Читать книгу Fantasy - Martin Hein - Страница 14
ОглавлениеKapitel 7:
Für Martin ist es so weit – Deutschland, ich komme!
Wie reagiert man, wenn man nach über fünf Jahren des Wartens und des Vermissens tatsächlich den Ausreisebescheid in Händen hält?
Es fällt mir schwer, meine Gefühle von damals in Worte zu fassen. Da war eine Rieseneuphorie. Einerseits die Freude darüber, das Land mit diesem kommunistischen System zu verlassen. Aber vor allem der Gedanke und die Erwartung, dass ich endlich meinen Vater wiedersehen würde. Dazu jede Menge Matchbox-Autos, die man in Deutschland einfach so in jedem Geschäft kaufen konnte. Das schrieb mein Vater jedenfalls gern in seinen Briefen. Matchbox-Autos! Ich war süchtig nach Matchbox-Autos und hütete meine kleine, bunte Sammlung wie meinen wertvollsten Schatz.
Oder Bananen. Wir wussten, wenn wir in Deutschland sind, bräuchten wir nur in einen Laden zu gehen, Geld auf die Theke zu legen, und dann könnten wir uns so viele Bananen oder Orangen kaufen, wie wir wollten. Einfach so. Das waren wir ja gar nicht gewohnt.
Das war also eine große Freude, aber auch gleichzeitig total traurig. Ich wünschte mir jahrelang einen Hund. Meine Mutter war irgendwann so genervt von meinem Gequengel gewesen, dass sie meinen Onkel Franz anrief und ihn bat, er solle uns einen Welpen vorbeibringen, wenn seine Schäferhündin Edith den nächsten Wurf habe. Zwei Wochen, bevor wir erfuhren, dass wir ausreisen dürfen, bekam ich also meinen eigenen, super süßen kleinen Schäferhund Egon. Er war extrem drollig und hatte verhältnismäßig große dunkle Ohren. Daran kann ich mich noch bestens erinnern. Er durfte bei mir im Bett schlafen und wich mir eigentlich nur dann von der Seite, wenn ich in der Schule war. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt geworden und besuchte die fünfte Klasse. Es gab nur eine Schule, dorthin ging man von der ersten bis zur achten Klasse.
Doch kaum hatte ich endlich meinen Wunsch-Hund, musste ich ihn auch schon wieder hergeben. Sie können sich vorstellen, wie ich geweint und getobt habe. Ich war unendlich traurig, und nicht einmal meine geliebte Oma schaffte es, mich zu beruhigen. Aber was sollte ich machen? Es war uns nun mal nicht erlaubt, ein Tier mit nach Deutschland zu nehmen. Also musste ich schweren Herzens Abschied von meinem kleinen Liebling nehmen.
Auch meine Oma hat stark darunter gelitten, dass sie uns nun verlieren sollte. Für meine Mutter, meinen Bruder und mich war der Abschied ebenfalls nicht leicht. Ich kannte jeden einzelnen Bewohner unseres Dorfes. Meine ganzen Freunde, unsere Verwandten lebten dort. Damals war es ja nicht wie heute, dass man sich verabschiedet und in eine andere Stadt oder ein anderes Land umzieht und dann, so oft es geht, miteinander telefonieren oder skypen kann. Geschweige denn, sich besuchen. Damals sagte man tschüss zu seinen Liebsten und hatte nicht die geringste Ahnung, wann man sich wiedersehen würde. In zwei, fünf oder erst in zehn Jahren.
Meine Mutter, Damian und ich mussten mit unserem bisherigen Leben abschließen und uns auf ein ungewisses Leben in einem uns absolut fremden Land einlassen. Wir freuten uns zwar auf Vater, aber wir wussten nicht, ob er sich auch auf uns freute und wie er uns empfangen würde. Damals gab es ja keine Möglichkeit, per Computer miteinander zu telefonieren und sich dabei auf dem Bildschirm zu sehen. Es gab auch keine Handys, und nur die wenigsten Menschen besaßen ein eigenes Telefon. Telefonieren war nur alle paar Monate möglich, Briefe dauerten Wochen. Wir wussten nicht mal genau, wie Vater zwischenzeitlich aussah. Auch den Klang seiner Stimme hatten wir nicht mehr im Ohr. Dafür kreiste in unseren Herzen und Gedanken alles um die eine Frage: Was würde aus uns werden?
