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Deutsche Demokratische Republik, Berlin, 5.3.1952

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Das Schlimmste an dem Auftrag ist ihr Deckname: Herta Müller. Sie hasst diesen Namen. Ihre Lehrerin auf der Volksschule hieß so und sie war eine Hexe. Hat sie ständig gegängelt, sie immer drangenommen, wenn sie nichts wusste, hat sie dreimal am Tag in die Ecke gestellt und ihr mindestens einmal die Woche die Eselsmütze aufgesetzt. Die alte Müller hat sie gehasst, weil sie immerzu Fragen gestellt hat und weil ihr Vater Kommunist war. Und sie hat ihren Vater denunziert.

Wie sehr sie auch diesen Namen hasst, sie muss sich selbst so nennen, damit sie ihre Beute täuschen kann. Sie muss den Namen in ihrem Unterbewussten verankern, damit sie unwillkürlich reagiert, wenn er gerufen wird. Aus Anna Münzinger wird Herta Müller.

Den Namen hat ihr Oberst Jukowski verpasst. Der Name soll für Durchschnitt stehen. Alles an Herta Müller soll Durchschnitt sein: Größe, Gesicht, Haare. Wer sie beschreibt, wird eine Frau gesehen haben, wie sie es zu Tausenden gibt. Das macht sie fast unsichtbar. Sie trägt einen knielangen mittelbraunen Rock, ebenso braune Lederschuhe mit wenig Absatz. Sie hat sich dezent geschminkt, sie soll auf keinen Fall in irgendeiner Weise hervorstechen.

Anna steigt in die Straßenbahn, löst eine Karte nach Zehlendorf. Ihre Beute trifft sich mit ihr im Kaffeehaus Bertelmann an der Ecke Schellingstraße und Barer Straße. Es ist das vierte Treffen, und heute muss es gelingen. Eigentlich viel zu früh, aber die Überwachung Auerbachs hat ergeben, dass er in wenigen Tagen nach Düsseldorf ausgeflogen wird. Dort ist er außer Reichweite. Deswegen hat sie sich auch den Nachmittag freigenommen, damit sie sich mit Auerbach treffen kann.

Sie greift in die Manteltasche, fühlt das Glasfläschchen. Sie muss vorsichtig sein. Joseph Auerbach ist misstrauisch. Kein Wunder. Er ist ein Mörder und hat viel zu verlieren. Aber die Amis schützen ihn, haben ihn reingewaschen, weil sie ihn brauchen. Er ist Ingenieur für Wassertechnik, maßgeblich am Aufbau der Berliner Wasserversorgung beteiligt. Jetzt soll er das Gleiche in Düsseldorf machen und danach im Ruhrgebiet. Es gibt nur noch wenige Spezialisten in Deutschland auf diesem Gebiet.

Die Bahn rumpelt vorbei an Trümmern. Es geht langsam voran. Nicht einmal zehn Prozent des Schutts sind beseitigt, es fehlt an schwerem Gerät. Also müssen alle ran. Vergangenen Sonntag ist wieder Trümmertag gewesen. Anna spürt noch immer jeden einzelnen Knochen. Die ganze Nachbarschaft hat von morgens bis abends Steine geschleppt. Vor dieser Arbeit kann sie sich nicht drücken, das würde Verdacht erregen.

Anna geht ihren Plan in Gedanken durch, immer wieder. Sie muss Auerbach dazu bringen, einen Spaziergang mit ihr zu machen. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, hin zu einem ganz bestimmten Ort. Sie kennt Auerbachs Gewicht, sie hat das Morphin-Scopolamin so dosiert, dass Auerbach nach dreißig Minuten das Bewusstsein verliert. Zehn, vielleicht fünf Minuten vorher wird er die Wirkung spüren. Dann wird er unruhig werden, vielleicht Alarm schlagen. Die Amerikaner haben ein Merkblatt herausgegeben, woran man den Versuch einer Entführung erkennen kann. Die Wirkung von Morphin-Scopolamin und anderer Drogen ist darauf genau beschrieben. Das Zeitfenster ist eng, verdammt eng. Aber sie wird ihn da packen, wo sich alle Männer packen lassen.

