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2 ESSEN November 2009 Warum gehen die Kids? Großer Jugendgottesdienst in der Essener City

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Heute geht es mit dem Auto von Köln aus in den Pott. Essen liegt mitten in der Metropolregion Deutschlands, dem Rhein-Ruhr-Gebiet, und wird oft als heimliche Hauptstadt dieser Region gefeiert. Es ist die viertgrößte Stadt Nordrhein-Westfalens und einige große Dax-Konzerne haben dort ihre Zentralen eingerichtet. Insider bezeichnen Essen auch als das Entscheidungszentrum der deutschen Wirtschaft. Was hier beschlossen wird, beeinflusst das ganze Land.

Doch der christlichen Kirche in Essen geht es nicht gut. Die Katholiken haben in den letzten fünfzig Jahren die Hälfte aller ihrer Mitglieder verloren. Und um die evangelische Kirche ist es auch nicht viel besser bestellt. Dort treten seit einer Dekade über tausend Menschen pro Jahr aus. So erzählen es mir die aktuellsten Statistiken.

Wenn man nun darauf schließen möchte, dass die Freikirchen dafür einen großartigen Boom verzeichnen können, liegt man falsch. Die Mitgliederzahlen dieser von der Kirchensteuer unabhängigen Organisationen stagnieren im Ganzen gesehen ebenfalls. Bedeutet: Die Kirchenaustritte der zwei großen Konfessionen führen nicht zu einem zu erwartenden Wachstum der religiösen Konkurrenz, nämlich der kleineren Freikirchen.

Diesen Vorgang, einen Mitgliederaustausch zwischen den Kirchen einer Stadt, nennt man übrigens auch spöttisch »Churchhopping«. Christen wechseln von einer Gemeinde in die andere, wodurch einzelne Kirchen für eine Zeit stark wachsen, andere schrumpfen. Jahre später zieht der Strom der »Churchhopper« dann weiter, nämlich zur nächsten neuen, hipperen Kirche. Auf diese Art findet kein echtes Wachstum der gesamten christlichen Welt statt, sondern eher ein Art Transferwachstum. Dieses Phänomen kann man übrigens auf der ganzen Welt beobachten.


Es ist als freier Prediger selten, dass man im Dienst Menschen kennenlernt, die dann auch zu engen Freunden werden. Aber hier in Essen ist das der Fall. Martin Scott und ich hatten uns schon vor vielen Jahren zum ersten Mal getroffen und waren sofort »ein Herz und eine Seele«. So eine Art Seelenverwandtschaft verbindet uns, eine innere Verbundenheit, die man gar nicht in Worte fassen kann. Mit ihm muss ich nur einmal im Jahr ein Telefonat führen, aber es ist sofort eine einzigartige Nähe und Sympathie zueinander da. Seine ganze Art zu reden, die kritische Direktheit, gepaart mit echter Wertschätzung, das mag ich an ihm.

Dazu ist Scott auch ein echter Visionär. Mit seinem Verein »Wunderwerke« entwickelt er kreativ neue Ideen für die Jugendarbeit und setzt diese auch fast immer erfolgreich um. Angestellt über einen freien Träger macht er eine hervorragende Jugend- und junge Erwachsenenarbeit, die seinesgleichen in Deutschland sucht.

Angefragt werde ich nun, auf einem von ihm organisierten überregionalen Jugendgottesdienst die Predigt zu halten. Der Gottesdienst ist über die Grenzen Essens hinaus bekannt, und die Besucher fahren zum Teil lange Strecken, nur um diesen einen Event besuchen zu können. Scott arbeitet schon viele Jahre in der Jugendarbeit in dieser Region Deutschlands und kennt seine Leute daher sehr gut.

Ansonsten erwartet mich in Essen eine in jeder Hinsicht ganz normale christliche Jugendveranstaltung. So eine, wie ich sie landauf und landab schon Hunderte Male erlebt habe. Der Ablauf folgt fast immer der gleichen schon geschilderten Blaupause. Es gibt eine Zeit für Ansagen, ein Anspiel, einen längeren Musikteil und natürlich eine Predigt. Hier und da wird gebetet, eine Erklärung abgegeben, das war es.

