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Kapitel 2 „Wiener Lehr- und Leidensjahre“

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Der junge Hitler wurde als Bewerber an der Kunstakademie Wien zu seiner großen Überraschung abgelehnt. Angeblich erkannte man weniger sein Talent in der Malerei als in der Architektur. Letztere wurde bekanntlich sein Steckenpferd, insbesondere aufgrund seiner Vorliebe für Monumentalbauten. Aber schon auf der dritten Seite dieses Kapitels hieß es:

„In dieser Zeit sollte mir auch das Auge geöffnet werden für zwei Gefahren, die ich beide vordem kaum dem Namen nach kannte, auf keinen Fall aber in ihrer entsetzlichen Bedeutung für die Existenz des deutschen Volkes begriff: Marxismus und Judentum.“

Wir befinden uns auf Seite 20 des UnBuches. Bemerkenswert, da es viele Stimmen von Zeitzeugen gab, die behaupteten, sie hätten nichts gewusst. Ein paar wenige Seiten Literaturstudium hätten genügt. Dass das ganze Ausmaß der Massenvernichtung und der Verbrechen gegen die Menschheit erst später bekannt wurde, ist dennoch nachzuvollziehen. Zumal man sich das Elend, das Menschen anderen Menschen antaten, nicht vorstellen konnte und kann. Dennoch mag man nicht glauben, dass keiner etwas gewusst hatte, selbst wenn man die Augen ganz fest schloss.

Als Hilfsarbeiter schlug Hitler sich in Wien durch, hungerte manchmal, wohnte im Männerwohnheim und tat sich ob seines Schicksals selbst leid. Auch diese Erfahrung führte zu der Bildung einer Weltanschauung, die die Welt später erschauern ließ.

Mit dem Zeichnen von Aquarellen verdiente er sich selbstständig etwas Geld. Dies verschaffte ihm die Zeit, um sich wiederum dem Studium von Büchern und vor allem der Baukunst zu widmen. In diesen Jahren (1909 und 1910) war er überzeugt sich „dereinst als Baumeister einen Namen zu machen“. Darüber hinaus interessierte er sich für Politik, was in seinen Augen „die selbstverständliche Pflicht jedes denkenden Menschen überhaupt“ war. In diesem Sinne setzte er sich auch mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften auseinander. Er begriff die „Gewerkschaft als Instrument der Partei des politischen Klassenkampfes“. Er erkannte allerdings auch an, dass sie „als Mittel zur Verteidigung allgemeiner sozialer Rechte des Arbeitnehmers und zur Erkämpfung besserer Lebensbedingungen desselben...“ ihre Berechtigung hatte. Er vertrat die Auffassung, dass „durch unwürdige Unternehmer, die sich nicht als Glied der ganzen Volksgemeinschaft fühlen... aus dem üblen Wirken ihrer Habsucht und Rücksichtslosigkeit tiefe Schäden für die Zukunft erwachsen“.

Ein durchaus sozialer Ansatz, an den er sich möglicherweise in den ersten Jahren seiner späteren Herrschaft erinnerte. Ihm war bewusst, dass er das Volk nur manipulieren konnte, wenn es die Vorteile, die seine Machtübernahme haben sollte, erkannte und spürte. Ein Ansinnen aller autokratischen Gewaltherrscher. Er schaffte es ab 1933, die hohe Arbeitslosigkeit und das Elend der Jahre der Weimarer Republik binnen kurzer Zeit zu eliminieren. Der Preis dafür war noch unbekannt. Es ging aufwärts mit Deutschland. Nicht nur wirtschaftlich, auch psychologisch vermittelte Hitler dem Volk einen neuen Nationalstolz. Die durch den verlorenen ersten Weltkrieg und den Vertrag von Versailles geschundene deutsche Seele durfte sich wieder alter Größe bewusst werden. Arbeit, Wohlstand, Stolz und Gemeinschaft sind wichtige manipulatorische Instrumente der Autokratie. Sie waren unabdingbare Voraussetzungen für die breite Akzeptanz des Hitlerregimes. Dass dieses das deutsche Volk innerhalb weniger Jahre in den Abgrund führen würde, ahnten manche. Die Mehrheit aber wollte davon nichts wissen, wobei nicht vergessen werden darf, dass nicht nur Brot und Spiele das Volk besänftigten, sondern brutale Gewalt gegen Andersdenkende jeglichen Widerstand lebensgefährlich erscheinen ließ. Auch dies ist ein zentrales Instrument autokratischer Herrschaft. Das, als eines der ersten, bereits am 22. März 1933, also wenige Wochen nach der Machtübernahme, in einer ehemaligen Pulverfabrik in Dachau eröffnete Konzentrationslager gibt darüber Zeugnis.