Die Bahn hält, sie muss aussteigen. Das Kaffeehaus liegt direkt um die Ecke. Sie geht los. Auf der anderen Straßenseite steht ein groß gewachsener Mann in grauem Anzug und betrachtet ein Schaufenster. Sie kennt ihn nicht, aber er verhält sich seltsam. Schaut zu ihr, dann wieder auf das Schaufenster. Zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Zündet sie an. Ein Zeichen an eine Greiftruppe? Ist sie enttarnt? Hat Auerbach etwas gemerkt? Wieder dreht sich der Mann um, späht die Straße hinunter. Eine Frau tritt aus einem beschädigten Haus. Der Mann wirft die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, tritt sie aus. Er muss gut betucht sein, wenn er so verschwenderisch mit Zigaretten umgeht. Ein Kippensammler wird sich freuen. Die Frau fliegt ihm in die Arme, sie küssen sich leidenschaftlich, gehen Arm in Arm davon. Fehlalarm.

Die anderen Passanten benehmen sich unverdächtig, dennoch beobachtet sie jeden und alles. Das kostet Kraft. Sie kann diese Konzentration nicht den ganzen Tag aufrechterhalten. Auf eine Rückendeckung hat sie verzichtet. Zu gefährlich. Zu leicht erkennbar und letztlich sinnlos. Eine Waffe darf sie nicht tragen, würde sie damit erwischt, wäre sie erledigt. Es gibt immer wieder spontane Kontrollen, ganze Viertel werden abgesperrt, keiner kann entkommen.

Anna geht weiter, überquert die Straße, kehrt um. Niemand bleibt plötzlich stehen oder ändert die Richtung. Sie biegt um die Ecke, das Kaffeehaus ist so gut wie unbeschädigt. Nicht eine Scheibe ist zu Bruch gegangen in den Bombennächten. Ein Wunder. Als sie es betritt, schlagen ihr beißender Zigarettenqualm und die gedämpften Stimmen der Gäste entgegen. Irgendjemand schmaucht Pfeife, der angenehme, würzige Geruch dämpft ein wenig den der scharfen Zigaretten. Anna raucht nicht, und der Qualm macht ihr nicht wirklich etwas aus. Er ist nicht schlimmer als die abgasgeschwängerte Luft, die oft über der Stadt hängt, wenn das Wetter ungnädig ist und einen Deckel aus kalter Luft über Berlin stülpt, der den Luftaustausch unmöglich macht. Das Wetter ändert sich immer wieder, doch das Misstrauen, die Angst und das Vergessen-Wollen, die über der Stadt und dem ganzen Land liegen, ändern sich nicht. Wenn sie Auerbach fangen kann, wird sie dazu beitragen, dass ein wenig Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wach bleibt, Erinnerungen, die im Westen unter Schweinebraten, Nylonstrümpfen und Autos erstickt werden. Sie lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen. Kellner huschen zwischen den Tischen hin und her, hier muss niemand lange auf seine Bestellung warten. Sie entdeckt den Pfeifenraucher. Feistes Gesicht, runde Hüften, Kugelbauch. Vor ihm steht ein Teller mit drei Stück Kuchen, eines davon bereits zur Hälfte gegessen. Der Mann scheint zufrieden. Seine Seele fühlt sich wohl, eingehüllt in Tabak, Zucker und Fett. An einem anderen Tisch tuscheln drei junge Frauen miteinander. Sie sind modisch gekleidet, in Pariser Chic, ganz Dior: Wellenlinien, leichte Stoffe, die am Körper hinabfließen, weiche, runde Formen. Sie sind schön anzusehen. Anna gefällt diese neue Weiblichkeit, doch sie selbst kann solche Kleider nicht tragen. Sie muss eine graue Maus sein, für die sich niemand umdreht. Jeder Tisch ist besetzt, an einem sitzen Männer im Frack. Anna fragt sich, warum sie um diese Tageszeit so gekleidet sind. Vielleicht haben sie sich hier verabredet, um gemeinsam zu einem Empfang zu gehen? Nicht ihr Problem. Niemand scheint verdächtig.

