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3 SCHNEEBERG Juni 2012 Angst auf einem Schuleinsatz in Schneeberg, ein Tagesseminar mit der Jugend und wie ich dem Satan übergeben wurde
ОглавлениеDie Zugfahrt nach Schneeberg ist mal wieder ein Genuss. Grüne Landschaften, wunderschöne Waldstücke, bis man endlich die ersten Gipfel vom Erzgebirge erkennen kann. Ich freue mich schon sehr auf die Zeit bei den alten Freunden. Die freie evangelische Gemeinde Schneeberg lädt mich nun schon über einige Jahre immer Ende Januar für ein ganzes Wochenende ein. Ich weiß gar nicht mehr, wie der erste Kontakt zustande kam. Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, es ist so, als käme ich nach Hause. In all den Jahren sind richtiggehend tiefe Freundschaften entstanden. Ein wenig hat mich die Gemeinde adoptiert und umgekehrt auch ich die Gemeinde. Die drei Tage in Sachsen sind jedes Mal sehr intensiv. Meist fangen wir bereits am Freitag mit einer Veranstaltung in der Schule an, abends gibt es ein Treffen mit den Leitern der Jugend. Samstag wird ein Tagesseminar angesetzt mit einem überregionalen großen Abschlussgottesdienst in der Kirche. Und Sonntagmorgen darf ich zum Abschluss noch einmal im Gottesdienst der Erwachsenen der Gemeinde predigen. Meine Veranstaltungen in Schulen haben immer mit meiner Volxbibel zu tun, die ich Anfang des neuen Jahrtausends schreiben durfte. Damals arbeitete ich in einem städtischen Jugendzentrum, und mir fiel auf, dass viele biblische Begriffe für junge Menschen eine vollkommen andere Bedeutung bekommen hatten. Sünde war etwas Positives geworden, der Heilige Geist ein anderes Wort für Schnaps und bei den Zehn Geboten gab es Assoziationen zur Straßenverkehrsordnung. Darum habe ich versucht, die ganze Bibel in einer Art Straßensprache zu übertragen, mit Worten und Bildern aus der heutigen Zeit. Mein Bibelbuch wurde von konservativen Kreisen damals stark kritisiert, war aber auf der anderen Seite ein richtig großer Verkaufshit. Es landete sogar in der säkularen Bestsellerliste unter den Top 20.
Der Pastor hat die Kirche in Schneeberg nicht selbst gegründet, er kam erst später dazu. Dennoch steckt er mit seinem ganzen Herzen mitten in der Arbeit.
Endlich kommt mein Zug am Bahnhof an und der Pastor begrüßt mich wie immer sehr herzlich. Seine Kinder hatten zufällig schon in jungen Jahren Kontakt mit den »Jesus Freaks«, daher gibt es schnell ein gutes Einstiegsthema. Für ihn ist es eine positive Entwicklung, dass seine Kinder mit meinem geistlichen Werk zu tun haben. Schon bei einem unserem ersten Zusammentreffen vor vielen Jahren erzählte er mir, dass nach seiner Einschätzung die Töchter wohl nichts mehr mit dem Glauben an Gott zu tun haben würden, wenn es nicht die »Jesus Freaks« gegeben hätte. Das finde ich schön.
Nach einer längeren Fahrt kommen wir in der Mittelschule in Schneeberg an. Die Lehrerin wartet schon vor dem Eingang auf uns. »Guten Tag, Herr Dreyer, schön, dass Sie da sind!« Ich grüße zurück.
Um ehrlich zu sein, fallen mir solche Schuleinsätze immer sehr schwer. Ich habe damit einmal eine sehr schlechte Erfahrung gemacht. Schüler sind ab einem gewissen Alter unberechenbar. Eine Schulstunde über die Volxbibel kann eine wunderbare Sache sein. Sie kann sich aber auch zu einer absoluten Horrorveranstaltung entwickeln, zumindest für den Pädagogen, also für mich.