Hitlers Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie gipfelte in der Aussage: „Nur die Kenntnis des Judentums allein bietet den Schlüssel zum Erfassen der inneren und damit wirklichen Absichten der Sozialdemokratie“. Belege für eine solche Behauptung lieferte Hitler freilich nicht.

Im Folgenden befasste sich Hitler mit der „Judenfrage“.

Da er zu einem krankhaften, besessenen Judenhasser wurde, ist die Frage, wann dieser Hass entstand, spannend. Es ist aber nicht einfach, die Entstehungsgeschichte dieser Ideologie lückenlos zu verfolgen. Hitler selbst schrieb, dass es in seinem Elternhaus keinen Antisemitismus gab. Bis zu seinem Umzug nach Wien wäre er mit dem Thema Judentum kaum in Berührung gekommen. Zunächst sah er „im Juden nur die Konfession und hielt deshalb aus Gründen menschlicher Toleranz die Ablehnung religiöser Bekämpfung auch in diesem Falle aufrecht“.

Hitler begann sich mit der Wiener Presse zu beschäftigen. Wie die großen Zeitungen „den Hof umbuhlten“ und „süße Lobeshymnen auf die ‚große Kulturnation’“ verbreiteten, stieß ihn ab. Bei der Kulturnation handelte es sich übrigens um Frankreich. Man bekommt fast den Eindruck, dass er ob dieser nervenden Presse regelrecht ungewollt zur antisemitischen Zeitung „Deutsches Volksblatt“ getrieben wurde. Er machte nun die „schwerste Wandlung überhaupt“ durch.

„...erst nach monatelangem Ringen zwischen Verstand und Gefühl begann der Sieg sich auf die Seite des Verstandes zu schlagen. Zwei Jahre später war das Gefühl dem Verstande gefolgt, um von nun an dessen treuester Wächter und Warner zu sein“.

Mit diesen schwülstigen Worten war Hitler zum Antisemiten geworden.

Von nun an, so schrieb er, ging er nicht mehr blind durch Wien oder schaute sich nur die Bauten an, sondern besah sich auch die Menschen. So stieß er angeblich zum ersten Mal auf „eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude? war mein erster Gedanke. So sahen sie freilich in Linz nicht aus“. Und weiter: „Ist dies auch ein Deutscher?“

Er sichtete weiterhin antisemitische Pamphlete und gab vor, dass „die Bezichtigung so maßlos sei, dass ich, gequält von der Furcht, Unrecht zu tun, wieder ängstlich und unsicher wurde“. Dieser Zynismus schmerzt beim Lesen.

Zu einer Erkenntnis kam er dennoch ohne schlechtes Gewissen. Nämlich „dass es sich hier nicht um Deutsche einer besonderen Konfession handelte, sondern um ein Volk für sich“. Er verstieg sich nun in Abscheu bis hin zu Ekel. Auf Zitierung dieser Stellen des UnBuches wird verzichtet. Die Menschenverachtung ist unerträglich.

Plötzlich sah Hitler die Welt mit den Augen des Verschwörungstheoretikers. Er hatte einen Sündenbock gefunden. Laut einer einfachen Formel hatte nun alles Schlechte und Böse einen Ursprung. Er steigerte sich in einen Hass, den er später grausam auslebte.

Eine weitere abstruse Einsicht verschaffte ihm große Befriedigung:

„Indem ich den Juden als Führer der Sozialdemokratie erkannte, begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen“.

So schaffte er für sich die Verbindung von Marxismus und Judentum.

