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Musik in den alten Reichen
… zum Beispiel in China

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Die jahrtausendelange Geschichte der chinesischen Musik ist gut geeignet, um den Übergang von den Bräuchen eines Naturvolks zu einer facettenreichen Hochkultur zu demonstrieren. Wir beginnen mit einer alten Legende über den Musikmeister Wen aus Zheng. Er begleitete den großen Gelehrten Xiang auf dessen Reisen und spielte drei Jahre lang die Zither, ohne eine vernünftige Melodie zustande zu bringen. »Geh lieber nach Hause«, sprach daraufhin Xiang. Meister Wen legte sein Instrument nieder und seufzte: »Es ist nicht so, dass ich keine Melodie hervorbringen könnte. Was mich hindert, hat nichts mit der Technik des Zitherspiels zu tun; und wonach ich strebe, sind keine Töne. Ich muss erst etwas in meinem Herzen erlebt haben, um mich auf meinem Instrument ausdrücken zu können. Noch wage ich nicht, meine Hand zu bewegen und die Saiten zu berühren. Gedulde dich noch ein wenig und prüfe mich dann!«

Nach einiger Zeit erschien er wieder vor Xiang: »Jetzt habe ich es geschafft. Höre mein Spiel!« Es war Frühling; doch als Wen die Shang-Saite zupfte und den achten Halbton zur Begleitung anschlug, kam ein Wind auf, und die Sträucher und Bäume begannen Früchte zu tragen. Als er die Jue-Saite zupfte, die er mit dem zweiten Halbton begleitete, erhob sich eine leichte Brise, und die Bäume und Sträucher entfalteten ihre ganze Pracht. Als er in der Sommerhitze die Yu-Saite zupfte und sie mit dem elften Halbton begleitete, senkten sich Raureif und Schnee hernieder, und die Gewässer froren zu. Als er im strengen Winter die Zhi-Saite zupfte und mit dem fünften Halbton beantwortete, begann die Sonne zu sengen, und das Eis taute im Nu. Schließlich spielte er die Gong-Saite und vereinte ihren Klang mit dem der anderen vier Saiten; da säuselten liebliche Winde, Wolken des Glücks zogen herauf, süßer Tau fiel, und Quellen sprudelten kraftvoll hervor.

Die Legende vom Musikmeister Wen klingt zunächst wie eine der vielen Erzählungen der Naturvölker über die Macht der Musik. Hört man jedoch genauer hin, erfährt man, dass nicht der Klang der Musik als solcher die Kraft besitzt, die Natur zu beeinflussen; es muss vielmehr der menschliche Wille dazukommen, eine bedeutende Tat zu vollbringen. Ist er da, kann der Mensch sogar die Natur auf den Kopf stellen: Dann wird es durch sein Spiel auf der Zither im Sommer plötzlich ganz kalt und im Winter ganz heiß.

Ist der Mensch erst einmal davon überzeugt, dass er selbst derart große Wirkungen erzielen kann, so will er auch wissen, wie ihm das gelingt – und er entwickelt Theorien, mit deren Hilfe er die Regeln und Funktionsweise von Musik erforscht.

Auch die Legende von Wen kommt nicht ohne Musiktheorie aus. Da ist von fünf Saiten die Rede, die nach bestimmten Regeln gestimmt sind und die Namen Shang, Jue, Yu, Zhi und Gong tragen. Ferner wird angedeutet, dass es ein Tonsystem mit einer aus zwölf Halbtönen bestehenden Skala gibt.

Gong – Shang – Jue – Zhi – Yu: Diese Reihe entspricht unseren Tonsilben do – re – mi – sol – la oder: c – d – e – g – a. Wir reden von »halbtonloser Pentatonik« und gewinnen die entsprechende Skala, indem wir von einem Grundton aus eine Quint aufwärts, eine Quart abwärts, wieder eine Quint aufwärts gehen, und so weiter. Also zum Beispiel: c / g \ d / a \ e .

Das ist auch uns Europäern vertraut. Wir kennen es aus Kinderliedern wie Backe, backe Kuchen. Und eine Skala von zwölf Halbtönen ist uns ebenfalls nicht unbekannt: Wenn wir auf dem Klavier der Reihe nach alle Tasten anschlagen, die zwischen einer Oktave liegen, bekommen wir sie klanglich vorgeführt. Zwar trifft nicht zu, was man früher gern behauptet hat, dass nämlich die zwölf Töne der chinesischen Skala genau mit unseren zwölf chromatischen Halbtönen identisch sind. Aber zumindest gibt es große Ähnlichkeiten.

Grob gesagt, benutzt die chinesische Musik die fünf Töne do – re – mi – sol – la als Grundlage des Musizierens. Die Saiteninstrumente sind meist entsprechend der pentatonischen Skala gestimmt. Der größere Vorrat von zwölf Halbtönen ist freilich nicht überflüssig: Er erlaubt es, die Skala zu transponieren, also mit einem anderen Grundton, zum Beispiel cis, anfangen zu lassen: cis – dis – eis – gis – ais. Und außerdem dienen die chromatischen Stufen dazu, den Gesang durch Abweichungen von der Pentatonik interessanter zu machen.