Wir verließen unsere Heimat im Februar 1983. Einen Monat nach meinem Geburtstag. Wenn man ausreiste, durfte man beim Schreiner große Holzkisten bestellen, die man mit Kleidung, Geschirr, Töpfen, Besteck, Bettwäsche usw. vollpackte. Meine Mutter hat alles hineingestopft, was irgendwie möglich war. Wir hatten zwei Kisten, die schon vor uns auf die große Reise mit dem Zug nach Deutschland geschickt wurden. Jeder von uns durfte einen Koffer mitnehmen. Wir sind dann mit dem Bus von unserem Dorf zum Bahnhof nach Gleiwitz gefahren. Dort stiegen wir in den Zug. Das war für uns Kinder wahnsinnig aufregend. Damals gab es ja noch die bewachten Grenzen. Nachts wurden wir von Zollbeamten mit scharfen Hunden ausgefragt, unsere Pässe wurden kontrolliert. Die haben mit dem Spiegel und Taschenlampen unser komplettes Abteil durchsucht. Das war ganz großes Kino!
Nach zwölf Stunden kamen wir völlig gerädert im Grenzdurchgangslager in der niedersächsischen Gemeinde Friedland im Landkreis Göttingen an. Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg für vertriebene Deutsche aus den ehemals deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland genutzt. Das Lager war von der britischen Besatzungsmacht auf dem Gelände der nach Friedland ausgelagerten landwirtschaftlichen Versuchsanstalt der Universität Göttingen errichtet und am 20. September 1945 in Betrieb genommen worden. Es trug den Beinamen „Tor zur Freiheit“. Das gefiel mir.
Das Lager wurde als Übergangseinrichtung für Aussiedler aus Polen und der DDR genutzt, heute dient es vor allem als Aufnahmelager für Spätaussiedler.
In Friedland waren wir drei Tage, dann ging es für uns weiter in das Aufnahmelage nach Unna-Massen, wo man zwei Monate bleiben musste. Dort wurde für die Einwanderer alles Behördliche geregelt, vom Übersetzen der Geburtsurkunde angefangen, außerdem entschied man, in welchem Bundesland man sich niederlassen wollte. Meine Mutter hatte die ganze Zeit mit den Ämtern zu tun, und mein Bruder und ich sind in der Zwischenzeit schon in die deutsche Schule gegangen.
Das Leben in einem solchen Lager ist recht spartanisch. Wir hatten zu dritt ein Zimmer mit zwei Doppelstockbetten, Bad und Toilette waren auf dem Flur. Auf unserer Etage wohnten vier verschiedene Familien, wir teilten uns eine Küche mit zwei Herdplatten und einem Kühlschrank. Im Keller gab es eine Waschküche mit zwei Gemeinschaftswaschmaschinen. Wir hätten theoretisch ja direkt zu meinem Vater ziehen können, der in Burscheid wohnte. Aber es war Pflicht für Neuankömmlinge, diese Prozedur zu durchlaufen.
Das Spannendste an diesem neuen Leben war für mich natürlich: Ich durfte endlich meinen Papa wiedersehen! Ich war neugierig. Als ich ihn dann am Bahnsteig sah, war er mir fremd. Ich hatte ihn nach fünf Jahren ganz anders in Erinnerung. Aber schön war dieser Moment trotzdem. Unvergesslich.
Meine Eltern hielten Händchen, und wir beschlossen, erst einmal essen zu gehen. Wir sind dann an einem kleinen Tante-Emma-Laden vorbeigekommen, den wir Kinder unbedingt von innen sehen wollten. Er war das erste Geschäft, das ich in Deutschland betreten habe. Ich stand in dem Laden und wusste nicht, wie mir geschah. Sie müssen sich vorstellen, wie man sich wohl fühlt, wenn man sein ganzes Leben in einer Schwarz-weiß-Kulisse gelebt hat, und plötzlich öffnet man die Augen, und um einen herum leuchtet die ganze Welt in den schillerndsten Farben. Wie eine Million Regenbogen!