Auerbach hat sie noch nicht entdeckt. Er sitzt am Fenster in einem Sessel und ist in die Tageszeitung vertieft. Anna ist zehn Minuten zu früh, er rechnet noch nicht mit ihr.

Sie tritt von hinten an ihn heran. »Ist hier noch ein Platz frei?«

Die Zeitung fällt raschelnd auf den runden Marmortisch, Auerbach springt auf, in seinem Gesicht mischen sich Freude und Verlegenheit. »Herta, wie schön, Sie zu sehen, aber selbstverständlich.«

Sie beugt sich zu ihm hin, schließt die Augen, gibt ihm zu seiner Überraschung einen leichten Kuss auf die Lippen. Sie sind weich und trocken, Gott sei Dank. Sie spürt leichte Übelkeit aufsteigen. Er riecht nach Moschus, er muss auf dem Schwarzmarkt einkaufen, so etwas gibt es nicht in den Kaufhäusern.

»Setzen Sie sich doch.« Er zeigt auf den anderen Sessel. Roter Plüsch. »Was darf ich Ihnen bestellen?«

Anna zieht den Mantel aus, Auerbach will ihn nehmen, um ihn an die Garderobe zu hängen, aber sie schüttelt den Kopf. »Lisa ist neulich der Mantel gestohlen worden.«

Auerbach zieht die Hand zurück. »Sie haben recht, man kann nie vorsichtig genug sein. Die Stadt ist voller Diebe.«

Und voller Menschen, denen das Nötigste fehlt. Sie ist erstaunt, dass es nicht viel mehr Überfälle gibt, dass sich die Vergessenen nicht zusammentun, um ihr Recht auf ein würdiges Leben durchzusetzen. Anna nimmt Platz, drapiert den Mantel über der Lehne. Auerbach rückt seinen Sessel noch etwas näher an ihren, dann lässt er sich in seinen Sessel gleiten. Er ist schlank, kein Gramm Fett zu viel, er hält sich fit, und er sieht nicht schlecht aus. Stattlich, dennoch jungenhaft. Und vor allem harmlos, als könne er kein Wässerchen trüben. Anna weiß es besser.

»Was möchten Sie?«

»Eine heiße Schokolade bitte. Ganz dunkel.«

Er winkt einem Kellner, der sofort an ihren Tisch kommt, Auerbach gibt die Bestellung auf: eine Tasse Brühkaffee für sich, extrastark und schwarz, die heiße Schokolade für Anna, extradunkel.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt Auerbach. »Hat Ihr Chef ein Einsehen gehabt?«

Annas Deckarbeitsplatz ist ein kleines Versicherungsbüro. Sie arbeitet dort als Sekretärin. Auerbach hat sie erzählt, dass ihr Chef sie auch samstags bis sieben Uhr arbeiten lässt. Auerbach hat schon zweimal angerufen, um sie zu sprechen. Sie ist sich sicher, dass er prüfen wollte, ob es dieses Büro überhaupt gibt. Er hat es sich von außen angesehen und sogar jemanden geschickt, der eine Versicherung abgeschlossen hat. Seitdem hat er mehr Vertrauen gefasst. Sie geht davon aus, dass er ihre Deckidentität geschluckt hat. Die Westpresse ist voll mit reißerischen Artikeln über Entführungen Unschuldiger. Alles gelogen. Anna weiß es. Sie hat schon viele Naziverbrecher und Landesverräter gefasst und ihrer gerechten Strafe zugeführt. Der Westen aber macht sich nach wie vor mit Nazi-Verbrechern gemein. Die Nürnberger Prozesse haben nur den Schaum der Nazijauche abgeschöpft.

»Ja. Ich muss jetzt nur noch bis fünf arbeiten. Eine große Verbesserung«, antwortet sie fröhlich.