Soweit die Ausführungen von Hitler selbst zu seiner Wandlung zum Judenhasser. Laut Kershaw gibt es aber keine verlässliche zeitgenössische Bestätigung, dass diese tatsächlich während seines Aufenthaltes in Wien stattfand. Mit dieser Weltanschauung hätte er seinen Kameraden im 1. Weltkrieg auffallen müssen. Diese konnten sich jedoch nicht an antisemitische Aussagen von Hitler erinnern. Man vermutet daher, dass sein krankhafter Judenhass erst nach dem verloren gegangenen ersten Weltkrieg entstand. Hitler wollte sich als Anführer der nationalistischen Bewegung aber den Anschein einer ausgereiften Weltanschauung geben. Da hätte es nicht gepasst, wenn er erst kurz zuvor zum Antisemiten geworden wäre. Die Wandlung in Zeiten vor dem Krieg, in seiner Adoleszenz in Wien, mag ihm adäquater erschienen sein. Er schrieb dies nach dem Putsch und seiner Verhaftung nieder. Insofern darf das UnBuch als Propagandaschrift in eigener Sache angesehen werden.

Wie auch immer, er pflegte fortan seinen Hass auf Juden.

„Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden“.

Bislang war von der Ausrottung der Juden noch keine Rede. Die so genannte „Endlösung“ ist viel später entstanden.

Die Vernichtung der Juden war zentrales Element seiner Ideologie und Politik. Über eine mögliche ‚Methode’ ließ er sich hier nicht aus.

Da der extreme Judenhass unmittelbar mit der Person Hitlers verbunden war, soll hier näher darauf eingegangen werden. Die Vernichtung kündigte er bereits in „Mein Kampf“ an. Die Art und Weise jedoch nicht. Vernichtung hätte Entfernung der Juden aus Europa bedeuten können im Sinne einer Deportation. Diese Überlegungen gab es später. Aber auch die konsequente Ermordung hätte den gewünschten Effekt gebracht. Skrupel bestanden ohnehin nicht.

Zunächst wurden durch die Nürnberger Gesetze die Juden von den Deutschen getrennt, was laut Kershaw von den einfachen Deutschen durchaus mitgetragen wurde. Nur die offene Gewalt gegen Juden wurde missbilligt. Somit erzeugte man eine judenfeindliche Stimmung im Volk, worauf viele Juden das Land verließen, sofern sie es sich leisten konnten. Aber nicht nur die allgemeine Volksstimmung trieb sie dazu, sondern auch die Gewalttätigkeiten des Mobs. Jeder, der Juden diskriminierte, arbeitete „dem Führer entgegen“ (Kershaw) und konnte mit Vergünstigungen rechnen. Aber auch andere ethnische und gesellschaftliche Minderheiten wurden zunehmend verfolgt, was insbesondere die Gestapo forcierte. Die Auswirkungen der Judendiskriminierung drückten sich auch in Wirtschaftszahlen aus: „Anfang 1933 hatte es etwa 50 000 jüdische Unternehmen in Deutschland gegeben. Im Juli 1938 waren davon nur noch 9000 Firmen übrig. Der große Vorstoß zum Ausschluss der Juden aus dem Wirtschaftleben erfolgte zwischen Frühjahr und Herbst 1938.“ (Kershaw)

Aber auch jüdische Ärzte und Anwälte wurden mit Berufsverboten belegt. Denunziantentum war in dieser Zeit Tür und Tor geöffnet. Es fand eine regelrechte Treibjagd auf Juden statt. Die ausufernde Gewalt wurde meist von militanten Parteiorganen verübt.

Hitler selbst musste diese Entwicklung in den kommenden Jahren kaum noch anfeuern. Er hatte zudem den Zusammenhang zwischen Judenvernichtung in Europa und Krieg erkannt. Kershaw schreibt zu der Lage im Jahr 1940: „Fast ohne jeden direkten Einsatz Hitlers entfaltete die Rassenpolitik ihre eigene Dynamik. Innerhalb des Reiches wuchs der Druck, Deutschland ein für allemal ‚judenfrei’ zu machen. In den Heil- und Pflegeanstalten lief das Töten der geisteskranken Insassen auf Hochtouren.“

Kershaw: „Doch die wirkliche Feuerprobe spielte sich in Polen ab. Hier hatte der rassistische Größenwahn freie Bahn.“