Die Fülle an Lebensmitteln in dem winzigen Laden hat mich erschlagen. Ich sah das viele unterschiedliche Obst und konnte meinen Augen nicht trauen. Ich habe jedes einzelne Stück angefasst, um mich zu vergewissern, ob es auch echt war. Wie in Trance lief ich durch das Geschäft. An der einen Wand hingen Matchbox-Autos, daneben ganz viel anderes Spielzeug.
Auf den Straßen das Gleiche: viele schicke Autos. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt ja nur Trabant und Wartburg. Plötzlich mit Mercedes, Opel und BMW konfrontiert zu sein, hat mich fasziniert.
Das Ergebnis dieser ersten Erlebnisse war: Ich habe vier Tage lang mit 40 Grad Fieber im Bett gelegen. Mein Kopf konnte das, was er da gesehen hat, nicht verarbeiten.
Dann mussten wir, wie gesagt, in das zweite Lager nach Unna-Massen, eine Stadt im östlichen Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter konnte unsere Personalausweise beantragen, mein Bruder und ich sind zur Schule gegangen. Unsere erste deutsche Schule. Wir haben zwar auch in Polen teilweise deutsch gesprochen, weil meine Großeltern ja Sudetendeutsche waren. Aber hier in Unna fiel es uns schwer, mit der Sprache klarzukommen. Ich habe damals nur Bruchstücke verstanden.
Rückblickend würde ich sagen, dass die Ehe meiner Eltern schon damals in Unna gescheitert war. Mein Vater wohnte in Burscheid und pendelte zwei, drei Mal zu uns ins Lager. Aber unterbewusst spürten wir Kinder, dass die Leidenschaft zwischen meinen Eltern der Vergangenheit angehörte. Sie waren höflich und nett zueinander, aber Zärtlichkeiten oder Spaß waren nicht im Spiel. Ich verlor zwar kein Wort darüber, aber ich habe schnell gemerkt, dass es zwischen den beiden nach all der Zeit, in der sie alleine gelebt hatten, nicht mehr funktionierte.
An einem Wochenende holte uns mein Vater dann zu sich in die Wohnung. Für meine Mutter ist damals die Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft als Familie zerbrochen. Sie war unendlich enttäuscht, als sie realisierte, dass in dieser kleinen Dreizimmerwohnung rein gar nichts für unsere Ankunft vorbereitet war. Keine Blumen auf dem Tisch, kein Kinderzimmer für Damian und mich. Im Gegenteil: Meine Großmutter Erna, die Mutter meines Vaters, war zwei Jahren nach meinem Vater aus Polen ausgereist. Sie wohnte seitdem mit meinem Vater zusammen. Die beiden hatten sich ihre kleine Welt eingerichtet. Mein Vater arbeitete in einem Konzern als Schlosser, meine Oma kochte, ging einkaufen und machte ihm seine Wäsche.
Natürlich hatte meine Mutter erwartet, dass Oma in eine eigene Wohnung ziehen würde, wenn wir drei endlich in Deutschland sein würden. Doch Oma und auch mein Vater dachten gar nicht daran, dass sich an ihrem Rhythmus etwas ändern sollte. Für Papa war es ein einfaches, bequemes Leben gewesen. Er hatte sich mit der Situation arrangiert – ein bisschen war es so gekommen, wie die bösartigen Lehrer in meiner polnischen Schule es vorhergesagt hatten. Papa freute sich zwar, uns zu sehen. Aber das war es auch schon.
Die letzten drei Jahre in Polen hatte meine Mutter einen Freund gehabt. Wir ahnten nicht, was das bedeuten würde. Martin war auch für mich ein sehr guter Freund. Wir nannten ihn Onkel, das ist in Polen ganz normal, sobald jemand im engeren Sinn zur Familie gehört. Und Martin gehörte zur Familie. Er wohnte nicht weit von uns entfernt und war der Sohn des besten Freundes meines Großvaters. Meine Mutter und er kannten sich also schon von Kindesbeinen an. Für mich und Damian war es selbstverständlich, dass Martin mit uns zu Abend aß oder ins Hallenbad zum Schwimmen ging. Er kümmerte sich um uns.
Ich habe ihn und meine Mutter nie beim Küssen erwischt. Sie liefen vor uns Kindern auch nie Hand in Hand herum oder berührten sich. Aber Martin war regelmäßig bei uns, ging mit meiner Mutter zum Einkaufen oder abends mal in die Dorfkneipe.
