Читать книгу Mord aus vergangenen Tagen - Martin Cordemann - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеScheinbar maß die Polizei diesem Fall enorme Bedeutung bei. Zumindest aber der Chef der Mordkommission, Prosser, schien dem Fall enorme Bedeutung beizumessen, denn Erselbst befand sich am Baggersee. Möglich war auch, dass er plante, im nächsten Sommer mit seiner Familie zum Surfen hierher zu kommen, aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Jedenfalls war er genauso begeistert, mich zu sehen, wie ich ihn.
„Rhode.“ Er spie meinen Namen förmlich aus. Und das, obwohl er der Grund war, warum ich die Polizei verlassen hatte und nicht umgekehrt. „Was wollen Sie hier?“
„Im Gegensatz zu Ihnen muss ich etwas für mein Geld tun.“
„Bearbeiten Sie immer noch Scheidungsfälle?“
„Sie lesen die falschen Bücher. Oder, falls Lesen nicht zu Ihren Stärken zählt, was ich annehme, sehen die falschen Filme. Davon ab würde ich in Ihrem Fall allerdings eine Ausnahme machen. Dürfte Ihre Frau sicher freuen!“
„Möchten Sie, dass ich Sie verhaften lasse?“
„Wie oft wollen Sie das eigentlich noch versuchen? Sagen Sie mal, lernen Sie eigentlich nichts aus Ihren Fehlern? Aber wen frag ich das?“ Ich ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen. „Was ist an diesem Fall so wichtig, dass es sogar Ihren Arsch hinterm Schreibtisch weggelockt hat?“ Wobei die korrekte Formulierung: „Sie Arsch“ gewesen wäre, aber das musste ich ihm ja nicht sagen. Jedenfalls hatte ich ihn in die Zwickmühle gebracht, sich zu entscheiden, ob er mich lieber anschreien oder das offensichtliche dementieren sollte. Er entschied sich, schweren Herzens wie ich annehme, für die dümmere Variante.
„An welchem Fall?“
„Ach kommen Sie, Prosser, stellen Sie sich nicht dümmer als ich glaube, dass Sie sind. Ich habe den offiziellen Auftrag, den Tod von Maximilian Glich zu untersuchen und sollte man mir dabei Steine in den Weg legen, oder präziser: sollten Sie mir dabei Steine in den Weg legen, könnte das ganz böse Folgen haben. Würden Sie nun also bitte die Freundlichkeit haben, mir mitzuteilen, was Sie hier draußen tun?“
„Wie Sie ganz richtig festgestellt haben, untersuchen wir den Fall Glich“, brummte er.
„Na bitte, geht doch.“
Prosser schien alles andere als begeistert zu sein, mir zu helfen. Aber andererseits schien er sich auch nicht ganz über die Rechtslage im Klaren zu sein. Ich war mir darüber zwar auch nicht im Klaren, aber das nur nebenbei bemerkt.
„Man hat seine Leiche auf dem Grund des Sees gefunden“, murrte er und deutete in eine Richtung, in der sich einige Polizisten befanden und den schlammigen Grund des nunmehr abgelassenen Sees untersuchten. „Der Kopf war vollkommen zertrümmert, die Leiche größtenteils verwest. Man hat den Toten mit Gewichten beschwert auf den Grund des Sees sinken lassen.“
„Hmm, interessant. Woher wissen Sie, dass es Glich ist?“
„Er hatte seine Papiere in der Tasche.“
„Wie praktisch. Hmmm, er muss einen maschinenlesbaren Personalausweis gehabt haben.“
„Ja, wie kommen Sie darauf?“
„Weil einer dieser alten Ausweise, die es vor sieben Jahren auch noch gab, in dem Wasser bestimmt bis heute verrottet wäre. Was wohl auch auf den Rest seiner Papiere zutreffen dürfte. Die Frage ist nun, was können wir daraus schließen, dass er seine Papiere bei sich hatte?“
„Sagen Sie es mir.“
