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PROLOG: Hallo Angst!

Wie alles begann.

Meine erste Angstattacke hatte ich kurz vor einer Predigt in einem Gottesdienst im Hamburger Musikklub »Marquee«. Es war die Hochzeit einer christlichen Jugendbewegung, den »Jesus Freaks«, die ich vier Jahre zuvor in meinem kleinen Wohnzimmer gegründet hatte. Ich war bereits lange Zeit überzeugter evangelisch-freikirchlicher Christ, ordinierter Pastor und erster Vorsitzender des als gemeinnützig anerkannten Vereins der »Jesus Freaks«.

In diesem Punkt ist meine Reise wohl nicht typisch und entspricht nicht dem Klassiker, dem normalen Verlauf, wie man ihn in christlichen Kreisen immer wieder hört. Dort wird es doch meist so geschildert: In der Vergangenheit liegt die Hölle, die Gottesferne, der Teufel, Tod, Verlorenheit, Angst, Krankheit und Abhängigkeiten. Dann aber vollzieht der Berichtende einen radikalen Wandel. Es kommt zu einer Bekehrung: vom Saulus zum Paulus, vom Nichtchristen zum Christen. Und damit wird aus Hölle der Himmel, es entsteht Gottesnähe, Heilung, Befreiung. Das große Motto der Hippiebewegung aus den 70er-Jahren »Alles wird gut« wird zu einer bekennenden Wahrheit, und der neue Christ fliegt nur noch von Wolke sieben über Wolke acht immer weiter, der seligen Ewigkeit entgegen.

Doch bei mir war es anders.

Sicher gab es zuerst die Hölle mit all ihren Fehlern und Folgen, ihrer großen Verlorenheit. Und dann kam auch eine Phase des Himmels, in der Siege gefeiert, Heilung erfahren, eine Befreiung erlebt wurde. Doch dann kam sie wieder, die Hölle. Die Dunkelheit, das Manko von ungelösten Problemen, von Süchten, von Krankheiten, von Depressionen. Und es kam auch immer wieder die Angst, die in meinen Leben eine viel zu große Rolle einnahm. Fast so, als wollte sie mein Leben bestimmen, als wollte sie mich weiter beherrschen und mich nie ganz loslassen.

Die Angst kam in der Hochzeit der »Jesus Freaks« immer wieder und nahm in meinem Leben eine viel zu große Rolle ein.

Trotz dieser Angst hatte ich mit den »Jesus Freaks« meine ganz eigene Kirche gegründet. Wir feierten unsere Gottesdienste nicht in alten Kirchengemäuern. Wir gingen auf die Straße, an ausgefallene Orte, dorthin, wo sich sonst kein Christ gerne sehen lässt. Auf der Reeperbahn in St. Pauli, mitten im Rotlichtviertel, neben Prostituierten und Junkies, in dunklen Kellern und versifften Bars. Aber auch im alten Hamburger Elbtunnel oder mitten auf einem zentralen Platz im Szeneviertel stimmten wir unser Gotteslob an. Zur Kirche wurde auch das »Marquee«, ein damals stadtbekannter alternativer Musikklub in Hamburg. Er lag gleich neben der weltbekannten und immer noch besetzten Hafenstraße, mit Blick auf die Elbe und den Hamburger Hafen. In seinem Keller war jahrelang eine besonders dreckige Transsexuellen-Prostitution zu Hause. Genau dort richteten wir unser Büro ein. Der Klub war bekannt dafür, dass Bands wie »Nirvana«, »Faith No More« oder »Queens of the Stone Age« dort spielten, lange bevor sie überhaupt irgendjemand kannte. Über zufällige Umstände kam meine Gruppe in diese Klubräume rein und konnte hier am Freitagabend ihre ungewöhnlichen Gottesdienste zelebrieren, bevor das Hauptprogramm startete.


Und genau dort passierte es, dort ging mein Kampf mit der Angst los.

Warum ausgerechnet in einem Gottesdienst? Lange zerbrach ich mir darüber den Kopf. Ich konnte es nicht verstehen. Hatte der Kampf spirituelle Gründe oder doch nur menschliche? Kam er aus dieser oder aus einer anderen Welt, aus einer unsichtbaren, geistlichen Dimension? Ging es um psychologische Ursachen oder um übernatürliche, ja, sogar dämonische Fakten?

Das Selbstverständnis von Christen müsste sich doch eigentlich ganz anders anfühlen. Jesusnachfolger glauben einfach. Bedeutet: Sie vertrauen, sie vertrauen auf einen Gott. Das entscheidende Wort »Glaube« wird in moderneren Bibelversionen sehr oft mit Vertrauen übersetzt. Es geht um ein Grundvertrauen an ein allmächtiges, übernatürliches Wesen, das schon alles irgendwie gut machen wird. Eine Macht, die größer ist als wir selbst, die den Überblick hat, der man sich blind anvertrauen kann. Wie ein gigantisches Sicherheitsnetz, welches unter jedem Leben aufgespannt wurde, so sollte der Glaube wirken. »Niemand kann tiefer fallen als in Gottes Hand«, dieser Satz fällt in jeder Kirche – ständig. Angst hat keinen Platz, wo Vertrauen großgeschrieben wird. Angst und Vertrauen, das sind doch Gegensätze. Oder?