Vor Jahren sollte ich einmal in einer Kölner Gesamtschule die Volxbibel als Projekt vorstellen. Vor den drei elften Klassen lief es noch hervorragend. Die Schüler stellten die richtigen Fragen, ich war locker und entspannt, die Sitzung war ein voller Erfolg. Dann kamen drei zehnte Klassen und hier lief es sogar noch etwas besser. Am Ende der Unterrichtsstunde hob ein junges Mädchen die Hand und fragte: »Sagen Sie, so wie Sie über diesen Jesus reden, hat man das Gefühl, Sie glauben wirklich, dass es den gibt, oder?« Was für eine Steilvorlage. »Ja, natürlich glaube ich das!«, antwortete ich freudestrahlend. »Ich habe vorhin noch mit ihm gesprochen!« Anschließend konnte ich ausführlich das Evangelium erklären und die staunenden Schüler hörten mir dabei aufmerksam zu.
Aber dann kamen die neunten Klassen. Und das war der reine Horror. Bereits nach fünf Minuten spürte ich eine große Unruhe im hinteren Teil des Raumes. Dort saßen vier Jugendliche, die sich aus meiner Lesung einen Spaß machen wollten. Ich war pädagogisch vollkommen überfordert. Mit allem hatte ich gerechnet, auf alles war ich vorbereitet, aber nicht darauf, verlacht zu werden. Die vier hoben nacheinander immer zu einem falschen Zeitpunkt die Hände und stellten nicht ernst gemeinte Fragen, die mich vollkommen aus der Fassung brachten. »Würde Jesus auch Fußball spielen?« Oder: »Was für Kleidung trug Jesus?« Das waren noch die leichter zu beantwortenden Fragen.
Dann wurde es aber immer obskurer. Ob Jesus sich die Schuhe zubinden konnte, ohne hinzuschauen, oder ob er vielleicht schwul war. Die Schüler grölten, weil ich rot anlief und krampfhaft versuchte, eine gute Antwort zu finden, die es gar nicht gab. Die Situation überforderte mich damals komplett. Und sie löste in mir natürlich eine Angstattacke aus, die ich nicht mehr beherrschen konnte. Knallrot angelaufen, im Körper eine Überdosis Adrenalin und schweißgebadet brach ich die Schulstunde nach der Hälfte der Zeit ab. Der zuständige Lehrer schritt leider nicht ein, vielleicht hatte er sogar mehr Angst als ich. Ich war mit der Situation komplett überfordert. Danach hatte ich mir eins ganz fest vorgenommen: nie wieder Schuleinsätze!
Der Leitungskreis der Schneeberger Gemeinde weiß natürlich nichts von meinem Schwur und absagen kann ich jetzt auch nicht mehr. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Köln nicht Schneeberg ist und die Jugendlichen mich vielleicht freundlicher aufnehmen werden als die aus der viertgrößten Stadt Deutschlands.
In der Klasse angekommen, verspüre ich sofort wieder den Adrenalinanstieg im Blut. Das Lampenfieber kommt. Meine hektischen Flecken am Hals sind nun für jeden sichtbar, und das ist mir extrem peinlich. Meine Ängste sind, wie ich finde, in dieser Situation vollkommen berechtigt. Niemand mag es, wenn eine Gruppe von jungen Menschen die eigene Unsicherheit spürt. Das fühlt sich mies an. Ich versuche, das Lampenfieber zu übertünchen, mache ein paar trockene Sprüche, die aber meine starke Nervosität nur noch mehr aufzeigen. Schließlich stelle ich den Schülern mit einer PowerPoint-Präsentation kurz das Projekt Volxbibel vor. Alle hören mir mehr oder minder aufmerksam zu und nach einer Weile wird meine Angst etwas weniger. In diesen Lampenfiebersituationen hilft eine Präsentation mit Folien sehr, weil sie einem Skript gleichkommt, dem man stur folgen kann, egal, wie man sich fühlt.
