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Einsame Wanderer

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Gelb! Wie sie dieses Gelb hasste. Das war nicht der helle warme Ton der Sonne. Dieses Gelb war bleich, kraftlos und lebensfeindlich. Es stand für eine kranke Landschaft, in der es wenig anderes gab als Sand. Feiner gelber Sand, den der ständige warme Wind an vielen Stellen zu Dünen auftürmte.

Am Fuß einer dieser Dünen lag ihr Ziel. Eine Ansammlung mickriger, brauner Büsche. In all ihrer Erbärmlichkeit ein Farbtupfer in dieser falben Einöde. So schnell ihre wunden Füße und der Beutel, den sie an einem Seil hinter sich herzog, es erlaubten, taumelte sie darauf zu. Dass sie dabei eine deutlich sichtbare Schleifspur im Sand hinterließ, war ihr im Augenblick egal. Und auch was diese Art des Transportes mit den wenigen Bildern machte, die ihr geblieben waren.

Pflanzen bedeuteten Wasser und Kamherra drohte zu verdursten. Ihre Kehle und die Zunge waren schon ganz geschwollen. Ohne auf die feinen Stacheln der verkrüppelten dünnen Äste zu achten, brach sie durch den kleinen Hain und stand unvermittelt vor einem Tümpel. Er war erstaunlich klar. Sie konnte bis auf den Grund sehen. Kamherra ließ das Seil fallen und sank auf die Knie. Ihre blasse Hand berührte das Wasser. Verglichen mit der Umgebung war es kühl.

Vorsichtig schöpfte sie ein wenig von dem Nass in die Handfläche. Fast andächtig tunkte sie ihre trockene Zunge hinein, schluckte etwas davon hinunter und spürte dem Geschmack nach. Wie hatte Wasser zu schmecken? Sie erinnerte sich nicht daran. Alles was sie in der letzten Zeit getrunken hatte, stammte aus Plastikflaschen und Behelfsbrunnen aus umfunktionierten Gummireifen.

Dagegen schmeckte das hier geradezu köstlich. Sie beugte sich hinunter und schöpfte sich die Flüssigkeit mit beiden Händen in den Mund.

Abrupt hielt sie inne. Aus dem Wasser blickte ihr ein Zombie entgegen. Kleine, gerötete Augen mit tiefen schwarzen Schatten darunter. Und dieses Haar! Zerzottelt. Vollkommen verfilzt! Der Mund des Zombies im Wasser verzog sich. Krächzende Laute lösten sich von ihren Lippen. Kamherra brauchte selbst einen Moment, ehe sie ihre Laute als Lachen identifizierte.

*

Sie dachte an ihre Schuhe. Nach jeder Ausstellungseröffnung hatte sie sich mit einem neuen Paar belohnt, bis es schließlich ein ganzer Wandschrank voll gewesen war.

Und nun war alles futsch. Traurig sah sie sich um. Wirklich alles! Um sie herum gab es nichts als Sand und eine unbarmherzige Sonne, die auf die Erde herunterbrannte, als wollte sie die Menschen für das bestrafen, was sie getan hatten.

Langsam trottete Siw weiter. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter und ließ sie das Scheuern des Tragriemens mit jedem Schritt deutlicher spüren. Der Riemen gehörte zu einem Beutel, der ihr rhythmisch gegen die Hüfte schlug und in dem sich ihr ganzer Besitz befand. Ein sorgsam gehüteter USB-Stick mit ihren Arbeiten, digital bearbeitete Fotografien und zwei leere Wasserflaschen. Sonst hatte sie nur noch ihre Kleidung. Ein Paar enge Shorts und ein Tank Top. Kaum das Richtige für die Wüste. Besser passte da schon der klobige Revolver, den sie am Gürtel trug.

Mit der Zunge fuhr sie sich über ihre spröden Lippen, ohne sie zu benetzen. Dazu war ihr Mund längst zu trocken; es war nicht mehr als eine Reflexhandlung und auch damit würde es bald vorbei sein, wenn sie nicht schnell Wasser fand.