Eine Besonderheit in Essen ist aber, dass dieser »Jugo«, die geläufige Abkürzung für Jugendgottesdienst, auch in einer alten Kirche veranstaltet wird. In Westdeutschland erlebe ich das immer seltener. Oft mieten sich die Gemeinden hier für Jugendveranstaltungen andere Räume im Ort, weil viele junge Menschen nicht mehr gerne in eine alte Kirche gehen wollen. Zum Beispiel die Stadthalle, eine größere Kneipe oder sogar eine Disco.

Nachdem wir uns herzlich begrüßt haben, werde ich in den Mitarbeiterraum der Kirche geführt. Hier sitzen an die fünfzehn junge Erwachsene, die den Gottesdienst über viele Wochen minutiös geplant und vorbereitet haben. Ich mag diese Atomsphäre von Geschäftigkeit und Vorfreude sehr.

Als eingeladener »Starprediger« spüre ich wieder so eine künstliche Distanz zu den Menschen vor Ort. Es gibt nach meiner Erfahrung unterschiedliche Kategorien, wie einem Prediger von außerhalb begegnet wird. Die einen Veranstalter verhalten sich extrem locker, sie versuchen, so auf mich zu wirken, als wären sie sehr entspannt. Vielleicht denken sie, dass man mir zeigen muss, wie frei man ist, weil ich das so erwarte. Da werden Sprüche geklopft, Witze gemacht, man schlägt mir mehrfach auf die Schulter, nur um locker auf mich zu wirken. Aber es fühlt sich auf meiner Seite eher künstlich an, nicht echt, unentspannt, verkrampft.

Das andere Extrem ist aber wesentlich anstrengender. Das sind die Menschen, die denken, sie müssten mit solch einem christlichen Semipromi wie mir besonders kalt umgehen. Vermutlich wollen sie nicht dabei mitmachen, wenn dem »Star des Abends« gehuldigt wird, deswegen tun sie genau das Gegenteil. Ich werde unfreundlich begrüßt, missachtet, in der Ecke stehen gelassen, gemieden, angeschwiegen, wie Luft behandelt, so als hätte ich das verdient. Dabei zeugt es nur von der großen Unsicherheit dem Prediger gegenüber, weiter nichts. Das Gleiche erleben übrigens bekannte christliche Musiker und Künstler. Ich würde mir stattdessen eine natürliche Begegnung auf Augenhöhe wünschen. Wir kennen uns nicht, aber wir haben eine gemeinsame Veranstaltung vor, die wir nicht allein stemmen können. Es ist eine Art Zweckgemeinschaft, in der man sich mit Respekt und Freundlichkeit begegnen sollte.


Ich kann wirklich nicht sagen, woran es liegt, aber ich bin schon Stunden vor Beginn wieder extrem aufgeregt und angespannt. Ich kann meine Gefühle nicht verstecken. Mich plagt wieder die Angst vor Menschen, die Angst, auf einer Bühne zu stehen, und wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt am liebsten auf den Hacken umdrehen, kehrtmachen und mich ins Bett legen. Wenn das Adrenalin kommt, werde ich auch immer müde. Der Botenstoff verursacht den Wunsch in mir, mich hinzulegen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu schlafen. Aber das geht nun mal heute nicht.

Für diesen Abend habe ich mir versuchsweise aus einem Bioladen so eine Art Naturmedikation mitgebracht, die bei Angstzuständen besonders gut helfen soll. In meiner Hosentasche befinden sich vier kleinere Kapseln, die ich vor dem Gottesdienst einnehme. In den Kapseln sollen Baldrian, Melisse und zahlreiche andere Naturprodukte vorhanden sein, die gegen Angstzustände wirken.

Schließlich beginnt die Uhr zu ticken, die Jugendlichen strömen in die Kirche und es ist, bereits fünfzehn Minuten vor Beginn, sehr voll. Ich gehe noch einmal auf die Toilette und mein Adrenalinspiegel scheint extrem hoch zu sein. Im Spiegel sehe ich plötzlich wieder diese tiefroten hektischen Flecken an meinem Hals, die jetzt sogar bis auf die Wangen hochgehen. Das schockiert mich sehr. Liegt das an den Biotabletten oder woher kommt der überproportionale Ausschlag diesmal? Eigentlich sollte das Mittel doch genau gegenteilig wirken. Die Flecken steigern meine Angst nur noch weiter. Ich sehe am Hals so rot aus wie ein wild gewordener Truthahn. Aber ich muss jetzt in den Kirchenraum, der Gottesdienst geht gleich los. Wie grausam.