»Im nächsten Teil möchte ich mit euch ein kleines Experiment wagen. Ich gebe euch hier in Kopie einen ganz berühmten Text aus der Bergpredigt. Jesus sagt dort einige extreme Worte zum Thema Gewalt. Ich habe von eurer Klassenlehrerin gehört, dass ihr an der Schule gerade ein Problem mit Gewalt auf dem Schulhof habt, ist das richtig?« Einige Schüler nicken, besonders die Mädchen. »Teilt euch bitte in fünf Gruppen auf und versucht diesen Text einmal zu vervolxbibeln. Das heißt, dass ihr ihn in eure eigenen Worte umformulieren sollt, mit Bildern, die ihr benutzen würdet. Es soll in eurer Sprache vom Schulhof ausgedrückt werden, was Jesus hier eigentlich sagen will. Versteht ihr?« Die Klasse macht erstaunlich gut mit. Ich bin erleichtert, denn das pädagogische Werkzeug, Jugendliche für eine Aufgabe zu motivieren, habe ich eigentlich nicht. Und es beruhigt mich ungemein zu sehen, dass ich die Jugendlichen beschäftigen kann.
An den fünf Tischen herrscht ein reges Treiben. Ich gehe durch den Raum und kann die Diskussionen mitverfolgen. Teilweise ringen die Schüler richtig um einzelne Formulierungen, wie schön. Am Ende bitte ich die Jugendlichen, einen Vorleser aus jeder Gruppe zu bestimmen, der das Ergebnis in Form einer Lesung der Klasse vorträgt. Als Erstes kommt ein kleiner blonder Junge nach vorne. »Wir haben uns lange darüber unterhalten, was man aus dem Vers machen kann: ›Und wenn jemand dir auf die rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar‹ (Matthäus 5,39). Unser Ergebnis ist so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand auf die Fresse haut, dann sag ihm, dass er dir auch noch mal in den Magen boxen soll.‹« Staunendes Gelächter in der Klasse. Ich lobe das Ergebnis, denn es trifft die Aussage Jesu nach meinem Verständnis sehr gut.
Schließlich kommt die letzte Gruppe nach vorn. »Wir haben uns Folgendes überlegt: Bei uns kam es schon vor, dass Jungs aus den höheren Klassen unsere Handys abgezogen haben. Darum ist unsere Übertragung so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand das iPhone klaut, dann schenke ihm deinen iPad noch dazu!‹«. Super, genau das ist es! Lauter Applaus in der Klasse und auch ich bin schwer begeistert. Nach dem Unterricht verlassen wir die Schule und gehen fröhlich zum Mittagessen. Das war schon mal ein guter Einstieg.
Nachmittags geht es dann weiter. Der Abendgottesdienst mit der Jugend aus dem Nachbarort ist wieder sehr voll. Ich wurde vom Veranstalter angefragt, die Predigt zu halten, und das mache ich sehr gern. Auch wenn das aus meinem Mund komisch klingt, es ist für so einen kleinen Ort immer ein Ereignis, wenn jemand aus der Hauptstadt anreist, um dort zu predigen. Das zieht mehr Leute an und die Erwartungen sind dementsprechend groß. Trotzdem ist die Angst sehr viel weniger als sonst. Relativ locker stehe ich vorn und predige zu den jungen Menschen. Später frage ich mich, ob es vielleicht so eine Art Adrenalinspeicher im Körper gibt. Wenn der erst einmal ausgeschüttet ist, braucht es eine Weile, bis sich neues Adrenalin gebildet hat. Vielleicht könnte das eine Lösung für meine Panikattacken sein? Einfach ein paar Stunden vor einer Veranstaltung eine aufregende Sache machen, um das ganze Adrenalin zu verpulvern? Klingt gut, ich werde die Idee weiterverfolgen.