Man plante nun massenhafte Deportierungen von Juden in ein „jüdisches Reservat“ östlich von Krakau. Die Rede ist hier nicht von ein paar hundert oder tausend Menschen, sondern von Zahlen über einer Million. Die entsetzlichen Bedingungen, die dabei vorherrschten, kann man sich nur ansatzweise vorstellen. Kershaw: „Sadistische SS-Leute tauchten des Nachts auf, ‚säuberten’ ganze Häuserblocks und luden die Bewohner – die jeder Art von bestialischer Erniedrigung unterworfen waren – in bitterer Kälte auf offene LKWs, um sie in Übergangslager zu schaffen, von wo aus sie in ungeheizte und völlig überfüllte Viehwaggons getrieben wurden.“

Dabei verstarben zahllose Menschen elendig, was durchaus nicht unerwünscht war. Man bemerkte nun, dass die Zahl der Deportierten so hoch war, dass man ihrer kaum habhaft werden konnte. Ideen der Unmenschlichkeit wurde freier Lauf gelassen: man könnte sie einfach verhungern lassen.

Für eine kurze Zeitspanne überlegte man sich, vier Millionen Juden auf der Insel Madagaskar anzusiedeln, einer französischen Kolonie. Man wurde sich aber schnell darüber im Klaren, dass dieser Plan kaum zu realisieren war. Kershaw:

„Ihn zu verwirklichen hätte nicht nur vorausgesetzt, die Franzosen zu zwingen, ihre Kolonie zu übergeben, was eine relativ einfache Sache war. Man hätte dazu auch durch einen Sieg über die britische Marine die Kontrolle über die Meerwege dorthin erlangen müssen. Mit der Fortsetzung des Krieges war dieses Projekt ab Ende des Jahres obsolet und wurde später nie wieder aufgegriffen. Aber während des Sommers 1940 war die Idee etwa drei Monate lang von der gesamten obersten NS-Führung einschließlich Hitler ernst genommen worden.“

Es wurden auch andere territoriale Lösungen der „Judenfrage“ diskutiert, vor allem im Osten nach dem Sieg über Russland, der für den Herbst 1941 erwartet wurde. In Sibirien und anderen Gebieten mit arktischer Kälte würde sich das ‚Problem’ bald vollständig lösen. Es war geplanter Völkermord.

Kershaw: „Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, hatte bereits im März 1941 von Hitler grünes Licht erhalten, im Kielwasser der Wehrmacht die Einsatzgruppen in die Sowjetunion zu schicken. Dies sollte der ‚Befriedung’ der eroberten Gebiete durch Auslöschung ‚subversiver Elemente’ dienen.“ Heydrich instruierte seine Leute neben kommunistischen Funktionären alle Juden in Staatsstellungen zu liquidieren. Bei der Interpretation dieser Anweisung hatten die Männer jegliche Freiheiten. Somit wurden tausende Unschuldige grausam erschossen. Auch die Wehrmacht beteiligte sich an den Massakern zur Bekämpfung des „jüdischen Bolschewismus“.

Kershaw: „In einem Einsatzgruppenbericht Mitte August hieß es: ‚Das Verhältnis zur Wehrmacht ist nach wie vor ohne jede Trübung. Vor allem zeigt sich in Wehrmachtskreisen ein ständig wachsendes Interesse und Verständnis für die Aufgaben und Belange sicherheitspolizeilicher Art. Dies war gerade bei den Exekutionen in besonderem Maße zu beobachten.’“

Auch die oberste Führung der Wehrmacht, einschließlich des Chefs des Oberkommandos, Wilhelm Keitel, unterstützte und förderte das Eingreifen gegen Juden. Die Umsetzung der Naziideologie fand ohne Zweifel auch durch die Armee statt.

Kershaw: „Aus Feldpostbriefen von der Front geht hervor, dass zahlreiche Soldaten kaum davon überzeugt werden mussten, dass gnadenloses Vorgehen gegen Juden gerechtfertigt sei. Seit Jahren waren sie zum Thema Juden in der Schule und in der Hitlerjugend unaufhörlicher Indoktrination ausgesetzt.“ Der Glaube an den „Führer“ war bei vielen unerschütterlich.