Die Ansage ertönt durch den Lautsprecher: »… und jetzt kommt Martin Dreyer und hält eine Predigt!« Mein Pulsschlag steigt immer weiter, schweren Schrittes komme ich hinter dem Altar auf die Bühne, in der rechten Hand meine Bibel, in der linken meine schriftlichen Notizen. Vor lauter Aufregung vergesse ich dummerweise, die Teilnehmer zu begrüßen, und beginne sofort mit der Bibellesung. Ein Anfängerfehler.

Es ist diesmal ein Text aus einem Brief des Paulus, den wir ganz am Ende der Bibel finden. Er heißt Kolosserbrief und enthält zentrale Aussagen über Jesus Christus. Für viele Jahre war er mein Lieblingstext aus der Bibel, weil er fast schon euphorisch über Jesus berichtet. Paulus war ein Jesusfan und ich bin es auch.

Ich beginne zu lesen. »In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn. Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe« (Kolosser 1,15-18). Dann schließe ich meine Bibel, atme einmal tief durch und wende mich den Zuhörern zu.

»Jesus ist das Zentrum im Universum!«, rufe ich in die Menge. »Letztendlich dreht sich alles doch nur um ihn!« Jetzt fange ich an, den biblischen Text aus dem Kolosserbrief Vers für Vers auszulegen. Ich erzähle davon, dass mit Jesus alles angefangen hat, die Weltgeschichte und auch das Leben eines jeden Einzelnen, der gerade hier im Raum sitzt. »Wenn es stimmt, dass Jesus der ›Erstgeborene aller Schöpfung‹ ist, war er ja auch von Anfang der Welt an dabei. Und wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, muss es auch bedeuten, dass Christus bei der Geburt von jedem Einzelnen dabei war. Daraus leite ich ab, dass jeder Mensch so gewollt ist, wie er ist, und dass wir uns deswegen selbst lieben können. Legt man diese Stelle weiter aus, ist jeder Mensch auch für ihn geschaffen worden. Das heißt, jeder Mensch auf dieser Erde hat einen Auftrag, eine Berufung, wir sind für Gott geschaffen worden, wir sollen für ihn leben.«

Mitten in meiner Predigt entsteht plötzlich eine große Unruhe im Saal. Ich verstehe nicht, warum, und es verunsichert mich. Plötzlich steht mitten in meinem Satz fast die komplette erste Reihe auf, wendet sich Richtung Ausgang und geht. Die Jugendlichen verlassen mitten in meiner Predigt den Saal, ohne ein Wort zu sagen! Es ist wie ein stiller Protest. Hinten rechts sehe ich ebenfalls ein paar junge Menschen, die gerade aufstehen, ihre Jacken anziehen, und gehen.

Das Blut schießt in meinen Kopf, ich werde noch roter als rot, die Angst ist voll da. Total perplex schießen mir tausend Fragen durch den Kopf. Was habe ich nur falsch gemacht? Warum gehen die Jugendlichen, noch während der Gottesdienst läuft? Habe ich etwas Peinliches gesagt? Ist es mein Äußeres, fettige Haare, falsche Kleidung? Oder ist meine Predigt einfach viel zu langweilig? In meinen Gedanken rotiert es, aber ich finde keine Antwort auf meine Fragen. Dabei versuche ich natürlich weiter Sätze zu formulieren und meinen Vortrag so gut es geht fortzuführen. Die Angstattacke hört aber nicht auf, sie wird sogar immer heftiger. Mit knallrotem Kopf stehe ich vorn und versuche krampfhaft mein Programm durchzuziehen. Auf meiner Stirn steht der Angstschweiß, und ich bin mir sicher, jeder kann es sehen. Jeder. Satz um Satz ringe ich mit meiner Fasson. Langsam beginnt auch meine Stimme zu zittern, die Worte bleiben mir buchstäblich im Halse stecken. Irgendwie komme ich zum Ende, unterlasse es aber, einen Aufruf zum Gebet zu machen, obwohl das vorher abgemacht war, und verlasse, schweißgebadet und innerlich vollkommen zerstört, die Bühne. Noch ein Abschlusslied, dann ist der Gottesdienst endlich vorbei.