„Entweder der Mörder wusste es nicht oder er hat nicht damit gerechnet, dass man ihn finden würde. Oder es war ihm einfach egal. Oder es war gar nicht Glich, der ermordet wurde. In dem Fall würde dann der Verdacht natürlich auf Glich selber fallen und wir müssten uns überlegen, wen wir hier gefunden haben. Dann wäre da noch die Möglichkeit, dass Glich dem Opfer zufällig seine Jacke geliehen hat, bevor dieses das Zeitliche gesegnet hat. Oder aber der Tote ist ein Taschendieb, der Glich vorher ausgeraubt hat und dann von irgendjemandem umgelegt wurde. Habe ich eine Möglichkeit ausgelassen?“
Prosser war sowohl absolut unsympathisch als auch ein ganz kleines bisschen beeindruckt. „Nein.“
„Gut, fassen wir also zusammen. Glich ist vor sieben Jahren verschwunden. Dieser Mann hier ist vor sieben Jahren ermordet und seebestattet worden. Und er hatte Glichs Papiere bei sich. Richtig?“
„Richtig.“
„Und was schließen wir daraus?“
„Ich weiß nicht.“
Ich nickte. „Tja, ich weiß es nämlich auch nicht. Und jetzt erzählen Sie mir endlich, warum dieser Fall so wichtig für Sie ist!“
Prosser sah sich um, als könnte uns jemand belauschen. „Rhode, sollte etwas von dem, was ich Ihnen jetzt sage, an die Öffentlichkeit kommen, nagele ich Sie eigenhändig fest. Haben Sie mich verstanden?“
„Zum ersten Mal!“
„Es ist nicht nur der Tote, den wir gefunden haben. Er hatte noch etwas bei sich.“
Ich sah ihn fragend an. „Als da wäre?“
„Sagen wir, Mikrofilme von geheimen Unterlagen.“
„Wirklich witzig, Prosser. Und was sollen das für ach so geheime Unterlagen sein? Etwa über ein so wichtiges Thema wie die Bundeswehr? Lachhaft!“
„Sie müssen mir vertrauen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Na klar. Und was für Unterlagen waren das dann? Stasiakten? Oder die Hitlertagebücher? Prosser, entweder Sie lassen die Katze aus dem Sack und hören auf, mich auf derart laienhafte Weise zu verarschen, oder ich werde Ihnen nicht den geringsten Einblick in meine Untersuchungen geben.“
„Rhode“, Prosser tat so, als säße er am längeren Hebel. „Verschwinden Sie hier! Es gibt nicht den geringsten Grund, warum ich einem kleinen billigen Schnüffler wie Ihnen...“
„Ein kleiner billiger Schnüffler? Haben Sie das aus Der große Schlaf von Raymond Chandler?“
„Bitte?“
„Oder aus welchem Detektivfilm ist das? Hören Sie mal, Prosser, Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass diese Schnüfflersprüche auf Ihrem Mist gewachsen sind. Irgendwoher müssen Sie die doch haben. Detektive sind nämlich von der kulturellen Seite mehr eine amerikanische Tradition als eine deutsche.“
„Und warum sind Sie dann einer?“
„Weil ich eben nie ein guter Deutscher war. Und dann ist irgendwann irgendein Arschloch neuer Chef der Mordkommission geworden und ich bin gegangen. Worden. Wieauchimmer, sollte ich herausbekommen, dass Sie in irgendeinem Zusammenhang zu diesem Fall stehen, wird es mir ein Vergnügen sein, Sie verhaften zu lassen.“
„Vor einem Jahr sind Sie mir in die Quere gekommen...“ murmelte er.
„Ja. Und sollten Sie dieses Mal wieder vorhaben, mich verarschen zu wollen, dürfte sich das ziemlich unangenehm auf Ihre Karriere auswirken.“
Ich drehte mich um und ging. Blieb die Frage, warum sich dieser unsympathische Schreibtischhocker für diesen Mordfall interessierte. Die Mikrofilmgeschichte war reiner Schwachsinn. Aber was konnte dahinter stecken? Erstmal musste ich mehr über Maximilian Glich in Erfahrung bringen. Da Prosser sich am Baggersee befand, war das jetzt der beste Zeitpunkt, meine Aufwartung im Polizeipräsidium zu machen und ein wenig in alten Akten zu stöbern.
Die eine oder andere Person im Präsidium freute sich, wenn ich mal hereinschneite. Auch das bezaubernde Fräulein Rausch warf mir einen ihrer bezaubernden Blicke zu, von denen ich heute bereits zwei gehabt hatte und die im Endeffekt auch nichts brachten.