Heute sage ich: Es war völlig normal, dass meine Mutter sich damals nach einer starken Schulter sehnte. Sie war gerade erst Mitte 20 und lebte jahrelang von ihrem Mann getrennt. Einmal im Monat kam ein Brief, das war alles an Beziehung. Deshalb habe ich meinen Eltern auch niemals einen Vorwurf gemacht, als sie sich in Deutschland dann getrennt haben. Ich bin mir sicher, dass auch mein Vater eine Freundin hatte, während wir noch in Polen lebten. Als ich ihn einmal in seiner Wohnung besuchte, fand ich im Keller eine Kiste mit Fotos, darauf hatte er eine hübsche Blondine im Arm und küsste sie. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. An den Wochenenden verbrachte er damals viel Zeit mit seinem besten Freund. Beide sahen gut aus, waren gerade Anfang dreißig. Und sie sind sicher nicht nur in die Kirche gegangen, wenn sie ausgingen.
Als wir eines Morgens in unserem Zimmer in Unna am Frühstückstisch saßen, Mama, Damian und ich, sagte meine Mutter mit ruhiger Stimme: „Kinder, ich habe mir überlegt, dass wir nicht zu Papa ziehen werden.“ Pause. „Ich habe eine sehr gute Freundin hier in Nordrhein-Westfalen. Die Anna. Sie kam schon vor einem Jahr aus Polen hierher und wohnt mit ihrer Familie in Friedrichsfeld bei Wesel. Sie will uns helfen, eine eigene Wohnung zu finden.“ Wir kannten Anna und mochten sie. Meine Mutter erzählte uns, dass Anna versprochen habe, sich um uns zu kümmern, solange wir kein eigenes Dach über dem Kopf hätten. Sie sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen und dass wir erst einmal bei ihr und ihrem Mann einziehen könnten.
Es war dann zwar eng bei Anna und Thomas, aber wir hatten nun wenigstens ein Nest gefunden, wo wir uns von Anfang willkommen und aufgehoben fühlten. Friedrichsfeld ist ein Stadtteil von Voerde am Niederrhein mit rund 11.400 Einwohnern. Ich war zwölf, mein Bruder sieben, unsere Mutter 29, als wir in unsere neue Heimat zogen und dort strandeten.
Mein Vater hatte keine Ahnung von den Plänen meiner Mutter. Als er uns das nächste Mal im Lager in Unna besuchte, sagte ihm meine Mutter kein Wort davon. Sie sind spazieren gegangen, dann fuhr er wieder nach Hause. Keine fünf Minuten später rief meine Mutter ihre Freundin Anna an und bat, sie möge uns im Heim abholen. Sie wolle dort keinen Tag länger mit uns Kindern bleiben. Am Abend kamen Anna und Thomas mit dem Auto. Sie packten unser Hab und Gut in den Kofferraum, und wir fuhren nach Voerde und wohnten ab sofort mit in deren kleiner Wohnung.
Als mein Vater drei Tage später ins Lager kam, fand er uns nicht vor. Einer der Angestellten sagte ihm, dass seine Frau mit den Kindern abgereist sei. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo wir waren. Er muss fast durchgedreht sein. Vielleicht ahnte er auch, dass es sich um den Anfang vom Ende seiner Ehe handelte, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte.
Meine Mutter rief ihn dann aus Annas Wohnung an. Sie teilte ihm ihren Entschluss mit, dass sie unter diesen Umständen mit unserer Großmutter und angesichts der beengten Wohnung auf keinen Fall bei ihm einziehen werde. Überhaupt habe sie sich das alles ganz anders vorgestellt, wenn man sich nach so langer Zeit der Entbehrung endlich wiedersehen würde. Aber die Liebe sei in diesen fünf Jahren wohl auf der Strecke geblieben, ließ sie ihn wissen. Mein Bruder und ich saßen zu ihren Füßen und sagten kein Wort. Anschließend begann der große Scheidungskrieg zwischen meinen Eltern. Er sollte sechs Jahre dauern und auch uns Kindern endgültig den Vater nehmen.