Nach einer relativ kurzen Verabschiedung von den Veranstaltern vor der Kirche mache ich mich umgehend auf den Rückweg. Schließlich sitze ich in der Bahn und versuche das Geschehene irgendwie zu analysieren. Mich lässt die Frage nicht mehr los: Was habe nur ich falsch gemacht? Warum sind die jungen Menschen plötzlich aufgestanden? Was habe ich nur gesagt, dass so viele Jugendliche den Saal verlassen haben? Krampfhaft überprüfe ich Satz für Satz mein gesamtes Manuskript, kann aber keine kompromittierende Stelle finden. Es gibt nichts, was so eine Reaktion hätte erklären oder rechtfertigen können. Ich komme zu dem Schluss, dass es nicht an der Auswahl meiner Worte gelegen haben kann. Auch vom Inhalt her war eigentlich alles in Ordnung. Es kam nichts zur Sprache, was jemanden derart vor den Kopf hätte stoßen können, dass er den Gottesdienst aus Protest verlassen muss. Es ist mir ein Rätsel.

Die bohrenden Fragen, die ich von vielen anderen Diensten her kenne, lassen mich auf der gesamten Zugfahrt nicht los. Wenn es nicht gut gelaufen ist, überströmt mich der Selbstzweifel. Nach einer Predigt erlebe ich immer einen Kampf mit mir selbst, der begleitet wird von kritischen Fragen an mich. Tue ich diesen Dienst für die Menschen oder tue ich ihn für Gott? Oder tue ich ihn doch nur für mich und mein eigenes Ego? Es ist eine Frage nach meiner Motivation. Im Grunde ist es doch so, dass ich mich meist viel zu wichtig nehme. Es geht zu sehr um mich und zu wenig um Gott, um seine Sache und auch um die Zuhörer. Ich will diesen Dienst für Gott tun, aber mein Ego steht mir immer wieder im Weg. Es bläht und plustert sich auf wie ein Gockel, der sich wichtiger nehmen will, als er eigentlich ist. Wenn ich mich selbst nicht so ernst nehmen würde, hätte ich vermutlich auch keine Angst. Aber die Angst hat mich diesmal fast umgebracht. Es war der reine Horror.

Ich glaube, dass kaum ein Prediger frei von diesem Kampf um Anerkennung ist. Man kann sie ja vorne gut beobachten, die Männer und Frauen Gottes. Mir ist noch keiner untergekommen, bei dem ich das Gefühl hatte, er wäre komplett selbstlos. Niemand steht da vorne auf der Bühne und ist frei von den Reaktionen, die aus der Menge kommen. Spätestens wenn der Prediger oder die Predigerin kritisiert wird, kann man sehen, wie weit es um die Selbstlosigkeit des Agierenden steht. Wer sich selbst immer wieder krampfhaft verteidigt, steht nicht gut da. Und ich bin einer davon.

Natürlich gibt es Ausnahmen in der Kirchengeschichte. Franz von Assisi, vielleicht sogar der neue Papst, wer weiß. Aber die Regel ist: Jeder Mensch, der sich auf einer Präsentationsfläche exponiert, darstellt, etwas von sich preisgibt, braucht auch positive Rückkopplungen und Resonanzen. Nur jemand mit masochistischen, also krankhaften Neigungen kann daran Gefallen finden, wenn er versagt, kritisiert, ausgebuht oder einfach nur ignoriert wird.

Ich glaube, dass es auch eine krankhafte Form der Sehnsucht nach Bestätigung durch andere gibt, und ich befürchte, dass ich nicht frei davon bin. Es ist faktisch so, dass ein Misserfolg immer sehr stark an meinem Selbstwertgefühl nagt. Kaum ist der Dienst beendet, dränge ich förmlich danach, positives Feedback zu bekommen. Nicht unbedingt in Form von Händeklatschen oder Jubelrufen. Aber doch so, dass der Veranstalter mir eine nette Rückmeldung geben muss, sonst fühlt es sich nicht gut an. Er muss mir sagen, wie gut es war, was alles passiert ist, wie großartig Gott gewirkt hat, sonst hänge ich emotional in der Luft.