Nicht nur Männer, auch Frauen und Kinder wurden erschossen, denn sie galten als die Zukunft und mögliche Rächer der Juden. Die Tötungstechnik wechselte wegen der ständig steigenden Zahl von Opfern vom Gewehr zur Maschinenpistole.

Die ersten Hinweise für eine „Endlösung“ gab es in einem „Memorandum, das am 16. Juli 1941 vom Chef des Sicherheitsdienstes (SD) in Posen, SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, an Adolf Eichmann im Reichssicherheitshauptamt geschickt worden war...“. (Kershaw)

„Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnell wirkendes Mittel zu erledigen.“ Noch ging aber das ‚Töten von Hand’ weiter und die Lösung wurde in der Deportation gesucht.

In Deutschland wurde am 1. September 1941 das Tragen des „Davidsterns“ angeordnet. Juden sollten auch optisch diskriminiert werden. Kershaw weist darauf hin, dass „nicht alle Deutschen in gleicher Weise wie die eingefleischten Nationalsozialisten reagierten. Es gab zahllose Anzeichen von Entsetzen und Ablehnung sowie von Sympathie für die Opfer im Zusammenhang mit der Einführung des Gelben Sterns. Es ist unmöglich zu sagen, welche Reaktion typischer gewesen war. Auf jeden Fall war es gefährlich, den Juden offen Anteilnahme zu bezeugen.“

In Polen und Russland begannen lokale SS-Führer ihre eigene „Endlösung“ herbeizuführen und setzten die Ermordung tausender Juden weiter fort. Der gesamte Irrsinn dieses Vorgehens gipfelte in Überlegungen Giftgas einzusetzen. Dies wäre effizient, weniger öffentlich und belaste die Mörder auch weniger als die Massenerschießungen (Kershaw). Das Giftgas Zyklon B wurde zuerst gegen sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. „Seit Sommer 1942 wurde es für die Ausrottung der Juden Europas verwendet, die zugweise direkt in die Mordfabrik von Auschwitz-Birkenau transportiert wurden.“ (Kershaw)

Mit der Deportation der Juden aus Deutschland begann die Tötungsmaschinerie. Es wurden weitere KZs errichtet und „Experten für Vergasungstechniken“ konsultiert. Diese hatten Erfahrung mit Euthanasieaktionen.

Hitler musste selbstredend seine Zustimmung zu dem Völkermord geben. In der Öffentlichkeit hetzte er zwar gegen Juden, hielt sich aber mit ausdrücklichen Aufforderungen zum Genozid zurück. Seine Hassreden implizierten dies zwar, aber er spürte wohl, dass das deutsche Volk nicht hinter der Massenermordung stand.

Am 20. Januar 1942 fand eine Konferenz über die „Endlösung“ am Wannsee in Berlin statt. Das Vernichtungsprogramm der Juden durch Zwangsarbeit und Hunger wich schnell dem Plan, sie systematisch auszurotten.

Kershaw: „Ende 1942 waren, nach eigenen Berechnungen der SS, bereits vier Millionen Juden tot.“

Hitler hatte im Vorfeld unmissverständlich klar gemacht, wie das Schicksal der Juden auszusehen hatte: Vernichtung und Ausrottung in Europa. Daher musste er an der Wannseekonferenz nicht teilnehmen. Es waren die Architekten des Holocaust anwesend: Heydrich leitete die Konferenz, da er von Göring den Auftrag erhalten hatte, die „Endlösung der Judenfrage“ vorzubereiten. Adolf Eichmann, Leiter des Referates „Judenangelegenheiten“ fertigte das Protokoll an. Weiterhin waren anwesend Vertreter der Ministerien des Inneren, der Justiz, für Propaganda, für die besetzten Ostgebiete, des Außenministeriums, der Reichskanzlei, der Parteikanzlei, des Amts für den Vierjahresplan sowie die Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement und Lettland, Karl Schöngarth und Rudolf Lange; das Reichssicherheitshauptamt vertraten Heinrich Müller, Chef der Gestapo, und Eichmann. (Kershaw)