Ich ließ mir aus dem Archiv die Akte des Falles Glich vor sieben Jahren heraussuchen, desgleichen in der Computerabteilung die Morde und Vermisstenlisten im Zeitraum von drei Wochen um das Verschwinden Glichs. Dazu ließ ich mir dann auch noch die entsprechenden Akten kommen, kopierte das alles illegalerweise und war wieder verschwunden, bevor Prosser zurück war. Was genau diesen eigentlich an dem Fall interessierte, konnte mir aber auch keiner sagen. Man munkelte jedoch, dass auch das BKA in die Untersuchungen eingeschaltet war. Das konnte vieles bedeuten, aber ich sah noch in keiner Weise klar, was es nun tatsächlich bedeutete.
Meine Verabredung mit meiner Klientin konnte ich ohne Probleme einhalten. Unterwegs blätterte ich ein bisschen in meinen Kopien und stellte wenigstens schon mal fest, dass Glich in einer Bank gearbeitet hatte, bevor er verschwunden war. Wie sich herausstellte, stellte sich kurz nach seinem Verschwinden heraus, dass eine nicht unbeträchtliche Menge Geldes veruntreut worden war und der Verdacht auf Glich fiel. Aber das lag alles sieben Jahre zurück.
Ich klingelte bei Frau Glich und sie empfing mich mit einem freundlichen Lächeln und einem Stück Kuchen. Es war Schokoladenkuchen, solcher mit Nougatüberzug, den ich am liebsten mag.
„Das ist mein Lieblingskuchen“, murmelte ich zwischen zwei Bissen. „Woher wussten Sie das?“
Sie lächelte. „Ich wusste es nicht. Haben Sie schon etwas herausgefunden?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht viel, eigentlich nichts. Ich würde noch nicht mal mit Sicherheit davon ausgehen, dass es Ihr Mann war, den man da im Baggersee gefunden hat.“
„Nicht? Herr Rhode, ich möchte, dass Sie mich richtig verstehen. Ich möchte Klarheit, was meinen Mann angeht. Ich will wissen, ob er tot ist oder noch lebt, ob er damals das Geld veruntreut hat oder jemand anderes, ich will es wissen. Viel zu lange habe ich diese Geschichte ruhen lassen.“
Da konnte sie allerdings Recht haben. Ich hatte mir das Problem ja schon ausgemalt. „Ich habe mir die alten Untersuchungsergebnisse geholt und noch ein paar andere Akten aus der Zeit. Aber... bisher habe ich keinen Anhaltspunkt gefunden. Die Sache hat zu lange gelegen, ich habe ehrlich gesagt keine große Hoffnung, dass ich Ihnen weiterhelfen kann.“
„Ich bin sicher, dass Sie Ihr bestes tun werden.“
„Die Frage ist, ob es was bringt. Sagt Ihnen der Name Prosser etwas?“
Sie überlegte und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war Prosser vor sieben Jahren noch nicht mal in der Stadt gewesen. „Können Sie sich vorstellen, warum sich jemand, der sonst nicht das geringste Interesse an der Lösung von Mordfällen hat, es sei denn, er kann sich dabei profilieren, sich auf einmal für diesen Fall interessiert? Oder das BKA?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Mein Mann war Bankangestellter. Er war kein Krimineller.“ Betrachtete man das Bankwesen, war das ein Widerspruch in sich. „Oder jedenfalls nicht soweit ich davon wusste. Glauben Sie mir, mir ist die ganze Sache so schleierhaft wie Ihnen.“
„Ja“, ich überlegte kauend und kaute überlegend. „Bauen wir uns mal ein paar Theorien auf. Also, nehmen wir an, der Tote ist Ihr Mann und man hat ihn erschlagen und dafür gesorgt, dass seine Leiche auf dem Grund des Baggersees blieb... damit man sie nicht findet und ihn für denjenigen hält, der das Geld unterschlagen hat. Aaaaalso wäre der größte Verdächtige demnach derjenige, der das Geld wirklich unterschlagen hat. Den brauchen wir also nur zu finden und schon haben wir den Mörder Ihres Mannes und seine Weste wäre rein gewaschen... wovon er angesichts seines Todes natürlich nichts hat.“
„Ja“, stimmte sie zu. „Das ist eine Theorie. Aber wie wollen Sie sie beweisen? Und welche Theorien könnte es noch geben?“
„Tja, gute Frage. Und was die anderen Theorien angeht... Da wäre zum Beispiel eine unschöne.“
„Welche?“
„Ihr Mann hat das Geld unterschlagen, jemand hat das spitz gekriegt und wollte ihn erpressen, also hat Ihr Mann ihn beiseite geräumt, mit seinen Papieren ausgestattet und ist getürmt. Lässt sich wahrscheinlich dadurch beweisen oder widerlegen, dass wir herausfinden, ob noch jemand, der davon gewusst haben kann verschwunden oder ermordet worden ist.“
Sie sah traurig aus.