In Voerde wurden zu dieser Zeit gerade neue Wohnungen gebaut. Nach gut drei Wochen schon bekamen wir eine Zusage vom Bürgermeister für zwei Zimmer, Küche, Bad. Wir freuten uns riesig auf unser eigenes kleines Reich. Doch mit dem Einzug fingen die Probleme erst richtig an. Wir hatten zwar Besteck und Bettwäsche mitgebracht aus Polen, aber wir besaßen keine Möbel. Ein Bekannter schenkte uns eine alte Matratze aus dem Ehebett seiner verstorbenen Eltern. Wir legten sie auf den Boden vor die eine Heizung, die in Betrieb war. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Tagsüber nutzen wir sie als Sofa, nachts schliefen wir zu dritt darauf. Eng aneinandergekuschelt.
Gegen den Hunger kochte meine Mutter Hühnersuppe, von der wir tagelang essen konnten. Sie schnitt das Huhn in der Mitte durch, am nächsten Tag gab es dazu Kartoffeln. Eine Episode hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt: Nach dem Essen sagte Mutter zu uns: „Kinder, heute habe ich eine riesengroße Überraschung für euch.“ Damian und ich saßen starr vor Anspannung vor ihr und warteten auf unser Geschenk. Mutter holte eine Banane aus ihrer Tasche, die sie von der Arbeit in der Raststätte, wo sie einen Job gefunden hatte, mit nach Hause gebracht hatte. „Ich habe euch Nachtisch mitgebracht.“ Wir strahlten. Die Banane wurde in zwei Hälften geschnitten, und wir aßen sie ganz langsam, damit wir länger etwas davon hatten.
Wenn ich mir überlege, wie mein Sohn heute aufwächst, in welchem Luxus er lebt, ohne sich dessen bewusst zu sein! Es ist für die Kinder heutzutage doch völlig normal, ein iPhone, zehn Paar Sneakers und Süßigkeiten en Masse zu haben. Bei uns war das ganz anders!
Zum Glück fand ich in meiner Schulklasse in der Hauptschule in Friedrichsfeld schnell neue Freunde. Ich kam, wie zuvor in Polen, in die fünfte Klasse. Nur die ersten Minuten vor den neuen Mitschülern waren komisch. Alle starrten mich an, ich brachte nur „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ hervor. Als es zur Pause klingelte, fürchtete ich zunächst, dass ich alleine in einer Ecke auf dem Schulhof herumstehen müsste. Doch Frank und Stefan sagten ohne zu zögern: „Martin, komm, wir spielen Fußball.“ Diese Worte verstand ich. Schließlich hatte ich ja auch zu Hause in Polen rund um die Uhr mit meinen Freunden Fußball gespielt. Ich strahlte sie an, und ab diesem Moment waren wir unzertrennlich.
Sie nahmen mich überallhin mit. Ich hielt mich die meiste Zeit an Frank. Wir wurden zu einem unzertrennlichen Paar. Anfang der 80er Jahre war es groß in Mode, dass man als Junge die Haare an den Seiten kurz rasiert und oben wie ein Igel frisiert trug. Frank hatte diesen Haarschnitt, und ich wollte ihn auch haben. Aber er kostete beim Frisör fünf Mark, und meine Mutter hatte das Geld nicht. Sie arbeitete zwar viel in der Autobahnraststätte, aber sie musste die Miete zahlen und uns Kinder allein durchbringen. Wie kam ich also zu meinem Wunsch-Haarschnitt? Frank und ich lachen heute noch, wenn wir darüber reden. Frank sagte: „Ich leihe dir die fünf Mark, und du bezahlst sie mir irgendwann zurück.“ Ich stöhnte: „Frank, ich bekomme 50 Pfennig Taschengeld. Das dauert ein Jahr, bis ich dir dein Geld zurückgeben kann.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist doch egal, dann dauert es eben ein Jahr.“
Das werde ich ihm niemals vergessen. Wir gingen also gemeinsam zum Frisör. Ich bekam die coole Frisur, er hat bezahlt. Ich glaube, es hat sieben Monate gedauert, bis ich schuldenfrei war.