Nach Hitlers Ansicht, so berichtete Goebbels, mussten die Juden aus Europa raus, wenn nötig unter Anwendung der brutalsten Mittel. Goebbels war es auch, der damit rechnete, dass etwa 60 Prozent liquidiert werden müssen, während nur 40 Prozent zur Arbeit eingesetzt würden. Er bezeichnete das Vorhaben als barbarisch, aber sie hätten es verdient. (Kershaw)

Das alte Feindbild wirkte weiter. Die angebliche Gefahr selbst vernichtet zu werden, verbot jegliche Sentimentalität. Der Hass, den Hitler seinem Volk über Jahre eingebläut hatte, übertrug sich der Gestalt, dass viele bereitwillig mitwirkten. Kershaw:

„Die Mitschuld vieler war ungeheuer. Das reichte von der Wehrmachtsführung und den Chefs der Industrie bis hinab zu den Parteirabauken und den gehorsamen Bürokraten. Es folgten gewöhnliche Deutsche, die aus der Deportation und Verfolgung einer hilflosen und unbeliebten Minderheit materielle Vorteile zu ziehen bereit waren. Diese Minderheit war dazu verdammt, als der unerbittliche Feind der neuen ‚Volksgemeinschaft’ angesehen zu werden.“

Ohne Hitler hätte es die physische Ausrottung der Juden in Europa nicht gegeben.

Dazu benötigte er eine Menge Helfer, wie Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch darstellt (2). Diese fand er aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern, vor allem während der Feldzüge Richtung Osten. Dennoch fragt man sich, ob der Holocaust nur in Deutschland hat stattfinden können, oder ob er auch in anderen Staaten möglich gewesen wäre. Eine annähernde Antwort, die man bei Goldhagen findet, ist, dass es in keinem anderen Land diese Voraussetzungen gegeben hatte. In Deutschland war ein Regime an der Macht, das die Vernichtung der Juden zum Staatsziel gemacht hat. Auf dem Höhepunkt ihrer Überlegenheit in Europa warf man die Mordmaschinerie an. Niemand konnte diese stoppen. Kein Land war politisch oder militärisch in der Lage, auf Deutschland einzuwirken. Zudem war der Antisemitismus verbreitet. Die Gründe, warum eine radikale Partei wie die NSDAP an die Regierung kam, beschreibt Goldhagen treffend: „Die Nationalsozialisten gelangten an die Macht, weil mehrere Faktoren zusammenkamen: die Wirtschaftskrise; die Sehnsucht nach einem Ende der Unordnung und der organisierten Gewalt auf den Straßen, unter denen die Weimarer Republik zu leiden hatte; die angeblich drohende Machtübernahme der Linken; die visionäre Ideologie der Nationalsozialisten und schließlich Hitlers Persönlichkeit. Sein flammender, offen gezeigter Hass zog viele unwiderstehlich an, zumal in einer Zeit des politischen und wirtschaftlichen Chaos, das zweifellos die unmittelbare Ursache für den letztendlichen Sieg der NSDAP war. Viele Deutsche stimmten für die Partei, weil sie in ihr die einzige Kraft sahen, die fähig schien, Ordnung und sozialen Frieden wiederherzustellen, Deutschlands innenpolitischen Feinde zu bezwingen und seine außenpolitische Großmachtstellung zurückzuerringen.“

Wie dargestellt, machten die meisten Deutschen gerne bei der Diskriminierung der Juden mit. Den Tötungsplan hätten sie wohl nicht mitgetragen. Es war aber ein fruchtbarer Boden dafür geschaffen. Das darf man nicht vergessen, auch heute nicht. Ohne das entsprechende Umfeld sind extremistische Entwicklungen nicht möglich.