„Möglich ist auch, dass Ihr Mann das Geld unterschlagen hat, jemand hat das spitz gekriegt, hat Ihren Mann umgebracht und sich das Geld unter den Nagel gerissen.“
Auch das schien ihr nicht besser zu gefallen.
„Oder die ganze Sache hatte nichts mit dem Geld zu tun... Wer weiß? Eifersucht möglicherweise? Keine Ahnung, prinzipiell kann es alles gewesen sein. Sie könnten es sogar gewesen sein. Theoretisch.“
Sie könnte ihn ermordet haben… sie könnte ihn überredet haben, das Geld zu veruntreuen und ihn dann ermordet haben. Und jetzt, wo seine Leiche unpassendeweise im wahrsten Sinne des Wortes wieder aufgetaucht war, ging sie in die Offensive und engagierte mich, um davon abzulenken, dass eigentlich sie die Schuldige war… aber das sagte ich ihr natürlich nicht!
„Also gut, gehen wir logisch vor. Ich habe hier eine Liste der Personen, die im betreffenden Zeitraum gestorben oder als vermisst gemeldet worden sind. Würden Sie sie sich bitte ansehen?“
„Natürlich. Aber glauben Sie, das bringt etwas?“
„Es ist nur eine Möglichkeit.“
Sie sah sich die Liste an, aber keiner der Namen schien ihr etwas zu sagen. Auf den ersten Blick konnten wir also sagen, dass sich die Chancen, tatsächlich ihren Mann gefunden zu haben, verbesserten. Ich überflog die Namen in der Bankliste von damals, doch auch hier ergaben sich keine Parallelen.
„Okay, soviel dazu“, murmelte ich und legte die Kopien in meine Tasche.
„Und was wissen wir jetzt?“
„Nichts. Wir haben nur die Wahrscheinlichkeit verringert, dass da die ganze Zeit irgendein anderer Bankangestellter auf dem Grund des Baggersees gelegen hat. Es sei denn, es ist jemand, der in den bisherigen Theorien nicht berücksichtigt wird. Aber sagen wir einfach mal, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Ihren Mann handelt, ziemlich in die Höhe gegangen ist.“
„Hilft uns das weiter?“
„Nicht viel. Eigentlich kaum. Wenn man‘s genau betrachtet...“ Ich hob die Schultern.
„Was tun Sie für gewöhnlich in einem solchen Fall?“
„Ich hatte noch nie einen solchen Fall. Ich frage mich, wer sich heute noch daran erinnert, was vor sieben Jahren passiert ist. Und wie kann man den Leuten irgendwas nachweisen, wenn sie sieben Jahre Zeit hatten, um die Beweise verschwinden zu lassen?“
„Ich habe gehört, dass Sie sehr... kreative Methoden haben. Und dass Sie nicht immer Beweise gebraucht haben, um einen Mörder zu überführen.“
Ich seufzte. „Ich gestehe es Ihnen und vor allem mir nur ungern ein, aber im Moment befinde ich mich in einem kreativen Loch. Mir fehlen derzeit die originellen Ideen, ich meine, fürs Fernsehen würd’s immer noch reichen, aber...“ Ich hob die Schultern. „Es ist dieses Gefühl, leer zu sein, ausgebrannt, ohne eine Richtung. Ich meine... meine letzten Fälle waren alles Routine, ohne große Herausforderung. Aber jetzt... dieses Gefühl, seine sprühende Phase hinter sich zu haben ist ein bisschen... deprimierend!“
„Ich glaube nicht, dass Sie schon leer sind.“
„Tja, ich wünschte, ich könnte mich Ihrem Glauben anschließen.“
„Vielleicht könnte der Beistand einer Frau eine Hilfe für Sie sein?“