Diese groteske Anspannung nach einer Veranstaltung ist für mich manchmal kaum auszuhalten. Als ich noch in Köln gelebt habe, sind meine Frau und ich regelmäßig in einen Gottesdienst nach Remscheid gefahren. Dort habe ich auch mehrfach in einer Gemeinde predigen dürfen. Die Rückfahrt war für mich immer wie ein großer Selbstwerttest. Trotz zahlreicher Andeutungen, dass ich gerne hören würde, wie ich war, meine Frau wollte partout nicht bei meinem Predigerbeweihräucherungsspielchen mitmachen. »Na, wie fandest du den Gottesdienst heute?«, kam die vorsichtige Frage meinerseits. Und wenn die Antwort zu allgemein ausfiel, musste ich nachhaken. »Und? Wie fandest du die Predigt?« Dieses Spiel haben wir unendlich oft gespielt. Keine Reaktion zu bekommen hieß für mich, ich hatte grandios versagt.

Meine eigene Einschätzung von meinem Dienst liegt immer im Negativen. Nie bin ich zufrieden. Es könnte stets mehr sein. Die mir selbst gelegte Latte liegt immer höher als meine Möglichkeit, sie zu überspringen. Ganz fromm könnte ich auch sagen, dass meine Erwartungen an Gott, meine Hoffnungen, ja, mein Glaube sehr groß sind. Und diese zu hohen Erwartungen werden dann oft von der Realität bitter eingeholt. So laufe ich auch stets mit einer Enttäuschung von Gott herum. Er handelt nicht in dem Maße, wie ich es mir von ihm erbeten haben. Fast immer.


Die Angst war diesmal wieder sehr schlimm. Vor allem ausgelöst durch das plötzliche Aufstehen der Gruppe von Jugendlichen in der Mitte der Predigt.

In der nachfolgenden Zeit hängt mir dieser Gottesdienst noch lange nach. Es muss mir gelingen, das zu leben, was ich auch selbst predige, wovon ich überzeugt bin. Gott ist Liebe. In diesen drei Worten ist das ganze Evangelium zusammengefasst. Alles muss sich dem unterordnen. Jede Forderung, jedes Gesetz, jede Moral. Denn diese Liebe Gottes ist für uns bedingungslos. Und wenn sie bedingungslos ist, dann muss das auch bedeuten: Gott liebt mich, selbst wenn ich versage. Seine Liebe ist an keine Leistung geknüpft und auch nicht an den Erfolg oder Misserfolg einer Predigt. Die Zuneigung Gottes zu mir ist so groß, dass sie jedes Versagen aufsaugen und eliminieren kann. Sie hat die Kraft, mich frei zu machen. Frei von mir selbst, frei von meinem Ego und auch frei von der Angst. Ich muss dahin kommen, dass ich diese Liebe wirklich an mich ranlasse. Sie muss mich ausfüllen und von innen heraus verändern. So steht es doch in der Bibel, oder? Diese biblischen Worte wirken von außen und innen, fast so wie Medikamente. Sie können helfen, aber in diesem Fall sind sie nie ganz tief bis in mein Herz vorgedrungen. Wenn Gott mich liebt, brauche ich eigentlich keine Affirmation von Menschen mehr, so einfach ist das. Und doch ist es so sauschwer umzusetzen und zu glauben.

Im Übrigen braucht jeder Mensch Liebe von anderen Menschen. Das lehrt uns die Psychologie schon viele Jahrhunderte. Wenn ein Mensch keine Zuneigung bekommt, dann wird er schwer krank und stirbt. Der deutsche König und römische Kaiser Friedrich II. machte im 13. Jahrhundert ein barbarisches Experiment. Er nahm Müttern ihre neugeborenen Kinder weg und ließ sie von gedrilltem Personal aufziehen, ohne dass die Kinder auch nur eine Form der Zuneigung durch Worte oder Berührung erfahren konnten. Die Ammen durften die Kinder nicht streicheln, nicht liebkosen, nicht mit ihnen sprechen. Sein Ziel war es herauszufinden, ob diese so behandelten Kindern in eine Art Ursprache zurückfallen, seine Vermutung war, es wäre Hebräisch. Doch das Ergebnis ist bis heute schockierend. Alle Kinder starben. Sie konnten ohne Zuneigung, ohne Liebe durch Worte oder Berührungen einfach nicht existieren. Babys ohne menschliche Liebe sterben.

Ich glaube ganz fest, dass Gottesbilder entscheidend sind für das Lebensglück eines Menschen. Ich habe dazu sogar ein eigenes Buch geschrieben, als mir das bewusst geworden ist. Immer wieder stelle ich bei Christen fest, dass ihre Probleme unmittelbar damit zusammenhängen, dass sie ein ganz schlechtes Bild von Gott haben. Diese Vorstellung versteckt sich hinter frommen Masken, verkleidet mit schönen biblischen Floskeln. Aber es ist trotzdem ein krank machendes Gottesbild.