Die chinesische Musiktheorie nimmt manche moderne Überlegung vorweg, hat aber vor allem Züge, die für die sehr alten Kulturvölker typisch sind: Jene Gesetze, welche die chinesischen Gelehrten über Musik aufgestellt haben, verstehen sich als Teil eines universellen Regelwerks, das den ganzen Kosmos beherrscht. Danach wurzeln alle Ordnungen, die wir kennen, im »großen Einen«, also in einer universellen Idee, die man zur Gänze weder wahrnehmen noch begrifflich fassen, jedoch in vielen unterschiedlichen Ausprägungen erleben kann. Die folgende Tabelle zeigt, wie man sich das Netzwerk kosmologischer Bedeutungen und Entsprechungen vorzustellen hat:

Töne gong shang jue zhi yu
Himmelsrichtungen Norden Osten Zentrum Westen Süden
Planeten Merkur Jupiter Saturn Venus Mars
Elemente Holz Wasser Erde Metall Feuer
Farben schwarz violett gelb weiß rot

Konfuzius, der große chinesische Weise, ließ sechs Wissenschaften gelten: das Ritual, das Bogenschießen, das Wagenlenken, die Schreibkunst, die Astrologie und die Musik. Bei ihnen allen kommt es auf ein Höchstmaß an Disziplin und Ordnung an. Und das war in China besonders wichtig: Das riesige Reich konnte nur zusammengehalten und einheitlich regiert werden, wenn es strenge, überall gültige Maße und Regeln gab, an denen niemand zu rütteln wagte.

Heerscharen von kaiserlichen Beamten waren für die allgemeine Ordnung verantwortlich. Unter ihnen gab es auch spezielle Musikbeamte, die man als musikalische Eichmeister bezeichnen könnte. Schon der legendäre Kaiser Shun, der um 2285 vor unserer Zeitrechnung an die Macht kam, befahl seinem Hauptmusiker Kui, das Musikwesen des Reiches zu ordnen und dafür zu sorgen, dass die Instrumente überall gleich gestimmt waren, die Blasinstrumente die vorgeschriebene Länge und den richtigen Rohrdurchmesser hatten usw. Wollte sich der Kaiser vergewissern, dass er seine Regierungsgeschäfte richtig und zum Wohl des Reiches durchführte, so lauschte er aufmerksam den fünf Tönen der pentatonischen Skala und den acht Arten der Musikinstrumente. Und er ließ sich die Oden des Hofes sowie die Lieder aus den Dörfern vorspielen, um festzustellen, ob sie der vorgeschriebenen Tonordnung entsprachen.

Dieser »staatstragenden« Funktion der Musik gemäß kam deren praktischer Ausübung an den Kaiserhöfen eine große Bedeutung zu. Kaiser Ming Huang (707–756) unterhielt eine Kapelle aus 1346 Musikern: eine Vorhut von 890 Gong-, Zimbel-, Trommel- und Blasinstrumentenspielern, einen Chor von 48 Sängern und eine Nachhut von weiteren 408 Musikern. Für die höfischen Tanzensembles gab es das Amt des Tanzmeisters Wushi und das Amt des Verantwortlichen für die Rinderschwänze – ein wichtiges Utensil für die zentralen Hofriten.

Vor ein paar Jahrzehnten hat man ein Gemälde gefunden, das den weiblichen Teil des Hoforchesters zeigt. Die Frauen musizieren auf Harfe, Laute, Zither, Flöte, Oboe, Mundorgel, Klapper, Sanduhrtrommel und großer Trommel. Ming Huang komponierte sogar selbst; und das Bild stellt möglicherweise die Aufführung des Liedes Der Duft der Li Dschu dar, das er für seine Lieblingsfrau Yang Gue-fe geschrieben haben soll.

Chinesische Hofmusiker lebten in relativem Wohlstand, aber auch gefährlich. Immer wieder hatten sie ihrem toten Herrn in die Grabstätte zu folgen. In einem um 433 vor unserer Zeitrechnung angelegten Grab des Provinzherrn Yi aus Hubei finden sich neben dem Verstorbenen die Überreste von jungen Frauen und von Musikern mit ihren Instrumenten.

Nicht alle Menschen waren mit dem Luxus, der am kaiserlichen Hof und von anderen Repräsentanten des Staates getrieben wurde, einverstanden. Schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung setzte sich zum Beispiel Mo-dsi, Begründer der Philosophenschule der Mohisten, für ein bescheidenes Leben ein. Die Verschwendungssucht der Vornehmen mache die Steuerlast der Armen noch drückender. Und durch Musik, so meinte Modsi, »werden die Hungrigen nicht satt, die Frierenden nicht gekleidet, die Müden nicht gekräftigt«. Von seiner Kritik ist freilich die Volksmusik ausgenommen, die weniger aufwendig und kompliziert gewesen ist, den Beteiligten jedoch mehr Spaß gemacht haben dürfte als die streng reglementierte Hofmusik.