„Der Beistand einer Frau?“ Ich blickte ins Leere. „Wissen Sie, manchmal... Manchmal hab ich das Gefühl, ich ticke wirklich nicht ganz richtig. Ich meine, ich suche jahrelang nach einer Frau, die mich liebt. Und dann finde ich sie und sie ist nett und sieht auch ganz nett aus und was bekomme ich plötzlich? Panik! Ich habe plötzlich eine teuflische Angst davor, mich an diese Frau zu binden und so meine Ruhe und meine Sicherheit und vielleicht auch meine Kreativität zu verlieren. Und warum das alles? Ich liebe sie nicht. Aber sie liebt mich. Tja, so eine Situation kann einem schon ein bisschen zu schaffen machen, oder was glauben Sie?“
„Sie sind ein bemerkenswerter Mensch.“
„Das ist... ausgesprochen mitfühlend formuliert, aber vielen Dank. Übrigens machen Sie einen bemerkenswert phantastischen Schokoladenkuchen.“ Ich erhob mich. „Ich muss jetzt.“ Sie geleitete mich zur Tür. „Das widersinnige ist“, fügte ich hinzu, „es hätte mir nichts ausgemacht, mit einem anderen Mädchen etwas anzufangen...“ Ich lächelte. „Mal sehen, was ich in Ihrem Fall tun kann!“
Zuhause ließ ich mich deprimiert in meinen Sessel fallen und starrte die Wand an. Mit mir war nichts mehr los, aber auch gar nichts. Ich konnte mich nicht auf den Fall konzentrieren, ich sah nicht die geringste Möglichkeit einer Spur, keinen Ansatzpunkt, nicht einmal eine Fährte. Lustlos blätterte ich die Kopien durch. Wie sollte ich herausbekommen, wer Glich ermordet hatte – sofern es wirklich Glichs Leiche war? Und aus welchem Motiv? Vielleicht war ja selbst der Mörder schon tot.
Ich starrte die Wand an und dachte an nichts, was mir überraschend leicht fiel. Es ging eben bergab mit mir. Vielleicht sollte ich zur Zeitung fahren und mir die Zeitungsberichte durchlesen, aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass das auch keine so gute Idee mehr war. Also rief ich Duffy an, der für einen deprimierenden Abend immer zu haben war, oder der einem so ziemlich jeden Abend zu einem deprimierenden machen konnte. Er wohnte gleich nebenan in der ehemaligen Hauptstadt Bonn.
„Du siehst mies aus“, meinte er, als er sich zu mir, der ich schon bei meinem zweiten Guiness war, setzte.
„Oh, vielen Dank.“
„Gern geschehen. Du trinkst Guiness?“
„Nein, ich trinke Whisky, aber weil die Bedienung weiß, dass du mich nicht dabei sehen darfst, wenn ich harte Sachen trinke, schüttet sie das Zeug in Guiness-Gläser.“
„Du bist wirklich mies drauf.“
„Das war ich schon immer. Und, wie sieht es bei dir aus?“
„Angela erwartet ein Kind, aber ich denke, das habe ich dir schon gesagt.“
„Ja, wenn du mir jetzt nur noch auf die Sprünge helfen könntest, wer Angela ist...“
„Meine Frau!“
„Du bist verheiratet?“
„Hör mal, ich bin seit ein paar Jahren verheiratet!“
„Tja, kannst du mal sehen. Du bist also verheiratet... tststs, wusste ich doch. Und deine Frau erwartet ein Kind?“
„Willst du mich eigentlich verarschen?“
„Tja, wenn du so fragst...“ Ich grinste. „Es ist immer wieder eine Wonne, sich mit dir zu unterhalten.“