Die Getränke kommen. Die Schokolade dampft, so heiß ist sie, der Kaffee ebenfalls. Das Kaffeehaus hat keine Heizung. Im hinteren Teil befindet sich ein Kaminofen, der aber nicht befeuert wird. Kohle ist teuer, Holz gibt es überhaupt nicht, die Gasleitung ist noch nicht repariert.

Anna kostet. Die heiße Schokolade ist dick und herb, schmeckt leicht bitter nach Kakao. So hat ihre Mutter sie früher gemacht, bevor die Nazis sie verschleppt haben. Da war Anna zehn Jahre alt. Nur ein Jahr später war ihr Vater weg. Ihr Großvater hat sie bei Nacht und Nebel nach Frankreich gebracht. In der Nähe von Bordeaux war eine Anlaufstelle für deutsche Kommunisten. Dann er ist ins Reich zurückgekehrt. Weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater oder ihrem Großvater hat sie je wieder gehört. Sie atmet tief durch, muss aufpassen, dass sie nicht wehleidig wird, das vernebelt die Sinne. Sie kann es sich nicht leisten, unaufmerksam zu sein.

Auerbach nippt an seinem Kaffee, schaut sie über den Tassenrand hinweg an. »Am Sonntag, äh«, er errötet, »hätten Sie Lust, mit mir und Freunden einen Ausflug zu machen?«

Anna setzt ein erfreutes Gesicht auf, sie weiß, dass es echt wirkt. Vor dem Krieg hat sie Schauspiel studiert. »Aber ja. Gerne. Wohin soll es denn gehen?«

»Ich habe Ihnen doch von Norbert erzählt. Er hat ein Segelboot, wir machen eine kleine Tour über die Spree, vorausgesetzt, das Wetter hält.«

Anna greift nach Auerbachs rechter Hand, drückt sie, er erwidert die Berührung leicht. Auch seine Hände sind trocken. Er ist vollkommen entspannt. Wieder steigt leichte Übelkeit auf. »Das wäre wunderbar! Und schlechtes Wetter macht mir nichts aus. Mein Mantel ist wasserdicht.«

Auerbach lächelt milde. »Der würde nicht viel nutzen auf dem Wasser. Aber es ist gut, wenn Sie wetterfest sind. Die nötigen Kleider habe ich noch von meiner Frau. Die müssten Ihnen passen.«

Anna ist überrascht. Er hat noch nie von seiner Frau erzählt. »Ihre Frau …«

»Sie ist tot. Bombennacht. Ich war freiwilliger Helfer bei der Feuerwehr. Die Bombe hat den Keller getroffen. Niemand hat überlebt.«

Anna drückt seine Hand fester. »Es sind so viele ums Leben gekommen.«

Er lächelt noch immer. »Aber jetzt ist es ja vorbei, und das Leben geht weiter.«

Auerbach ist ein guter Lügner. Er war nie bei der freiwilligen Feuerwehr. Und er war auch nie verheiratet. Er hat in den letzten Tagen des Krieges Hunderte Kinder in den Tod geschickt und Dutzende Männer erschießen lassen, die sich geweigert hatten, als Kanonenfutter zu sterben. Bevor ihn die Russen schnappen konnten, ist er geflohen und hat sich den Amerikanern ergeben.

»Wie furchtbar«, haucht Anna.

»Ja, aber wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Das macht es leichter.«

Anna seufzt tief. »Ich bewundere Sie, dass Sie nicht verbittert sind.«

Auerbach legt seine andere Hand auf ihre. »Wir müssen vergeben, so wie uns vergeben wird. Ist es nicht so«?

»Ja, so ist es. Nur so kann wirklicher Friede einkehren.«

Auerbach nickt wissend, er erhebt sich. »Entschuldigen Sie mich einen Moment. Der Kaffee …«