Ich besaß immer viele Freunde, war jedoch nicht unbedingt der allerbeste Schüler. Besserer Durchschnitt, würde ich sagen. Ich war nie ein Einser- oder Zweier-Kandidat, aber meine Drei in allen Fächern hatte ich sicher. Sport war mein Lieblingsfach, vor allem Fußball. Davon konnte ich nie genug bekommen, an den Wochenenden war ich teilweise von morgens 10 bis abends um 20 Uhr auf der Straße, mit einer kleinen Mittagspause. Ich war natürlich auch im Fußballverein, machte Karate und spielte viele Jahre Tischtennis. Bis dann irgendwann die Mädels interessant(er) wurden.
Mit meinem Bruder hatte ich, zumindest bis ich 13, 14 wurde, ein ziemlich inniges Verhältnis. Ich übernahm für ihn die Beschützer-Rolle, da ich schließlich der Ältere war. Letztendlich war es schließlich dann sogar die Musik, die uns ein wenig entzweite. Mein Bruder liebte Depeche Mode und spielte später in einer Death-Metal-Band Gitarre, ich wiederum liebte und sang Schlager, und da ist dann jeder seines Weges gegangen. Wir haben aber nie den Kontakt zueinander verloren und sind als Brüder bis heute eng verbunden. Wir telefonieren auch regelmäßig und versuchen, uns alle paar Wochen zu treffen.
Meine Jungs aus Voerde und ich haben bis heute engen Kontakt. Wir treffen uns, so oft es geht. Ein Ritual besteht seit unserer Jugend: Wir fahren einmal im Jahr für vier Tage in den Urlaub. Nur wir vier Männer, ohne Frauen. Für diese besondere Freundschaft bin ich unendlich dankbar. Durch Frank, Stefan und Oliver habe ich erst so richtig Deutsch gelernt. In Polen redete ich zwar mit meinen Großeltern ein bisschen. Aber erst in Voerde, zusammen mit den Jungs, wurde es zu meiner Muttersprache.
Eines Tages sagte meine Mutter dann: „Kinder, morgen gibt es neue Sachen zum Anziehen.“ Da haben wir uns sehr gefreut. Allerdings sind wir nicht zu Kaufhof oder C&A gegangen, um eine neue Jeans zu kaufen. Sondern es ging zur Kleiderkammer des Deutschen Roten Kreuzes. Wir stellten uns in eine Schlange mit etwa 20 Mitwartenden, und nach gut einer Stunde kamen wir endlich dran. Wir durften uns zwei Pullover, eine Hose, Strümpfe, eine Jacke und ein Paar Schuhe aussuchen und kamen uns vor wie unterm Weihnachtsbaum. Die Sachen gefielen mir. Erst auf dem Heimweg schoss mir ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf: „Was passiert, wenn einer meiner Klassenkameraden seinen alten, ausrangierten Pullover weggeworfen hat und ihn nun an mir wiedererkennt?“ Ich malte mir aus, wie ich ausgelacht werden würde, weil einer der Jungen rief: „Hey, Martin. Den Pulli hast du wohl aus dem Altkleidersack gestohlen, oder!?“
Ich schämte mich. Die neuen-alten Sachen trug ich wochenlang erst mal nur zu Hause. Irgendwann ging ich damit dann aber auch zur Schule. Und: Es ist gutgegangen. Selbst wenn einer wusste, woher ich meine Kleider hatte, so war er doch so anständig und hat den Mund gehalten.
Die ersten Wochen in Deutschland lebten wir von Sozialhilfe. Erst später fand meine Mutter den Job in der Raststätte. Nebenbei besuchte sie einen Sprachkurs, um Deutsch zu lernen. Dort hat sie auch meinen Stiefvater kennengelernt: Franz. Wir mochten ihn auf Anhieb. Er besaß einen Videorecorder und einen Golf und war fast wie ein Kumpel zu Damian und mir. Wir durften ihn gleich duzen. In Polen ist das Kindern bei Erwachsenen nicht erlaubt, außer bei den Eltern und den Großeltern. Zu allen anderen musste man extrem höflich sein.