„Kann man von dir nicht unbedingt behaupten.“
„Mach weiter, ich finde langsam zu meinem alten Stil zurück.“
„Hast du einen neuen Fall?“
„Japp.“
„Worum geht es dabei?“
„Hör mal, wenn ich das jetzt erzähle, ist doch die ganze Spannung weg. Nein, im Ernst, es geht um einen Mordfall, der sieben Jahre zurück liegt und ich habe, wie üblich, nicht die geringste Ahnung, wie ich ihn lösen kann. Verstehst du, ich meine, ich habe nicht mal einen Hauptverdächtigen oder überhaupt einen Verdächtigen, ist das nicht deprimierend?“
„Ich verstehe dein Problem.“
„Das wäre das erste Mal!“
„Soll ich gehen?“
„Bist du mit dem Wagen hier?“
„Ja.“
„Dann warte, bis ich mein Bier habe. Du kannst mich n Stück mitnehmen.“
„Was willst du eigentlich?“
„Ein Leben in Ruhm, Reichtum und Sex, eben alles, was mit r anfängt. Ich weiß nicht, was ich will. Wenn ich es wüsste, würde ich wahrscheinlich nicht hier sitzen und mich mit dir unterhalten.“
„Du bist wohl wirklich in einer schlimmen Phase?!“
„Na, du erzählst ja. Hast du eine Ahnung, wie ich mein Problem lösen könnte?“
„Du hast früher öfter etwas von Selbstmord erzählt.“
„Ähm, nicht das Problem, ich meinte mehr mein Problem mit diesem Fall.“
„Also du hast keinen Anhaltspunkt?“
„Sozusagen. Ich habe die Namen der Leute, die damals zur gleichen Zeit in der gleichen Bank gearbeitet haben, wie meines Klienten Leiche.“
„Das ist eine bittere Angelegenheit.“
„Um mir das zu sagen hättest du nicht kommen müssen, soweit habe ich den Fall nämlich auch schon analysiert.“
„Und...“
„Frag mich nicht, was ich jetzt tun will.“
„Entschuldige bitte.“ Er schwieg und sah mich nachdenklich an. „Tja...“
„Möchtest du was trinken?“
„Gerne.“
„Na, du weißt ja, wie man bestellt.“
„Bezahlst du?“
„Bin ich denn wahnsinnig?“
„Also nicht.“
„Nun stell nicht immer so dumme Fragen, ich habe dich nur gefragt, ob du was trinken willst.“
„Und ich habe nur gefragt, ob du bezahlst.“
„Natürlich bezahle ich, ich kann doch nicht überall prellen.“
Duffy schüttelte den Kopf.
„Ich habe das Gefühl, das bringt uns nicht weiter.“
„Wie sollte es dich eigentlich weiter bringen?“
„Du vergisst, dass ich es war, der dich angerufen hat“, wies mich Duffy darauf hin.
„Moment! Ich habe dich angerufen, ja, damit das klar ist.“
„Ja, du hast mich eben angerufen, aber heute Morgen habe ich dich angerufen.“
„Mein Gott, stimmt ja. Ich wusste, irgendwas war heute. Irgendwie hatte ich schon den ganzen Tag dieses deprimierende Gefühl...“
„Oh, vielen Dank.“
„Keine Ursache, irgendwie muss ich dich ja aufbauen. Willst du was trinken?“
„Bezahlst du?“
„Wir prellen, okay? Gut, ich bezahle, immerhin hast du angerufen. Allerdings, da du wirklich als erster angerufen hast, könntest du auch bez... aber lassen wir das. Immerhin hab ich den langen Weg hier raus nach Bonn gemacht, um... warum eigentlich?“
„Weißt du, wer Siggi Feldmann ist?“
„Darunter kann ich mir genau so viel vorstellen wie unter Ugandischem Starkino.“
„Siggi Feldmann ist mein Direktor.“
Duffy war nämlich inzwischen Lehrer für Latein und Geschichte, aber das war, so gesehen, sein Problem.