Abends bin ich ganz schön kaputt und schlafe schnell ein. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen bittet mich der Jugendleiter der Gemeinde zu einem besonderen Einsatz. Es geht um einen jungen Mann aus der Gemeinde, der schwer drogenabhängig ist. Wir sollen ihn besuchen und ich soll mit ihm reden. Auf dem Weg dorthin erzählt mir der Leiter, dass die Eltern ihn in der Woche zuvor um Hilfe gebeten hätten. Der Junge verschanze sich tagsüber seit Wochen in seinem Zimmer. Nur nachts gehe er raus, um sich neue Drogen zu beschaffen. Sie wüssten einfach nicht mehr weiter und hätten den Pastor immer wieder um Rat gebeten. Und dieser hat nun mich engagiert, um das Problem zu lösen. Ich empfinde es als eine absolute Überforderung.
Nach einer langen Fahrt kommen wir beim Haus an. Nachdem wir das Auto geparkt haben, betreten wir die Einfahrt, wo wir von den Eltern gleich begrüßt werden. Die Mutter des Jungen macht auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck. »Herr Dreyer, Sie müssen uns helfen! Bitte sprechen Sie mit unserem Jungen! Sagen Sie ihm, dass dieser Weg in den Tod führt! Wir wollen unseren Sohn nicht verlieren!« Um ehrlich zu sein, fühle ich mich überrumpelt. Immer wieder begegnen mir in meinem Dienst solche überhöhten Erwartungen. Eltern, die glauben, Martin Dreyer müsste nur einmal mit ihrem Kind reden und anschließend hört dieses sofort auf, Drogen zu nehmen, wird ein ordentlicher Mensch und absolviert im nächsten Jahr sein Abitur mit Auszeichnung. So ein Quatsch. Niemand kann so etwas bewirken und ich erst recht nicht. Weil ich aber zum Dienen nach Schneeberg komme, kann und will ich mich der dringenden Bitte der Eltern nicht entsagen.
Gemeinsam gehen wir die Treppe zum Dachboden hoch, auf dem der Sohn seinen eigenen Wohnbereich von den Eltern bekommen hat. Wir klopfen an die Tür und hören nur ein lautes Klappern und Rascheln. Die Mutter versucht die Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. »Hey! Ich will dir nichts tun! Ich möchte nur mit dir reden!«, rufe ich durch das Schlüsselloch. Keine Antwort. Plötzlich hört man einen Knall, so als würde ein Fenster aufgestoßen werden. Die Mutter öffnet die Tür mit einem Zweitschlüssel, und wir sehen noch den Schatten von ihrem Sohn, wie er aus dem Fenster nach draußen springt. Er landet auf dem Boden und flieht schnellen Schrittes in den umliegenden Wald.
Ich überlege kurz, ob ich ihn jetzt verfolgen sollte. Von der Geschwindigkeit her müsste ich den jungen Mann einholen können mit meinen langen Beinen. Aber ich entscheide mich dagegen. Ich schau mich im Zimmer um. Es beherbergt eigentlich nur eine schwarze Matratze, die auf den Boden liegt und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Der Raum ist sehr verdreckt, überall liegen leere Dosen mit ausgedrückten Zigaretten rum. Es riecht nach einem Gemisch aus altem Schweiß und Chemie. Auf dem Tisch kann man eine Menge kleiner Schnipsel von Aluminiumfolie erkennen, die sauber übereinandergelegt sind. Daneben liegt ein kleiner Spiegel zwischen mehreren kurzen Strohhalmen. »Wollen wir vielleicht noch in dem Zimmer beten?«, frage ich die in Tränen aufgelöste Mutter. Sie nickt still. Der Jugendleiter, die Mutter und ich fassen uns an den Händen und beten, was das Zeug hält. »Jesus! Befreie diesen Jungen von seiner Sucht«, bete ich. »Begegne ihm und schenke ihm ein neues Leben!« Nachdenklich fahren wir weiter, um noch rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Der Jugendleiter und ich reden die ganze Strecke kein Wort. Vermutlich, weil wir beide etwas ratlos sind.
Der Jugendgottesdienst am Abend ist gut besucht, aber läuft relativ vorhersehbar. Dafür soll es am nächsten Morgen noch einmal zu einem kleinen Aufreger kommen.