Als meine Mutter uns ihren neuen Freund vorstellte, sagte er hingegen sofort, wir sollten Franz zu ihm sagen. Meine Mutter war sicherlich erleichtert, dass wir den neuen Mann an ihrer Seite so offen und großherzig aufgenommen haben. Aber Franz machte es uns auch einfach. Wir konnten es kaum abwarten, bis endlich wieder Wochenende war. Er ging mit uns zum Eis essen oder zum Fußball und brachte jedes Mal, wenn er kam, einen neuen Videofilm aus der Videothek mit. Ab sechs Filmen wurde es billiger. Wir durften uns aussuchen, was wir sehen wollten. Wir liebten Karate-Filme. Vor allem den Schauspieler Bruce Lee, der ein begnadeter Kampfkünstler war. Seine Filme, um die wir uns regelrecht rissen, hießen: Todesgrüße aus Shanghai, Der Mann mit der Todeskralle, Die Geburt des Drachens. Er war so cool!
Franz wurde in unserer Familie also extrem schnell aufgenommen. Einen besseren Mann und Menschen an ihrer Seite hätte meine Mutter nicht finden können. Er hat uns Kinder niemals angebrüllt oder geschlagen. Egal, welchen Mist wir anstellten, er war für uns da und stand uns sogar bei, wenn meine Mutter schimpfte. Franz war etwa zur selben Zeit wie wir aus Polen ausgewandert. Im Sprachkurs in Oberhausen lernten meine Mutter und er sich kennen. Dank Franz besaß sie schnell einen großen Freundeskreis, denn in unserer Nähe lebten viele Polen. Wir waren wie eine große Familie, trafen uns regelmäßig zum Grillen oder am Badesee. Das war toll. Und durch Franz hatten wir nun auch ein eigenes Auto und endlich wieder einen normalen, in unseren Augen schon fast luxuriösen Lebensstandard. Als meine Mutter fragte, ob wir etwas dagegen hätten, wenn Franz bei uns einziehe, jubelten wir vor Freude …
Der Videorekorder gehörte nun also auch fest zur Familie. Franz arbeitete als Bergmann unter Tage. Er ackerte ziemlich hart, 1.000 Meter unter der Erde, acht Stunden täglich bei 40 Grad. Ich bin mir sicher, dass er diese Tortur in erster Linie für meine Mutter und für uns Kinder auf sich genommen hat. Er war es, der uns keinen Wunsch abschlug, im Gegensatz zu meiner Mutter. Wenn ich ein Paar neue Turnschuhe haben wollte, sagte sie nein, Franz ja. Er ermöglichte uns ein Leben, in dem wir uns schöne Dinge leisten konnten, und schenkte uns dazu noch ganz viel Liebe und Zuwendung. Wann immer wir ihn brauchten, Franz war und ist (bis heute) für uns da.
Für sich und für uns hätte meine Mutter keinen besseren Menschen finden können. Nie hat er sich in ihre Erziehung eingemischt. Ich kenne das gar nicht, dass er irgendwie brüllte: „Martin, komm mal her, was habt ihr da gemacht?“ Er hat mit uns immer nett gesprochen und uns verwöhnt. Ich weiß noch, dass ich einmal unbedingt eine Hose der Marke Vanilla haben wollte, die aber über 100 Mark kostete. Undenkbar für meine Mutter! Mein Kumpel Frank, dessen Eltern wesentlich mehr Geld zur Verfügung hatten als wir, besaß diese Hose natürlich schon in drei Farben. Klar, dass ich auch eine haben wollte. Ich steckte mitten in der Pubertät und nervte meine Mutter kolossal. Sie aber blieb streng: „Nein, die Hose gibt es nicht.“ Ich maulte tagelang. Irgendwann sagte Franz in seiner ruhigen Art zu meiner Mutter: „Ach, komm doch, Ursula, wir kaufen Martin diese Hose, wenn er sie sich so sehr wünscht.“ Meine Mutter gab nach, wahrscheinlich des lieben Friedens willen. Franz hatte einmal mehr in meinem Sinn gesprochen. Ihn als Stiefvater zu haben war ein Traum.
Trotzdem hatte ich regelmäßigen Kontakt mit meinem leiblichen Vater, der etwa 70 Kilometer von uns entfernt wohnte. Ich bin mir sicher, dass ich meine Liebe zur Musik und meine lustige, vorlaute Art von ihm geerbt habe. Zumindest sagen alle in unserer Familie, dass ich wie eine jugendliche Kopie von ihm wirke. Und meine Mutter behauptete immer, ich hätte sogar die Art, wie ich gehe, von ihm geerbt.