„Also, Siggi Feldmann ist dein Schulleiter. Gut, soll ich ihn umlegen?“
„Seit wann stehst du auf Gewalt?“
„Das tue ich nicht, ich wollte nur sagen, falls du mir einen derartigen Vorschlag unterbreiten wolltest, müsste ich leider ablehnen. Weil du dafür nicht genügend Kohle hast!“
„Kannst du nicht einmal ernst sein?“
„Wenn du mit jemandem ein ernstes Gespräch führen willst, warum hast du dann mich angerufen?“
„Du hast mich angerufen.“
„Das Spiel läuft nicht! Was ist nun mit deinem Direktor?“
„Er hat mir angedroht, mich versetzen zu lassen.“
„Klingt doch gut.“
„Strafversetzen!“
„Klingt weniger gut. Was hast du getan, eine von deinen Schülerinnen verführt?“
„Nein.“
„Mehrere?“
„Nein... er mag mich einfach nicht. Wir haben eine völlig verschiedene Auffassung von der Aufgabe eines Lehrers.“
„Das kenne ich. Das war der Grund, warum ich damals bei der Polizei aufgehört haben wurde.“
„Das ist ja eine große Hilfe für mich, dass du mir sagst, dass du wegen einer solchen Sache aufgegeben hast und abgehauen bist, nur, um jetzt irgendwelche Fälle, die Ewigkeiten zurückliegen aufzuklären.“
„Hey, wie war das noch mal, wer hat wen angerufen?“
„Und dich frage ich auch noch, dich, der nun wirklich jedem Problem aus dem Weg geht, sobald sich eins vor ihm auftut.“
„Das ist nicht gerade aufbauend.“
„Aber auch jedem Problem. Wie war das denn damals? Nur, weil du dich immer in die falschen Mädchen verliebt hast, hast du, wenn sich mal eine in dich verliebt hast, gekniffen.“
„Hey...“
„Oder etwa nicht? Du bist dem Problem aus dem Weg gegangen.“
„So oft ist das ja nicht vorgekommen...“
„Du hattest Angst!“
„Ich hatte verfluchte Angst, ja! Verdammt, ich wollte mich nicht binden... zumindest nicht an jemanden, den ich nicht liebe. Hinterher kommt man da nicht mehr raus und ein paar Jahre später ist man verheiratet, wohnt in Kenia und baut Hasch an... gut, das wäre ja kein schlechter Werdegang, aber ich war einfach nicht bereit...“
„Nicht bereit, du hast dich dem Problem der Partnerschaft nie gestellt. Wie üblich hast du dich geschickt um alles herumgemogelt, bist ihm aus dem Weg gegangen und hast dich gefreut. Und warum?“
„Ich hatte mich daran gewöhnt, allein zu sein. Und ich hatte mich in mich verliebt... fürchte ich jedenfalls. Irgendwie so. Oh Gott, das klingt schrecklich! Ich wollte mich nicht aufgeben, damals hatte ich immerhin noch meine Kreativität und ich wollte meine Kreativität nicht für irgendjemanden aufgeben.“
„Du weißt ja gar nicht, ob du deine Kreativität durch eine Beziehung verloren hättest.“
„Sieh dir doch die Leute an, wen konntest du damals denn als ersten vergessen, häh? Die mit ner Freundin. Abgebaut, ich weiß auch nicht wieso, aber irgendwie haben die sich dadurch verändert. Vielleicht... vielleicht sind sie reifer geworden.“
„Das ist ja wohl ein Fremdwort für dich.“
„Wer will schon reif sein? Wenn Früchte reif sind, dann dauert es nicht mehr lange und sie sind entweder gegessen oder faul! Nein, vielen Dank!“
„Ein schönes Bild.“
„Ja, du bringst mich in Stimmung.“
„Aber du hast gesagt, du hättest deine Kreativität verloren.“
„Oder verlegt. Wenn ich sie tatsächlich verloren habe, bin ich jetzt vielleicht reif genug für eine Beziehung.“
„Du glaubst, Reife ist das Gegenteil von kreativ?“
„Sag mal, ich dachte, du hättest Geschichte und nicht Deutsch. Was überinterpretierst du dir denn da wieder zusammen? Jungejunge, warum habe ich dich nur angerufen?“
„Ich habe dich...“
„Lassen wir das jetzt, wir haben wichtigeres zu besprechen.“
„Wie üblich gehst du jedem Problem aus dem Weg.“
„Eine meiner vernünftigsten Eigenschaften.“
„Wie war das damals mit...“
„Was soll denn diese Frage wie war das damals mit immer? Soll das so ne Art Geschichtsquiz werden?“
„Ich will dir nur klarmachen, dass es ein völliger Irrsinn ist, dich bei einem solchen Problem um deinen Rat zu fragen.“
„Tja, du bist eben völlig irrsinnig, oder ziehst du deine Frage hiermit zurück?“
„Ach was, Frage. Es reicht mir schon, deine dummen Kommentare zu diesem Thema zu hören. Ich werde wohl das tun, was du sonst immer machst.“
„Improvisieren?!“
„Genau. Möchtest du was trinken?“
„Nein, mir reicht es für heute. Möchtest zu zahlen?“