flohmarkt nie den ersten Preis. Allerdings akzeptiert auch kein Verkäufer sofort das Gegenangebot. Für 65 Schilling ließ ich das UnBuch schnell in meiner Jacke verschwinden. Es fühlte sich verboten an. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass der Besitz des UnBuches nicht strafbar war. Ansonsten würde altes Recht immer noch gelten. Wäre absurd. Ich brannte darauf hineinzusehen. Konnte mir aber nicht vorstellen, mich in ein Straßencafé zu setzen und darin zu blättern. Mich überfiel ein schlechtes Gewissen. Jeder würde mich für einen Nazi halten, obwohl ich nicht so aussah. Damals liefen Neonazis noch in Springerstiefel und mit Glatze rum. Heute hat sich das teilweise geändert, und sie geben sich oft ein bürgerliches Aussehen, um gerade junge Leute besser verführen zu können. Ich bin von Nazis innerlich wie äußerlich meilenweit entfernt. Dennoch fühlte ich mich nicht gut mit der ‚heißen Ware’ in der Tasche. Das war seltsam. Wie als Jugendlicher, als ich ständig ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich einen Polizist sah, auch wenn aktuell mal nichts gegen mich vorlag, wie Mofa frisieren oder mit Papas Auto ohne Führerschein auf einem abgelegenen Parkplatz einparken üben. Gegen mich lag hinsichtlich Naziideologie nie etwas vor. Wirklich seltsam. Ich dachte kurz über das Thema Kollektivschuld nach.
Ich bin in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen, im Wirtschaftwunder. Die Trümmer des Krieges waren beseitigt, aber auf den Straßen sah man noch häufig arm- und beinamputierte Männer. Ich war einer der vielen Babyboomer mit Eltern und Großeltern, die keine Nazis waren. Eher das Gegenteil. Sie übten, so wurde mir berichtet, den passiven Widerstand aus, verweigerten den Hitlergruß soweit möglich, traten nicht in die Partei ein, halfen Juden. Wie viele andere auch.
Ich fuhr also voller Spannung nach Hause nach Wien. In der Wohnung angekommen, legte ich das Buch auf den Wohnzimmertisch. Wieder befiel mich dieses ungute Gefühl. Ich schaute es mir von allen Seiten an. Außen stand nur der Titel, sonst nichts, kein Name des Autors oder Verlages.
Zum ersten Mal schlug ich es von Anfang an auf. Auf dem Flohmarkt hatte ich es nur schnell durchgeblättert wie ein Daumenkino. Auf dem zweiten Blatt ist zu lesen: Adolf Hitler / Mein Kampf. Zwei Seiten weiter schaut man in das Antlitz des Autors in Form eines Porträtfotos. Typische Frisur, bekannter Oberlippenbart, ernster Gesichtsausdruck. Hemd, Krawatte. Darunter eine krakelige Unterschrift. Offensichtlich die der Person auf dem Foto. Es schauderte mich. Vielleicht hätte sein Vater den ursprünglichen Familiennamen nicht ändern sollen: Adolf Schicklgruber klingt weit weniger scheußlich.
Heil Schicklgruber! Möglicherweise wäre alles anders gekommen...
Auf der Seite rechts daneben werden Titel und Autor wiederholt, bestätigt, dass es sich um zwei Bände in einem Buch handelt und der Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher, München, genannt. Nach nochmaligem Umschlagen sieht man, dass dies die 22. Auflage aus dem Jahr 1944 ist und insgesamt 10 590 000 deutsche Exemplare bis dahin aufgelegt waren. Über zehn Millionen Bücher! Da musste Hitler eine Menge Geld mit verdient haben. Wie viele Menschen das Werk gelesen hatten, ist nicht überliefert. Man nimmt allerdings an, dass es nicht sehr viele gewesen sein können, da das Buch als unlesbar gilt, weil es in einem fürchterlichen Stil geschrieben ist. Ein anderer Grund könnte sein, dass somit alle schon von den Gräueltaten gewusst hätten, die auf Deutschland, die Juden und die Welt zukommen würden und möglicherweise die Geschichte einen anderen Lauf genommen hätte. Es gibt aber Historiker, die behaupten, das Buch sei häufig gelesen worden. Dem mag so sein, darüber nachgedacht haben diese Leser dann wohl nicht. Aber dazu später mehr.
Auf dieser Seite erfährt man zudem, dass der erste Band 1925 und der zweite 1927 erschienen waren. Dann verweist das Inhaltsverzeichnis auf zwölf Kapitel und 406 Seiten im ersten Band („Eine Abrechnung“) und fünfzehn Kapitel und knapp 400 Seiten im zweiten („Die nationalsozialistische Bewegung“). Es beginnt ganz unverfänglich mit „Im Elternhaus“. Allerdings bleibt es nicht beim vermeintlich Harmlosen. Das nun auf zwanzig Seiten folgende Personen- und Sachverzeichnis vermittelt den irreführenden Anschein eines wissenschaftlichen Werkes. In Wirklichkeit untermauerte Hitler seine Aussagen fast nie mit handfesten Daten und nannte keine Quellen.