Beide lachen. Er hat eine schwache Blase, auch das weiß Anna. Sie schaut Auerbach nach, er muss aus dem Café raus und über den Hof gehen, wo die Toiletten untergebracht sind. Ihr bleibt genug Zeit. Noch einmal überzeugt sie sich, dass er das Kaffeehaus verlassen hat. Noch einmal schaut sie sich die anderen Gäste an. Wenn ein Agent darunter ist, wenn es eine Falle ist, hat sie bereits verloren. Sie verdeckt das Fläschchen mit der einen Hand so, dass es niemand sehen kann, und beugt sich über den Tisch. Es sieht aus, als wolle sie das Zuckerdöschen nehmen. Die K.-o.-Tropfen plätschern in den Kaffee. Der ist so bitter, dass Auerbach nichts schmecken wird. Sie lässt das Fläschchen verschwinden, nimmt einen Löffel Zucker und gibt ihn in den Kakao. Die Wolkendecke bricht auf, die Sonne kommt heraus. Besser kann es nicht werden.

Auerbach kehrt zurück, setzt sich, nimmt einen Schluck Kaffee. Anna schaut aus dem Fenster, dann in Auerbachs Gesicht. Sie weiß, wie man ohne Worte eine Verheißung ausdrückt. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?«

Auerbachs Augenlider zucken einmal. Jetzt laufen Bilder in seinem Kopf ab, jetzt stellt er sich vor, was auf einem Spaziergang im Frühling und auf einem Trümmergrundstück so alles passieren kann. Er hat schon länger keine Frau mehr gehabt. Zu Prostituierten geht er nicht. »Das ist unter meiner Würde«, hat er zu einem Freund gesagt. Unsere Spitzel leisten gute Arbeit, denkt Anna. Vor allem die, die aus Überzeugung handeln, die ein Gewissen haben.

»Gerne.« Er ordert die Rechnung, bezahlt, gibt reichlich Trinkgeld, hilft Anna in den Mantel, für den Bruchteil einer Sekunde taxiert er ihre Figur, Anna sieht, wie seine Augen an ihrem Körper hinauf- und hinuntereilen. Er hat einen Blick für die Formen einer Frau, auch durch unscheinbare Bekleidung hindurch. Für einen winzigen Moment bleiben seine Augen auf ihren Brüsten haften. Sie hat ihn an der Angel.

Sie verlassen das Kaffeehaus, Anna hakt sich ein, lässt ihre linke Hand in Auerbachs rechte gleiten, sie dirigiert ihn mit kaum merklichen Bewegungen, drückt immer wieder ihre Hüfte gegen seine, wenn er einen Scherz macht. Er hat Sinn für Humor, ist bei seinen Bekannten und Freunden beliebt, er ist großzügig, hilfsbereit. Alle werden sagen: »Das hätte ich nie gedacht, dass dieser nette Mann so ein Ungeheuer war.«

Schweigen kehrt ein, sie verstehen sich auch ohne Worte. Jede Bewegung, jeder Blick drückt aus, worauf es heute hinauslaufen soll: eine schnelle Nummer, heimlich in einem Keller oder zwischen eingestürzten Mauern. Anna unterdrückt den Impuls, auf die Uhr zu sehen. Sie muss die Zeit schätzen. Zehn Minuten sind vergangen, seit sie das Kaffeehaus verlassen haben, vielleicht fünfzehn. Es wird Zeit. Sie biegt rechts ab, die Straße ist zwar geräumt, aber rechts und links türmen sich Schuttberge, Wege sind zu den Grundstücken angelegt, Schilder warnen vor Einsturzgefahr: »Betreten verboten!«. Viele Tote hat es dieses Jahr gegeben, erschlagen von plötzlich herabstürzenden Mauern. Aber Herta Müller kennt sich aus. Die ganze Stadt ist bis ins Detail kartografiert, ständig werden die Informationen von den »Ameisen« des Ministeriums für Staatssicherheit aktualisiert. Noch hundert Meter bis zum Ziel.

Auerbach bleibt stehen, schaut sich kurz um, zieht Anna an sich, sein Glied drückt durch Hose und Mantel hart an ihren Oberschenkel. Seine Zunge drängt in ihren Mund, sie öffnet ihn leicht, gierig leckt er über ihre Zähne, eine Hand gleitet unter ihren Rock, die andere öffnet zwei Mantelknöpfe und zupft dann an ihrer Bluse. Sie drückt sich von ihm weg, schluckt Magensäure hinunter. Hätte er Mundgeruch, könnte sie sich nicht beherrschen und müsste sich übergeben. Sie ist nur Lockvogel und keine weibliche Romeo-Falle.