Christen sollten per se die entspanntesten Menschen der Welt sein. Fehler sind erlaubt, bei Christus waren sie das. Der Gottessohn hatte sich mit Verlierern umgeben und liebte sie trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb. Prostituierte, Zöllner, Straßenpack, Versager, Sünder, das waren seine engsten Freunde.

Zu Christus zu gehören bedeutet eigentlich auch, ein »Alles-wird-gut-Feeling« in Dauerpacht zu besitzen. Die Erlösung mit einem Gebet, Frieden im Geist, über den Dingen stehen, siegen und nicht verlieren, den Himmel auf Erden. Ohne Schuldgefühle, ohne Sorgen, ohne Ängste leben zu können. Der Gott der Bibel bezeichnet sich an einer Stelle sogar als »Friedensfürst«. Der Fürst des Friedens, der Chef des »Entspanntseins«, bei ihm ist alles friedlich und gut. Ist das nicht der Wahnsinn, ein großartiges Geschenk? Sicher, das ist es. Aber nicht bei mir. Bei mir regierte nicht der Frieden, zumindest in diesen Augenblicken. Vor jeder Predigt gab es nur eins: die nackte, schmerzhafte, tödliche Angst.


Ich weiß immer noch nicht, woher die Angst auf einmal kam. Sie war anfangs nicht da. Zumindest nicht so stark, dass sie mich behindert hätte. Lag es an einer andauernden Überarbeitung? War mir die ganze Sache mit dieser christlichen Arbeit doch über den Kopf gewachsen? Hatte ich vielleicht im göttlichen Dienst Gott selbst aus dem Blick verloren? Ging es nur noch um mich, um meinen Ruf, um meine Arbeit, um meine Jugendbewegung, und nicht mehr um ihn und um seine Kirche? Letzteres wäre zumindest eine logische Erklärung. Wenn nur noch mein Erfolg im Mittelpunkt meines Denkens stand, dass ich gut aussah, dass mein Dienst unbedingt erfolgreich sein musste, dann hätte ich allen Grund gehabt, Angst zu haben. Niemand ist perfekt. Eine schlechte Darstellung der eigenen Person, Misserfolge, so etwas kann passieren. Und zwar jedem.

Auch wenn der Verdacht für den Beobachter naheliegt: Von Beginn an war das nicht meine Einstellung. Ganz im Gegenteil, es ging mir nie um mich, sondern nur um die göttliche Sache. Dazu war ich viel zu fromm. Ich wollte, dass jeder etwas mitnimmt, dass durch meine Arbeit Menschen göttlich geholfen wird. Ich wollte auch in meiner Hochphase der Angst Verlorene retten, Kaputten Heilung bringen, das war mein vordergründiger Antrieb. Vielleicht war aber auch genau dieser Anspruch viel zu hoch und kaum zu erfüllen?

Dieses Angstgefühl ist schwer zu fassen, ich kann es nur ungenau beschreiben. Es ist eine Angst, Fehler zu machen, ja, das stimmt. Aber nicht das allein, es ist mehr. Ich habe Angst, mich zu blamieren, und ich habe Angst, dadurch der Bewegung zu schaden, ja sogar der Kirche selbst, dem Ruf des christlichen Glaubens. Ich will nicht peinlich sein. Es ist eine Angst zu versagen. Und es ist die Vorstellung, dass ich mit einem schlechten Auftritt dem Fortschritt des Glaubens im Weg stehen könnte, anstatt ihn zu fördern.

Das Gefühl genau und exakt auszumalen – es gelingt mir nicht. Die Angst ist diffus, schwer zu fassen und auch veränderbar. Und doch so real, so schmerzhaft, lähmend, zersetzend, ja, fast tödlich. Angst als pures Gefühl, das mich übermannt, vor der ich nicht fliehen kann, die die Kontrolle übernimmt, der ich nichts mehr entgegensetzen kann, weil sie so stark ist.

Es ist wie sterben. Jedes Mal vor einer Predigt sterbe ich.

Wie oft habe ich Gott angefleht, mir die Angst zu nehmen. Ich habe gefastet, Christus gebeten, mich von dieser Marter zu befreien. Seelsorge in Anspruch genommen, Therapien gemacht, Bücher gelesen, Strategien entworfen. Tabletten genommen, Medikamente geschluckt. Nichts hat nachhaltig geholfen. Sie war zu dieser Zeit immer da und begleitete mich stets. Wie ein immer wiederkehrender Dämon, der sich nicht abschütteln lässt, trotz spirituellem und psychologischem Kampf.