Der 1. April 1924 war ein geschichtsträchtiger Tag. Adolf Hitler trat seine Haftstrafe in Landsberg an, zu der er wegen des Putschversuches am 9. November 1923 verurteilt wurde. Er begann „Mein Kampf“ zu schreiben. Das Strafmaß sah fünf Jahre vor. Hier hätte die Ära Hitler zu Ende sein können, ja müssen. Das Gegenteil war der Fall. Zu Weihnachten desselben Jahres wurde er bereits entlassen. In der Haft, so kann man in der Hitlerbiographie von Ian Kershaw (1) nachlesen, wuchs er zu wahrer Größe heran. Er betitelte „Landsberg als meine Hochschule auf Staatskosten“. Die Leitung der Festungshaftanstalt hegte offenbar gewisse Sympathien für den späteren Diktator. Wie sonst wäre es erklärbar, dass er nicht nur eine geräumige Zelle mit Aussicht auf die bayerischen Alpen bewohnte, sondern unbegrenzten Zugang zu jeglicher Literatur hatte, die er sich wünschte? Wenn man von heutigen Insassen der Haftanstalt Landsberg hört, dass sie nur zwei Besuche pro Monat empfangen dürfen, so hatte es Hitler wesentlich angenehmer. Bei ihm war die Tür, zumindest in eine Richtung, immer offen. Er empfing Besuch, soviel er wollte, erhielt Lesestoff. Man darf sich nun nicht vorstellen, dass Hitler aus begierigem Interesse an deutscher und ausländischer Literatur die Bücher wälzte. Nach Kershaw suchte er lediglich nach Bestätigung seiner eigenen Vorurteile. Diese unterstrich er dadurch, dass er später angab die „Richtigkeit“ seiner „Anschauungen“ durch die Lektüre in Landsberg erkannt zu haben.
Ganz unverblümt schrieb er im Vorwort zu „Mein Kampf“ folgendes:
„...meine Festungshaft in Landsberg am Lech anzutreten. Damit bot sich mir nach Jahren ununterbrochener Arbeit zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde.“
Wieder beschleicht mich ein unheimliches Gefühl, als ich die Worte des Massenmörders lese. Heute würde man vermuten, der Mann litt möglicherweise an einem Burnout, das seiner Selbstüberschätzung aber keinen Abbruch tat. Von nun an glaubte er, zum Schriftsteller gereift zu sein. Die schwachen Verkaufszahlen in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre hätten ihm zu denken geben müssen. So waren bis 1929 vom ersten Band lediglich 23 000 und vom zweiten 16 000 verkauft worden. Nicht eben ein Bestseller, obwohl Hitler da bereits sehr bekannt war. Dies änderte sich freilich mit den Wahlerfolgen der NSDAP der frühen Dreißigerjahre und ganz massiv nach der Machtübernahme. 1933 wurden bereits eineinhalb Millionen Exemplare verkauft. Häufig geschah der Kauf nicht freiwillig. Ab 1936 bekam man es zur Hochzeit auf dem Standesamt geschenkt. Das bedeutete, dass die Gemeinden es vorher teuer einkaufen mussten.
Hinter dem Vorwort findet man eine schwarz umrandete Seite mit der Auflistung von sechzehn Personen, an die der Autor erinnert: „Am 9. November 1923, 12 Uhr 30 Minuten nachmittags, fielen vor der Feldherrnhalle sowie im Hofe des ehemaligen Kriegsministeriums zu München folgende Männer im treuen Glauben an die Wiederauferstehung ihres Volkes.“
Er widmet den Putschisten den ersten Band.
Kurioserweise beschäftigte ich mich ausgerechnet in Wien zum ersten Mal mit dem UnBuch. Ich gebe zu, dass ich damals über das Vorwort nicht wesentlich hinauskam. Es war eine Mischung aus historischem Unwohlsein und falscher Scham, nicht voll ausgeprägtem Interesse, Zeitmangel und natürlich der verworrenen Sprache und dem Inhalt des Textes.
Erst später kehrte ich zu der Thematik zurück und las eine Menge Sekundärliteratur, u.a. die Hitlerbiographie von Ian Kershaw, die 2009 neu aufgelegt wurde, und befragte Zeitzeugen. Anschließend begann ich mich mit dem UnBuch intensiv zu beschäftigen.
Der erste Band „Eine Abrechnung“
Die ersten Zeilen lesend ertappe ich mich dabei, unhörbar Hitlers diktatorische Stakkatostimme nachzuahmen. Ich komme innerlich außer Atem. Auch das ist seltsam, denn wenn ich ein Buch eines mir bekannten lebenden Autors lese, ahme ich nie dessen Stimme nach.