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Kapitel 4:

Für Fredi, seinen Bruder und seine Mutter geht das Leben weiter

Einige Monate später haben wir erfahren, dass meine Mutter einen neuen Freund hat. Heute nehme ich an, dass es ihn schon gab, als sie zwei Wochen lang verschwunden war, und dass sie bei ihm Unterschlupf gefunden hatte. Sie wollte nie so recht mit der Sprache rausrücken, wenn wir sie fragten, wo sie gewesen sei. Sie meinte, anfangs sei es nur ein guter Bekannter gewesen, der sich um sie gekümmert habe, als es ihr wegen Papa so schlechtgegangen sei. Irgendwann sei dann Liebe daraus geworden. Letztendlich war und ist es mir auch egal. Ich gönne meiner geliebten Mutter alles Glück dieser Welt, da sie noch viel zu jung war, als mein Vater starb. Was sie in den Jahren davor erlebte, war ja auch nicht gerade toll gewesen. Meine Mutter war mit 27 bereits Witwe, hatte zwei kleine Kinder, und mein Vater hinterließ ihr nur Schulden.

Mein Bruder und ich freuten uns über den neuen Mann im Haus – auch wenn wir unseren Vater natürlich vermissten. Aber Kinder arrangieren sich meist (und zum Glück) sehr schnell mit den Gegebenheiten und leben absolut im Hier und Jetzt. Ich sah ihren neuen Freund Ivan jedenfalls vollkommen pragmatisch: Er war zwar nicht mein Papa, aber Mama hatte nun wenigstens einen Mann.

Bei Ivan haben wir dann recht schnell für viele Jahre gewohnt. Wir Kinder kannten ihn übrigens bereits vom Sehen, als er mit Mama zusammenkam. Er hatte früher mit meinem Vater und meinem Onkel gearbeitet; und er wohnte sogar für eine gewisse Zeit bei meinem Onkel und meiner Tante, weil er damals keine Wohnung besaß. So hat er wohl auch meine Mutter kennengelernt und war von Anfang an mit unseren schwierigen familiären Umständen vertraut. Deshalb war er mir jetzt auch nicht fremd. Und ich muss sagen, eine gewisse Zeit lang war Ivan zu uns Kindern unglaublich nett. Ein richtiger Kumpel.

Bis er auf einmal anfing, uns zu schlagen, wenn wir zu spät nach Hause kamen. Vor allem auf mich hatte er es abgesehen. Ich habe mehr Schläge abbekommen als mein Bruder. Wahrscheinlich war er eifersüchtig auf mich, weil ich schon immer Mamas Liebling gewesen bin. Keine Ahnung. Ich habe ihn nie danach gefragt, weshalb er sich mir gegenüber so brutal verhielt.

Beim ersten Mal war ich so entsetzt und überrumpelt, dass ich gar nicht dazu kam, mich zu wehren. Er hatte mich an beiden Händen gefasst, zog mich mit seinen großen Händen hoch, bis ich in der Luft hing, und hat mir dann mit seinem breiten Ledergürtel auf den Hintern geschlagen. Meine Mutter wollte dazwischengehen: „Hör auf, meinen Sohn zu schlagen“, rief sie. Da ließ er mich runter. Mir hatte es nicht viel ausgemacht, ich war es ja von meinem Vater gewohnt, ab und zu geschlagen zu werden. Ich war einfach nur entsetzt und habe ihn ab dem Moment nicht mehr gemocht.

Als ich 13 war und er mich wieder einmal schlagen wollte, bin ich hinter den Tisch gelaufen und drohte ihm: „Wenn du mich noch einmal anrührst, sage ich meinem Onkel Bescheid, dann wird er dich mal ordentlich verprügeln. Du hast kein Recht dazu. Du bist nicht mein Vater.“ Ich hatte es in Wahrheit bereits meinem Onkel erzählt, dass Ivan mich schlug. Und der meinte: „Sag ihm, wenn er das noch mal macht, dann komme ich vorbei.“ Und von dem Tag an hat er mich wirklich nicht mehr angefasst. Er meinte lediglich zu meiner Mutter: „So, jetzt kannst du sie selbst erziehen. Es sind ja deine Kinder. Mir ist egal, was später mal aus ihnen wird.“ Und das war es.