Der Abschluss meiner Reise in Schneeberg findet, wie bereits erwähnt, im Sonntagmorgengottesdienst statt. Die einladende Freikirche feiert jeden Sonntag im zweiten Stock eines ehemaligen Wohnhauses ihre Gottesdienste. Überall stehen Stühle im Raum. In der Mitte ist ein langer Gang, der nach vorne zum Rednerpult führt. Dort steht bereits die Band, welche sich mit Schlagzeug, E-Bass und Gitarre auf den Gottesdienst einspielt. Der Raum fasst gut und gern 250 Menschen. Er füllt sich zusehends, selbst im hinteren Bereich der Freikirche gibt es keine Sitzplätze mehr. Nach dem wirklich guten, weil lebendigen Musikteil predige ich über ein neues Thema. Ich lese einen Abschnitt aus der Bibel im Johannesevangelium. Titel meiner Predigt ist: »Anleitung zum Glücklichsein«.
Ganz subjektiv habe ich das Gefühl, dass an diesem Morgen weit mehr von meiner Botschaft ankommt als an den Tagen zuvor. Ich spüre so eine Art Kraftwirkung beim Sprechen und der Aufmerksamkeitslevel scheint extrem hoch zu sein. Und ich habe nur sehr wenig Angst, die Panikattacke ist kaum zu spüren. Vielleicht ist da doch etwas Wahres an der Theorie, dass ein Mensch sein Adrenalin verbrauchen kann und dieses nicht so schnell wieder nachproduziert wird? Es macht mir heute Morgen sogar richtig Freude, mit meinen Worten eine ermutigende Botschaft an die Gemeinde zu richten.
Wenn ich in einer Predigtsituation drin bin und die Angst überwunden ist, erlebe ich das manchmal wie eine Art Rausch. Ich vergesse für eine Zeit, wo ich mich gerade befinde und was ich hier mache. Es zählt nur noch der Augenblick. Die Worte fließen einfach so aus mir heraus und jedes Nicken, jeder anerkennende Blick wirkt wie die Anfeuerungsrufe beim Fußballspiel aus der Westkurve. Auch ohne dabei großartig emotional zu werden, spüre ich, wie eine Energie von meinen Worten ausgeht und diese Energie zurückkommt. Ich empfinde, natürlich ganz subjektiv, dass Gott in diesem Moment sehr stark anwesend ist und dass er mich gebraucht, in dem Maße, wie ich es zulasse. Das ist schön.
Die Predigt verläuft in den folgenden Minuten außerordentlich gut. Viele der Gemeindemitglieder kenne ich ja nun mittlerweile. Ich schaue beim Sprechen in die Runde und nehme wahr, wie mich einige der Christen in Schneeberg freundlich anlächeln. Diese Gemeinde ist tatsächlich schon fast eine Art Familie für mich geworden. Zum Ende hin bringe ich noch einen Abschlusssatz. »Darum wäre es gut, wenn wir uns alle mehr auf dieses Abenteuer Glauben einlassen würden, wir sollten uns alle ganz auf unsere Beziehung zu Gott besinnen«, sage ich zum Schluss. Es folgt das obligatorische »Amen«.
Als Nächstes habe ich vor, die Gemeinde gemeinsam beten zu lassen. Ich möchte die Christen dazu anleiten, Gott um einen Durchbruch zu bitten in dem Thema, um das es in meiner Predigt ging.
Urplötzlich erhebt sich ein älterer Herr von seinem Platz aus der hinteren Reihe. Er drängt sich zum Mittelgang, stürmt mit großen Schritten nach vorne auf mich zu. Der recht groß gewachsene Mann baut sich direkt vor der Bühne vor mir auf und blickt mich mit dunkelbraunen Augen ganz fest an. Dann streckt er seine Hände in meine Richtung. Mit lauter und durchdringender Stimme schreit er mir wutentbrannt und voller Aggression folgenden Satz entgegen:
»MARTIN DREYER! HIERMIT ÜBERGEBE ICH DICH DEM SATAN! DEINE SEELE SOLL IN DER HÖLLE VERBRENNEN!!!«
Danach dreht sich der ältere Herr auf seinen Hacken um und verlässt mit schnellen Schritten die Kirche, genauso überraschend, wie er gerade nach vorne gekommen ist.