Der Gottesdienst, in dem die Angst zum ersten Mal kam, fand eigentlich unter keinen besonderen Umständen statt. Ich war wirklich gut vorbereitet, meine Predigt saß. Es lag eine volle Arbeitswoche hinter mir, aber trotzdem gab es genug Zeit, dass ich mich ausreichend auf den Dienst einstellen konnte. Das Thema der Predigt kam mir zugute, und ich hätte auch viel spontan dazu sagen können, selbst wenn ich mich nicht vorbereitet hätte.

Vielleicht war es die Anwesenheit von einem Reporter der TAZ. Er hatte sich in der Woche zuvor per E-Mail angekündigt, unseren Gottesdienst besuchen zu wollen. Die TAZ ist bekanntlich darauf spezialisiert, kirchliche Themen mit bissigen, verächtlichen und scharfen Worten in der Luft zu zerreißen. Der Reporter hatte mich vorher über drei Stunden interviewt und sehr viele Fragen gestellt. Das Gespräch lief eigentlich gut, ich war gelassen, freundlich und vielleicht sogar ein bisschen witzig.

Aber dann, in dem Augenblick, als der Gottesdienst anfing, spürte ich, wie es um meinen Kopf herum heiß wurde. Das Adrenalin stieg in mir auf und übernahm langsam, aber unaufhörlich die Kontrolle. Ich konnte nichts dagegen tun, es war stärker als mein Wille, meine Entscheidungskraft. Dieser Moment war das Grauen. Ich fühlte eine aufsteigende Wärme, fing an zu schwitzen und mir wurde übel. Und dann der Darm, oh ja, der Darm! Ich rannte aufs Klo und musste mich komplett entleeren. Immer wieder neu. Ich hatte Krämpfe und Schmerzen. Und ich konnte nicht fliehen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich musste die Situation bestehen, ich musste da jetzt durch. Niemand wusste davon, es war mein Geheimnis. Ich wollte diese Schwäche nicht eingestehen, sie sollte nicht öffentlich werden. Es wäre eine zu große Blamage gewesen und passte nicht zum Bild eines erfolgreichen Christen. Nach einer Weile wurde mein emotionaler Zustand etwas besser, vielleicht gewöhnte sich der Körper an den harten Adrenalinausstoß. Aber kurz vor der Predigt rannte ich ein zweites Mal auf die Toilette. Alles musste raus. Wieder und wieder. Magenkrämpfe. Schlimme Schmerzen. Es war wie ein langsamer Tod, aber auch wie eine Geburt.

Schließlich war es so weit. Ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich wollte der große Prediger sein, der mit seinen Worten die Gemeinde begeistern und mitreißen kann. Aber an meinem Hals waren überall tiefrote, hektische Flecken. Sie waren so rot und so abgegrenzt, dass jeder, der bis zu einem Meter vor mir stand, sie sehen konnte, ja, sehen musste. Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich sprach mir Mut zu, ich sagte Bibelverse auf, ich meditierte. Wenn es ging, bekannte ich wild irgendwelche Sünden, damit nichts zwischen Gott und mir stehen konnte. Aber ich schaffte es nicht. Das letzte Lied spielte. Die Ansage kam. Dann war ich dran. Der Gottesdienstleiter rief meinen Namen auf. Langsam ging ich den Gang entlang. Ich betrat die Bühne, das Scheinwerferlicht knallte mir ins Gesicht. Und dann starb ich.


Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, bin ich immer noch unterwegs. Ich besuche Gemeinden, Gottesdienste, freie Werke. Ich werde eingeladen, um geistliche Wahrheiten zu verkünden, um eine biblische Predigt zu halten oder eine Lesung. Auch an öffentlichen Diskussionsrunden, Talkshows, Fernsehsendungen nehme ich teil. Man erwartet von mir Antworten und Lösungen. Vielleicht sogar eine Provokation, einen Ruf ins Leben oder einen Ruf zum Kreuz Jesu Christi.

Kirchenübergreifend werden mir Türen geöffnet, durch die ich gerne eintrete. Ich fühle mich von Gott beauftragt, auch wenn das nach einer religiösen Psychose klingt.

Wenn das nicht so wäre, würde ich diesen Job nicht machen, ich hätte schon längst aufgeben. Dieser Auftrag gibt mir ein Gefühl von spiritueller Sinnhaftigkeit. Eine Gewissheit, der richtige Mensch am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt zu sein. Es ist wie eine Bestimmung, eine göttliche Berufung, eine Aufgabe nur für mich, direkt aus dem Himmel.

Darum gehe ich auf die Reise, eine Reise mit Gott durch die Gemeinden in Deutschland und in anderen Ländern. Aber immer auch eine Reise zu mir selbst, zu meinen Abgründen. Eine Reise mit mir und der Angst.

Panik-Pastor

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