Viele der chinesischen Musikinstrumente haben in Europa Nachfolger gefunden. Eine Besonderheit stellt jedoch die Mundorgel Sheng dar. Sie besteht aus dreizehn und mehr Bambusrohren, die in einem gemeinsamen »Windbehälter« enden. In die Rohre sind durchschlagende Metallzungen eingelassen. Bläst der Spieler Luft in den Windbehälter oder saugt er Luft aus ihm heraus, geraten die Zungen in Schwingung und erzeugen Töne.

Allerdings ist der Vorgang nicht so einfach wie das Blasen auf einer Mundharmonika. Der Spieler muss nämlich, um das gewünschte Bambusrohr zum Klingen zu bringen, ein Loch abdecken, das an dem Rohrteil außerhalb des Windbehälters angebracht ist. Und bis heute wird von Akustikern darüber diskutiert, warum nur dann ein Ton erklingt, wenn dieses Loch abgedeckt wird. Natürlich kann man auf der Mundorgel Sheng auch mehrstimmig spielen – etwa eine pentatonische Melodie mit ostinater, das heißt gleichbleibender Begleitung.

CHINA IST NUR EIN BEISPIEL dafür, dass es schon lange vor dem europäischen Mittelalter Hochkulturen mit fundierter Musiktheorie und hochorganisierter musikalischer Praxis gibt. Dass die chinesische Hofkunst – von der traditionellen Volksmusik wissen wir recht wenig – in unseren Ohren gemessen und distanziert klingt, hängt mit der Bedeutung zusammen, die sie im Staatswesen hatte: Ohne geordnete Musik kein geordnetes Gemeinwesen. Für einen pulsierenden Rhythmus, für individuelles Musikantentum ist da kein Platz: Alles ist vorgeschrieben, und dem Einzelnen bleibt kaum Bewegungsfreiheit.

Trotz alledem lässt sich von der chinesischen Musik viel lernen. Wer etwa Gitarre spielt, nennt deren sechs Saiten mit den Tonbuchstaben e – a – d – g – h – e. Und das klingt ziemlich trocken. Wie wäre es, wenn man mit den Saiten die Vorstellung von Farben verbinden würde: Schwarz, Blau, Violett, Gelb, Weiß, Rot? Oder von Himmelsrichtungen: Osten, Südosten, Süden, Südwesten, Westen, Nordwesten. Oder aber von Feuer, Erde, Wasser, Stein, Licht und Luft?

Dergleichen scheint heute höchstens etwas für kleine Kinder zu sein, denen man rote oder blaue Punkte auf das Griffbrett klebt, damit sie auf anschauliche Weise Gitarrespielen lernen. Doch in Wahrheit steckt viel mehr dahinter: Wer mit einer Gitarrensaite die Vorstellung »Rot«, »Venus«, »Frühling«, »Feuer« verbindet, kommt schnell von der Auffassung weg, Musik sei bloßer nichtssagender Klang, und wird daran erinnert, dass Musikmachen bedeutet, Teil des Universums mit seinen unendlich vielen Erscheinungen zu sein. Dann kann man sich vorstellen, man bringe mit seiner eigenen Musik ein Stückchen Ordnung in die große Unordnung, die wir Menschen in der Welt immer wieder anrichten.

Auf anderen Feldern ist man da schon weiter. So hat sich inzwischen auch im Westen das »Qi-Gong« durchgesetzt, eine Art meditativer Selbsterfahrung mit körperlichen Übungen und Musik. Da finden auch Erwachsene nichts dabei, wenn solche Übungen »Reiten des wilden Pferdes« oder »Der doppelte Drachen springt aus dem Meer« heißen, fühlen sich vielmehr an ganzheitliche leib-seelische Erfahrungen angeschlossen.

Manche europäischen Komponisten haben sich einen Sinn bewahrt für die kosmologischen Zusammenhänge, von denen hier die Rede war. Antonio Vivaldi schrieb einen Zyklus von vier Violinkonzerten, der seinen Hörern die Vorstellung von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in Tönen nahebringen soll. Von Dietrich Buxtehude, einem Lehrer Johann Sebastian Bachs, stammen sieben Klaviersuiten mit dem Titel Die Natur oder die Eigenschaft der Planeten. Und Alexander Skrjabin komponierte Musik für ein Farbenklavier. Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 war Karlheinz Stockhausen, ein ebenso interessanter wie umstrittener Komponist, damit beschäftigt, die letzten Teile eines gewaltigen musikdramatischen Zyklus mit dem Titel Licht. Die sieben Tage der Woche zu vollenden.

Die kürzeste Geschichte der Musik

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