Einen Augenblick dachte sie an den Ort zurück, den sie verlassen hatte. Rückblickend erschienen ihr die düsteren Straßen, mit den Ruinen und den rostenden Stahlgerüsten fast wie ein Paradies. Das Wasser dort war brackig, rotbraun und lauwarm gewesen, aber wenigsten hatte man es trinken können.

Sie drehte sich einmal im Kreis und versuchte sich für eine Richtung zu entscheiden. Das war schwierig, wenn alles gleich aussah. Eine Düne, die hoch aus dem Sandmeer aufragte, sah vielversprechend aus. Wenn sie dort hinaufkletterte, konnte sie mehr von der Umgebung sehen. Vielleicht gab es ja doch irgendwo eine Ansiedlung, eine Hütte oder wenigstens Wasser.

Entschlossen nahm Siw den Sandhügel in Angriff. Es war schlimmer als sie gedacht hatte. Der feine Sand rutschte ihr entgegen, sammelte sich in ihren Boots und rieb wie eine Feile an der strapazierten Haut ihrer Füße. Trotzdem kämpfte sie sich voran. Hoffentlich lohnte sich die Schinderei wenigstens.

Ein trockenes Krächzen gellte unvermittelt von der anderen Seite herauf. Siw erstarrte. Ihr Herz wummerte wie ein zu schneller Bass. Das Krächzen war eindeutig menschlich und es stammte von einer Frau. Es dauerte einen Moment, bis Siw es als Lachen erkannte.

Ihre Hand suchte den Schaft des Revolvers. Unglaublich, wie schnell sie sich an die Waffe gewöhnt hatte. Fest packte sie den Griff und ging geduckt weiter. Sie hatte den Kamm der Düne fast erreicht und war nicht gewillt so nah am Ziel aufzugeben.

Das Lachen verstummte genauso plötzlich, wie es angefangen hatte. Sie zögerte einen Moment. Hatte die Frau auf der anderen Seite sie gehört? Unwahrscheinlich! Außer dem rieselnden Sand gab es kein Geräusch. Auf Händen und Knien kroch sie den letzten Meter und sah hinunter.

Die Frau wandte ihr den Rücken zu und sie kniete an einem Tümpel. Wasser, mit einer spiegelnden Oberfläche, auf der die Sonne gleißende Reflexe verursachte. Mechanisch entsicherte Siw ihre Waffe.

Die Fremde bewegte sich plötzlich. Hatte sie das leise Spannen des Hahns gehört? Siw duckte sich wieder hinter den Dünenkamm und beobachtete, wie die Frau an einem Seil zog, an dem ein Beutel hing.

Siws Anspannung stieg. Sie spürte wie ihre Hand, mit der sie den Revolver hielt, feucht wurde. Jetzt kramte die Fremde in dem Beutel und zog etwas heraus. In einem ersten Reflex hob Siw ihre Waffe, ließ sie aber gleich wieder sinken. Zu viele schlechte Filme, schalt sie sich. Auf diese Entfernung war ein Treffer reine Glücksache. Sie ärgerte sich noch immer darüber, wie viel Munition sie verschwendet hatte, ehe sie das begriffen hatte.

Sie schwang sich auf die andere Seite der Düne und setzte sich auf den Hintern, bereit herunterzurutschen. Da unten gab es Wasser. Genug, um ihre beiden Flaschen aufzufüllen und sich sogar etwas zu waschen. Dafür lohnte sich das Risiko.

Die Frau zog einen Gegenstand aus ihrem Beutel und beugte sich über den Tümpel. Sie hob das Ding an ihren Kopf. Wollte sie sich umbringen? Widerstreitende Gefühle spülten wie eine Welle zu heißen Wassers über Siw. Endlich ein anderer Mensch und vielleicht gleich tot. Aber dieses irre Lachen! Vielleicht war ihr Geist ohnehin schon verloren. Ihr stockte der Atem. Die Fremde bürstete sich ihre langen schwarzen Haare.

*

Er fühlte wie die Tränen kamen und kämpfte verzweifelt darum sie zurückzuhalten. Diesen letzten Triumph gönnte er der grölenden Menge nicht. 'Mutant!', schrien sie und ihre Hände packten und rissen an seinen Armen, während sie ihn vorwärts durch die Straßen trieben.