Ärger tritt in sein Gesicht.

»Warte, Joseph, nicht hier, da kann ja jederzeit jemand vorbeikommen«, sagt Anna. Sie fasst seine Hand. »Komm mit. Ich weiß was.« Sie geht los, zieht ihn hinter sich her, er folgt, betäubt von seiner Geilheit. Am Eingang zu einem Trümmergrundstück hängt ein schwarzer Stofffetzen. Das ist das Zeichen. Ein Pärchen kommt auf sie zu, bleibt stehen. Es sieht aus, als wollten sie dort hinein. Anna rennt los, kommt den beiden zuvor. Sie nicken ihr verschwörerisch zu. Auerbach stolpert, fasst sich an den Kopf. Die Tropfen wirken.

»Alles in Ordnung?«, fragt der Mann.

»Nur ein bisschen viel, Sie wissen schon«, sagt Anna schnell.

Die beiden lachen, gehen weiter. Auerbach hat noch keinen Verdacht geschöpft. Anna schiebt ihn voran. Er murmelt etwas Unverständliches. Anna zieht ein Kondom aus der Manteltasche, zeigt es Auerbach. »Na los, komm schon, worauf wartest du?«

Auerbach zwinkert, ein wässriger Glanz tritt in seine Augen. Er stolpert einen Schuttberg hoch. Oben bleibt er stehen. Anna geht zu ihm hin, packt ihn am Arm. Er schüttelt sie ab. Er hat Bärenkräfte.

»Du miese Schlampe«, nuschelt er. »Ich hätte es wissen müssen.« Er wankt, hält plötzlich eine kleine Pistole in der Hand.

Anna erstarrt, sie bekommt schlagartig keine Luft mehr. Auerbach hebt die Waffe, zielt. Sein Blick verschleiert sich, sie lässt sich fallen, rollt sich zur Seite, Schmerz jagt durch ihre Hüfte, ein Schuss kracht, Auerbach stöhnt auf.

Sie ist nicht getroffen, hebt den Kopf, Auerbach ist den Trümmerberg hinuntergestürzt, er blutet am Kopf. Er darf nicht sterben, bitte nicht. Geduckt läuft sie zu ihm hin, horcht. Er atmet, sie fühlt den Puls. Normal. Die Kugel ist glatt durch seine Schulter hindurch, es blutet nicht stark, der Schock hat ihn gefällt. Kein großes Gefäß ist verletzt, ansonsten wäre er in Minuten tot.

Schritte knirschen über den Schutt. Aus den Augenwinkeln sieht Anna drei Männer, die auf sie zuhalten. Es sind die richtigen. Keiner spricht ein Wort, einer versorgt notdürftig Auerbachs Wunde, dann packen sie ihn, bugsieren ihn durch die Hausskelette, verfrachten ihn in einen Lieferwagen, fahren los, überqueren die Zonengrenze, steuern das MfS an.

Anna sitzt neben dem Fahrer, sie steht noch immer unter Schock. Sie hat nicht mit einer Waffe gerechnet, hat schon den Tod vor Augen gehabt, oder noch schlimmer, hat sich verletzt und verhaftet gesehen. Sie wird sich bei Jukowski beschweren. Die Aufklärung hat geschlampt. Es hieß, er habe keine Waffe. Verdammte Scheiße. Ihr Herz schlägt noch immer so hart in ihrer Brust, dass es schmerzt. Sie schwitzt am ganzen Körper, riecht ihre eigene Angst. Die Kollegen schweigen. Es gibt nichts zu sagen. Sie haben ihr das Leben gerettet, das ist ihr Job.

Jukowski will die Beute persönlich befragen. Anna überwacht wie in Trance die Verbringung von Auerbach in eine Arrestzelle und ordnet medizinische Versorgung und Bewachung an. Sie betrachtet den bewusstlosen Mann. Sie wird ihn nie wiedersehen.

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