Anfangs pendelten wir zwischen unserer und Ivans Wohnung, aber eigentlich waren wir öfter bei ihm. An den Wochenenden sowieso, da er unter der Woche auf Montage arbeitete und nur samstags und sonntags Zeit mit meiner Mutter verbringen konnte. Und wir mussten dann natürlich mitkommen, weil wir noch zu klein waren, um allein daheimzubleiben. Ivan hatte bloß eine Einzimmerwohnung mit einem Doppelstockbett: Meine Mutter und er haben unten geschlafen, mein Bruder und ich oben. Falls wir ihm zu laut wurden, weil das Bett natürlich quietschte, wenn sich zwei Jungs darin umdrehten, meinte er: „Die Matratze muss runter. Ihr pennt auf dem Boden.“ Ab da mussten wir auf dem Boden schlafen – die Matratze lag direkt neben dem Kühlschrank. Können Sie sich vorstellen, wie laut das ist, wenn man die ganz Nacht über dieses Brummen am Ohr hat? Wir taten kein Auge zu. Bei jedem Kühlschrankgeräusch (und die verdammten Dinger sind laut!) sind wir aufgeschreckt. Dieser eine Raum war ganz, ganz schlimm.

Ivan hat am Wochenende von morgens bis abends Fußball gehört. Diese kroatischen Mittelwellensender, bei denen man kaum etwas verstand, nur ein lautes Rauschen vernahm. Manchmal hörte er auch englische Sender, weil er Fan des englischen Fußballs war. Einmal, ich war zehn oder elf, wagte ich ihn zu fragen: „Verstehst du überhaupt was, du kannst doch gar kein Englisch?“ Er hob nur die Hand und sagte: „Halt die Klappe.“ Dann hat er weiter gehört. Die Aussagen des Moderators, wenn man ihn überhaupt verstand bei den lauten Nebengeräuschen, waren aber eh immer die gleichen: „One to two, one to two, one to three, one to four, one to two.“

Ivan hatte nur Fußball im Kopf. Und meine Mutter hat ihm währenddessen die Wohnung saubergemacht, seine Wäsche gewaschen und gebügelt, für uns alle gekocht und sich nach dem Abwasch damit begnügt, neben ihm auf dem Sofa zu sitzen – und Fußball zu hören. Wahrscheinlich ist aus mir deshalb nie ein Fußball-Fan geworden, weil Ivan das abschreckende Beispiel für mich war!

Irgendwann, man mag es kaum glauben, wurde er dann allerdings aus unerfindlichen Gründen sogar doch noch richtig nett, und da konnte ich ihn wieder recht gut leiden. Wir sind nach dem Tod meines Vaters immer wieder mit ihm gemeinsam in den Urlaub nach Kroatien gefahren und haben auch seine Mutter und seinen Bruder besucht, die dort lebten. Sie mochten mich und haben mich behandelt wie Ivans eigenen Sohn. Wirklich sehr lieb. Auch meine Oma hatte diesen komischen Kerl in ihr Herz geschlossen. Eigentlich muss ich sagen, dass wir in Kroatien wie eine kleine Familie waren. Dort schien er viel entspannter und gelöster als in Essen. Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, hat meine Mutter die Beziehung zu ihm offiziell beendet, und ich muss zugeben, dass es mir ein bisschen leidtat.

Als ich 16 war, sind wir umgezogen, von diesem schrecklichen Altbau in eine Wohnung in der Viehofer Straße in Essen. Ich freute mich total, denn nun wohnten wir mitten in einer Einkaufsstraße. Außerdem war es ein relativ gutes Haus, und wir hatten sogar endlich unser erstes eigenes Badezimmer in der Wohnung, nicht mehr auf dem Flur wie in der Vergangenheit. Das Beste allerdings: Wir bekamen eine Heizung …

Ich besaß ein eigenes Zimmerchen. Ein ganz, ganz kleines, aber ich hatte einen Balkon, und es war tatsächlich mein eigenes Reich. Ich war das glücklichste Kind in der ganzen Stadt – und fing dann auch an, für mich zu singen. Zu der Zeit war das Duo Modern Talking total erfolgreich. Ich mochte deren Musik, und außerdem hatten sie immer auf der Rückseite ihrer Platten eine Instrumentalversion der ganzen Lieder. Das war praktisch, denn nun konnte ich zum ersten Mal mit Begleitung deren Lieder singen. Eine perfekte Übung.

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