Rixel stolperte, konnte sich aber fangen, ehe er auf den rissigen Asphalt stürzte. Nur nicht hinfallen! Andernfalls würden sie ihn tottreten, das hatte er schon einmal mit ansehen müssen. In einer anderen Stadt, wenn man diese Ansammlung von Ruinen und windschiefen Hütten überhaupt so nennen konnte.

Im Augenblick konnte er nichts anders tun, als auf den Beinen zu bleiben und sich möglichst schnell aus der Stadt werfen zu lassen. Es waren um die fünfzig Menschen, die ihn schreiend und boxend umringten. Nur gut, dass sie sich in ihrem Bemühen ihn zu treffen gegenseitig behinderten.

Die zusammengeflickten Holzlatten, die sie hochtrabend als Stadttor bezeichneten, kamen in Sicht. Jetzt war es gleich überstanden. Erneut stolperte er und musste sich an einem Arm festhalten, um nicht zu fallen. Ein empörter Aufschrei war die Antwort. Eine Faust traf das Glas, das den zerstörten Teil seines Kopfes schützte. Glücklicherweise war es bruchsicher. Wenigstens daran hatte man bei BASE nicht gespart.

Noch einmal flammte das Hassgeschrei der Menge auf. Jemand versuchte ihm ein Bein zu stellen. Rixel sprang drüber. Die beiden Männer, die das Tor bewachten, gafften ihnen entgegen. Vielleicht glotzten sie aber auch nur seinen Kopf an. Er war das gewohnt. Die zerlumpten Wächter gingen einfach zur Seite und ließen die Meute mit ihrem Opfer passieren. Rixel spürte Wüstensand unter seinen Füßen und einen derben Stoß in den Rücken. Darauf war er nicht mehr gefasst gewesen. Er ging zu Boden. Bäuchlings landete er im Sand und ihm blieb die Luft weg. Trotzdem hatte er noch genügend Geistesgegenwart, um beide Arme hochzureißen und schützend über seinen Kopf zu legen. Zu seiner Überraschung ließ die Menge von ihm ab. Mit einem Krach fiel das Stadttor zu und er lag allein im Wüstensand.

Misstrauisch hob Rixel den Kopf und spähte unter seinem Arm durch. Er war tatsächlich allein. Er wälzte sich auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel. Wie hatte er nur so naiv sein können? Zu glauben, dass eine Kapuze etwas ändern konnte. Wenigstens war er lange genug in der Stadt gewesen, um ein Stück Brot zu essen und von dem braunen Zuckerwasser zu trinken, das sie Cola nannten. Ehe diese Frau ihm, im Versuch mit ihm anzubandeln, die Kapuze vom Kopf gezogen hatte.

Sie hatte geschrien wie am Spieß, ihre Hände in seinen Umhang gekrallt und dabei seine Umhängetasche zu fassen bekommen. Dann war es weitergegangen wie üblich. Man hatte ihn aus dem Gasthaus geworfen und durch die Straßen gejagt. Umständlich erhob er sich und klopfte sich den Sand von der Hose.

*

Der Knall war gigantisch und die Druckwelle schleuderte ihn gegen das einzige Stück Mauer, das im Umkreis von fünfhundert Kilometern noch stand. Nachdenklich blieb Christian einen Moment liegen. Wieso war das Ding explodiert?

Im Geist rief er sich das Bild des Würfels vor Augen. Es war ein Testobjekt, angefüllt mit Platinen und Speicherchips, die er gut gebrauchen konnte. An der Entwicklung dieser Dinger hatte er selbst mitgearbeitet. Die konnten nicht explodieren!

Mühsam rappelte er sich auf und sah sich nach dem Würfel um. Er lag, unversehrt, an genau derselben Stelle im Sand, an der er versucht hatte ihn aufzuschrauben. Christian hockte sich neben den Würfel und ging seine Handgriffe vor der Detonation durch. Der Knall war erfolgt, nachdem er den Würfel hochgehoben hatte, aber die feinen Drähte auf der Unterseite hingen locker herab. Sie waren nirgendwo befestigt gewesen. Davon hatte er sich überzeugt, ehe er das Objekt angehoben hatte.