Goldhagen beschreibt, dass aufgrund dieses Umfeldes unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers die antijüdischen Maßnahmen begannen. Allein durch den Boykott jüdischer Geschäfte wurde jedem Bürger die Entschlossenheit des Regimes demonstriert. Das lukrative Prinzip des ‚dem Führer entgegen arbeiten’ ermöglichte eine sehr rasche Verbreitung einer antijüdischen Haltung in der Bevölkerung. Um dem Führer gefällig zu sein, waren viele Deutsche bereit Juden zu denunzieren, zu boykottieren und zu attackieren. Aber ohne eine entsprechende Grundhaltung, die bereits zuvor bestand, war dies nicht möglich. Aktiv gegen Juden sind nicht alle vorgegangen. Diese Deutschen hatten eine Einstellung entwickelt, die ihnen diese Unmenschlichkeit verbot. Von der „Reichskristallnacht“ in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schreibt Goldhagen, dass hauptsächlich die brutalen Schläger der SA die Juden angriffen, Synagogen nieder brannten und Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte zertrümmerten. Aber auch zahlreiche ‚Normalbürger’ machten mit und schlugen zu.

Solch enthemmte Bürger erinnern unwillkürlich an die Angriffe auf ein Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter im Jahr 1991 in Hoyerswerda. Hunderte ‚Normalbürger’ klatschen dem Nazigewalttätern Beifall, als sie Molotowcocktails und Steine in Tötungsabsicht auf das Heim warfen. Noch mehr Bürger beklatschen die Verbrecher in Rostock-Lichtenhagen 1993 bei einem ähnlichen Angriff. Zudem wurden Feuerwehr und Polizei behindert, soweit sie sich nicht in unglaublicher Weise von alleine zurückzogen. Diese Menschen haben Schande über Deutschland gebracht. Glücklicherweise demonstrierte eine weitaus größere Zahl von Menschen später gegen diese verbrecherischen Aktionen.

Solche Pogrome, ob in den dreißiger oder neunziger Jahren, hinterlassen in einer Gesellschaft tiefe Spuren. In Nazideutschland hätten die Bürger noch die Möglichkeit gehabt, sich mit den Juden zu solidarisieren, schreibt Goldhagen. Aber der Hass war größer. Im wiedervereinigten Deutschland zeigten viele Deutsche ihre Anteilnahme mit den Opfern und ihre Abscheu gegenüber den Tätern und begeisterten Mitläufern. Als es aber rund zwanzig Jahre später eine unheimliche Mordserie in ganz Deutschland an ausländischen Mitbürgern gab, zogen die Behörden faschistisches Gedankengut gar nicht erst in Betracht bzw. verdrängten es bewusst.

Nachdem heute wieder Flüchtlingsheime angezündet werden und ein Mob aus einfachen Bürgern jubelnd dabei steht, nachdem der Rechtsterror beispielsweise in Freital weiterlebt, müsste ein jeder in Deutschland verstanden haben, welche Gefahr von rechts ausgeht.

Wenn man die Maßnahmen gegen Juden, die Goldhagen auflistet, liest, kommt man auf den Gedanken, dass in heutigen gewaltherrschaftlichen, totalitären Systemen mit den so genannten Feinden ähnlich umgegangen wird:

Verbale Angriffe

Physische Angriffe

Gesetzliche und administrative Maßnahmen zur Isolierung der Juden von Nichtjuden

Abdrängen der Juden in die Emigration

Zwangsdeportation und „Umsiedlung“

Physische Ausgrenzung in Ghettos

Ermordung durch Hunger, Entkräftung und Krankheiten (vor dem Beginn des systematischen Genozids)

Zwangsarbeit und Vernichtung durch Arbeit

Völkermord durch Massenerschießung, systematischen Hungertod und Vergasungen

Todesmärsche

Es fällt auf, dass die ersten beiden Aktivitäten von hassgetriebenen Teilen der Bevölkerung ausgehen. Ein gesellschaftlicher Boden, der spätere unrechtsstaatliche Maßnahmen gedeihen lassen kann.

Goldhagen postuliert, dass die Juden in Deutschland bereits 1939 „sozial tot“ waren. Dies hätte bedeutet, dass die Deutschen ihnen nicht mehr moralisch verpflichtet gewesen wären, da sie ohnehin kaum noch existierten. In der Folge muss man annehmen, dass das fürchterliche Schicksal, das die Massenvernichtung für jeden einzelnen Juden mit sich brachte, im Heimatland erfolgreich verdrängt oder wenig beachtet wurde. Man hatte durch die Reichskristallnacht und nicht zuletzt durch das UnBuch durchaus das Wissen über die Absichten des Hitlerregimes. Darüber hinaus erreichten Deutschland immer mehr Briefe und Berichte von der Front, die über die Massentötungen berichteten.