Ende des 18. Jahrhunderts gab es einen weltweiten Aufbruch in der Christenheit, der im Rückblick den Namen »Heiligungsbewegung« bekam. Diese Bewegung machte sich im sogenannten Pietismus breit, im Rahmen von protestantischen Kirchen und Freikirchen. Das Gottesbild, welches hier propagiert wurde, war eindeutig. Gott ist ein heiliges, überirdisches Wesen, dem man nur begegnen kann, wenn der Christ ebenfalls heilig lebt. Darum Heiligungsbewegung. Mit heilig war ein moralisch einwandfreies Leben gemeint. Wer Gott begegnen wollte, musste in seinen Gedanken, Worten und Taten gemäß eines strikten Moralkodexes leben. Diesen Kodex nahmen die Christen aus Aussagen der Bibel, welche aber meist aus dem historischen und inhaltlichen Zusammenhang gerissen wurden.

So wurde die Bibel zu einer Art Normenregister umgemünzt, zu einem moralischen Gesetzbuch, aber dieses auch nur in eine gewisse Richtung interpretiert. Lachen war Sünde. Alkohol trinken war Sünde. Musik war weitestgehend auch Sünde. In einigen Gottesdiensten im Pietismus durfte keine Musik ertönen. Denn, so glaubte man, Töne und Rhythmus waren weltlich und nicht geistlich, sie stammten aus einer säkularen Quelle und nicht aus einer himmlischen. Ich habe gehört, dass noch vor Jahren Schlagzeuge aus manchen pietistischen Gottesdiensten verbannt wurden, weil man glaubte, Trommeln kämen aus dem Bereich des Voodoo-Zaubers. Mit ihren Rhythmen würde man dunkle Geister anlocken. Gott mithilfe von Schlaginstrumenten zu lobpreisen war für diese Christen schlicht nicht denkbar.

Auch wenn sich die meisten Gläubigen von diesem Bild befreit haben, steckt eine Vorstellung von einem strafenden, allzeit kontrollierenden Gott ganz tief in der DNA des Glaubens. Und die Kirche im Allgemeinen braucht stetig eine neue Revolution der Befreiung von diesen moralischen Normen, die wir uns immer wieder fälschlicherweise setzen. Es ist ein Wagnis, Normen zu hinterfragen. Eine Norm ist ja wie ein Wegweiser, wie eine Mauer, wie eine Begrenzung. Sie sagt uns, was wir tun dürfen und was nicht, und damit gibt sie eine Richtung vor und auch Sicherheit im Denken und Handeln. Hinterfragt man diese Norm, verunsichert das den Menschen. Es muss deshalb sofort eine neue Norm gefunden werden, wenn eine alte stirbt, sonst werden wir nicht glücklich.


Abends denke ich noch viel über diesen Einsatz nach. Bei all dem, was ich im Glauben verstanden habe, ist doch so wenig in meinem Herzen gelandet. Ob ich wirklich der Richtige in diesem Dienst als Prediger bin? Braucht es nicht Menschen, die sich nicht ständig selbst hinterfragen, um diese Aufgabe gut zu erledigen? Ist mein Zweifel nicht auch ein Zeichen, dass ich aus dem Dienst aussteigen sollte? Ist es für den Job in der Verkündigung nicht elementar wichtig, dass man einen auf die Bibel gegründeten, theologisch nicht hinterfragbaren Kanon hat? Bei mir ist ständig etwas im Wandel. Ich weiß nicht, ob ich morgen das noch glauben kann, was heute meinen Glauben definiert. Diese ständige Ungewissheit macht mich krank. Vielleicht führt mein Weg eher aus dem Dienst heraus als in den Dienst hinein. Vielleicht werde ich in absehbarer Zeit aufhören zu predigen und Texte über den Glauben und das Christentum zu schreiben. Die Angst ist unerträglich und vermiest mir den Dienst ganz und gar. Solange ich diese Fessel um meinen Hals habe, macht mir das Predigen keine Freude. Vermutlich brauche ich auch eine Auszeit. Ob ich dann jemals wieder zurückkommen werde, ich weiß es nicht.

Panik-Pastor

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