Und ich? Ich bin sprachlos. Ich bin konsterniert. Ich bin getroffen. Mir kullern Tränen die Wangen runter. Irgendwie habe ich in diesem eigentlich geschützten Augenblick mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Dieser Christ hat mich gerade dem Satan übergeben! Mein Herz, meine Seele ist in dem Moment vollkommen ungeschützt. Ich habe mich ganz für die Gemeinde und meinen Dienst an den Menschen geöffnet und alle Schutzwälle runtergelassen. Mir fehlen spontan die Mittel, um mich hinreichend für so einen Angriff zu schützen. Wumm, das hat gesessen.
Sofort stehen die Ältesten der Gemeinde auf. Fünf Christen stellen sich in einem Kreis um mich herum und beginnen zu beten. »Herr, segne Martin«, sagt einer. »Wir brechen diesen Fluch in Jesu Namen«, ein anderer. »Danke für Martin und seinen Dienst«, sagt eine ältere Dame. Sosehr die ersten Worte wehtaten, desto stärker tun mir die zweiten Worte gut. Ich nehme jede Umarmung dankbar an. Schließlich ist der Gottesdienst vorbei.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen bringt mich der Pastor wieder zum Bahnhof. Ich bin überrascht, wie nahe wir uns in den zwei Tagen gekommen sind. Ein wirklich toller Pastor, so wie man sich einen Gemeindeleiter wünscht.
Auf dem Rückweg in der Bahn denke ich noch lange über diesen Moment im Gottesdienst nach. Wie können Menschen nur so etwas tun? Sich vor jemanden stellen, den sie gar nicht kennen, und ihn laut dem Satan übergeben? Dieser Mann muss ja ganz bewusst extra in den Gottesdienst gefahren sein, nur um genau das zu tun. Er hatte es sich vorher vorgenommen, er war nur dort, um mich zu verfluchen. Das war keine spontane Handlung, das war geplant. Der Pastor versichert mir später, dass dieser Mensch in der Gemeinde gänzlich unbekannt ist. Aber was für eine Motivation steckt dahinter, wenn ein Christ, der an den gleichen Gott der Liebe glaubt wie ich, sich genötigt sieht, einen anderen Christen in die Hölle zu wünschen, nur weil er theologisch andere Einsichten hat als er? Vermutlich gehört dieser Mann zu der Front der Kritiker, die auch meine Übertragung der Volxbibel verdammen. Diese Gruppe von Christen gehen zum Teil auch im Internet recht militant gegen Andersdenkende vor. Ihr Motiv ist dabei eigentlich nur Angst. Es gibt ein Heer von angstbesetzten Christen, die hinter jeder Ecke einen bösen Dämon vermuten. Und Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Tatsächlich gibt es auch einige Prediger, die mit dieser Angst arbeiten, die eine Angst vor der Hölle und vor dem Satan schüren. Alles Negative wird dem Satan zugeschrieben, alles Positive Gott. Nur: so einfach ist das Leben nicht. Und auch die Bibel kennt viele Grautöne zwischen Schwarz und Weiß.
Ich bin nur froh, dass ich so viel Bestätigung für meinen Dienst bekomme, dass diese schlimme Form der Kritik, bis hin zum Aussprechen von Flüchen, mich nicht mehr im Tiefsten treffen kann. Auch wenn ich mich selbst als einen sehr unsicheren Menschen erlebe – dass Gott mich in seinen Dienst gerufen hat, dessen bin ich mir gewiss. Nicht alles, was ich in seinem Auftrag getan habe, war gut. Im Rückblick würde ich vieles anders machen und anders sagen. Aber dass Gott mich berufen hat und gebrauchen konnte, das habe ich zu oft und zu unzweifelhaft erlebt. Also: Geh weg, Satan, du hast mich nicht bekommen.