Viele unglückliche Umstände machten den Holocaust möglich. Viele machten mit. Ausgerechnet in Deutschland.

70 Seiten des UnBuches sind nun bearbeitet. Mit Schrecken und Kopfschmerzen. Es ist nicht einfach Bezüge zur heutigen Welt herzustellen. Mit der Kenntnis der Geschichte fällt ein Urteil leicht. Man weiß nun, wozu Hitlers Hass und Menschenverachtung geführt haben. Allerdings fällt eben dieser Hass auf, der auch heute Grundlage jeder gewaltbereiten Gruppierung ist. Und die Rechtfertigung des Hasses öffnet auch heute die Tür zu Gewalt und Vernichtung.

Der Antisemitismus ist keine Erfindung Hitlers. Judenverfolgung gab es schon im Mittelalter und früher. Rationale Gründe sind dafür nicht zu finden. Es wurden Eigenschaften angeführt wie besondere Intellektualität, Wirtschaftspraktiken oder bestimmte Sitten. Selbstverständlich sind dies keine haltbaren Theorien, die eine Verfolgung begründen. Es ist eher anzunehmen, dass die Tatsache, dass Juden als Minderheit unter Völkern lebten, dazu führte, sie immer wieder zu Sündenböcken zu machen, indem man die Schuld für Missstände jeglicher Art auf sie schob. Ein beliebtes Vorgehen, um von eigenem Unvermögen abzulenken. Es wurden auch Gründe für die Abneigung angeführt, wobei man die Voraussetzungen in der Gesellschaft selbst geschaffen hatte. Beispielsweise warf man ihnen in vielen Zeiten ihre Tätigkeit als Geldverleiher vor, nachdem man ihnen zuvor den Erwerb von Grundbesitz, die Ausübung handwerklicher und vieler anderer Berufe untersagt hatte. Gleichzeitig war Christen das Einnehmen von Zinsen verboten. Viele berufliche Alternativen blieben den Juden somit nicht. Ihnen dann aber vorzuwerfen, dass sie aus ihren wenigen Möglichkeiten geschäftliche Erfolge machten, ist schäbig und hinterhältig.

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es wieder judenfeindliche Strömungen in Mitteleuropa. Eine Weltverschwörung blieb unbewiesen, weil sie nie existierte, aber es entwickelte sich der Nährboden für die Entstehung eines Feindbildes, für Hass und Gewalt. Ohne ein entsprechendes Umfeld kann eine Ideologie nicht gedeihen. Ein jeder, der heute über einen gemeinen ausländerfeindlichen Witz lacht, sollte sich darüber im Klaren sein. So entsteht ein Bewusstsein in der Bevölkerung, das sich moderne Despoten zu Nutze machen. Die Formel ist simpel und damit gefährlich: Der Andere ist schuld und die Lösung ist Gewalt.

Wenn man darüber nachdenkt, erscheint es abscheulich.

Was aber, wenn man nicht darüber nachdenkt...?

Zuweilen wird diese Formel heutzutage gegen Flüchtlinge angewandt. Nur woran sollen sie schuld sein? An den Verhältnissen in ihrem Heimatland etwa? Das Phänomen der aktuellen Flüchtlingssituation stellt jeden Staat vor große Herausforderungen. Die einfache Lösung gibt es nicht. Maxime sollte jedoch für jeden Politiker und Bürger die Menschlichkeit sein.

Nicht Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuelle Neigung bestimmen den Menschen. Sein Handeln ist ausschlaggebend.

Deutschland ist ein offenes, freies, buntes und demokratisches Land. Das muss es bleiben. Völker in Europa, die sich vor 150, 100 und 75 Jahren auf dem Schlachtfeld gegenseitig töteten, sind heute Freunde und gute Nachbarn. Eine historische Errungenschaft, die zwar im Jahr 2012 mit dem Friedensnobelpreis anerkannt wurde, aber zuweilen mit Füßen getreten wird. Niemand möchte Krieg. Beständiger Frieden ist aber nicht selbstverständlich.

Darüber möge ein jeder nachdenken.

Seinkampf

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