Einem Gedanken folgend, hob er den Würfel an einer Seite mit der Spitze seines Schraubendrehers an. Die Hälfte der Drähte baumelte in der Luft, die andere hatte noch Kontakt zum Sand und zu einer Kontaktplatine, die er vorher nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich war sie unter dem Sand verborgen gewesen und die Druckwelle hatte sie frei gepustet. Anerkennend nickte er. Man brauchte die Drähte gar nicht festlöten. Das war eine pfiffige Idee.

Unvermittelt spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Der Schatten, den der Mann warf, fiel ihm erst jetzt auf. »Was?« Verwirrt sah Christian hoch. Vor ihm stand ein bewaffneter Honk.

*

Der Knopf zog seine Hand magisch an. Gaius war schon immer der Ansicht gewesen, dass man die Wirkungsweise von Schaltern am besten herausfand, wenn man sie betätigte. Und im Moment brauchte er Licht.

Entschlossen drückte er auf den grauen Knopf. Mit einem leisen ‚Klack’, rastete er ein. Weiter geschah nichts. Kein Deckenlicht flammte auf und erleichterte es ihm, die Halle zu durchsuchen. Schade. Dann musste er sich wohl weiter auf seine Taschenlampe verlassen. Er legte sie auf eine Art Werkbank, an die er auch seinen Rucksack gelehnt hatte, und wandte sich einer der Kisten zu. Diesmal schien er Glück zu haben. Die Halle machte nicht den Eindruck, als sei sie schon oft geplündert worden.

Hinter ihm knurrte es. Dunkel und drohend. War das ein Hund? Er war sich nicht sicher. Es klang irgendwie eigenartig. Langsam, mit klopfendem Herzen wandte er sich um. Jetzt blendete ihn seine eigene Lampe. Er kniff die Augen zusammen. Da bewegte sich ein Schatten. Auf ihn zu!

Das war offensichtlich ein Tier, vielleicht sogar ein Hund. Viele waren nach der Katastrophe zu Streunern geworden. Langsam und vorsichtig wich er an die Wand zurück. Hunde waren in der Regel nicht bösartig und meistens gingen sie Konflikten aus dem Weg. Außerdem sahen sie nicht gut. Vor allem im Dunkeln nicht. Solange er sich nicht bewegte und das Tier nicht mit der Nase auf ihn stieß, sollte es ihn nicht bemerken.

*

Durch den endlosen Sand wandernd, rief er sich den Geschmack des Brotes in Erinnerung. Es war nicht frisch gewesen; trotzdem hatte es köstlich geschmeckt. Wie lange war es her gewesen, seit er das letzte Mal auf diese Weise Energie aufgenommen hatte?

Energie aufgenommen! Rixel schalt sich selbst. Jetzt übernahm er auch noch ihre Art zu Denken. Essen! So nannte man das! Er leckte sich die Lippen. Seine Zunge fühlte den Unterschied zwischen den künstlichen und seinen biologischen Lippen schon lange nicht mehr. Wenn sich die BASE-Leute doch nur überall soviel Mühe mit der Rekonstruktion gegeben hätten. Ausgerechnet bei seinem Kopf und den Haaren hatten sie das nicht getan. Aus medizinischem Interesse, hatte man ihn wissen lassen. Er lachte bitter. Eine nette Umschreibung dafür, dass diese Leute jederzeit Zugang zu seinem Gehirn hatten haben wollen.

Und deswegen lief er jetzt mit einem Fenster im Kopf in der Wüste herum. Die Kapuze, mit der er seinen Hinterkopf verdeckte, war keine Lösung. Sie forderte die Leute geradezu dazu auf, ihn nach dem ‚Warum’ zu fragen oder zu versuchen sie ihm vom Kopf zu ziehen. Anfangs hatte er den Leuten einfach die Wahrheit gesagt. Von dem Unfall und was die Chirurgen der Firma ihm angetan hatten. Aber er war nie weit gekommen. Sobald das Wort BASE fiel, jagte man ihn davon; zweimal hatte man sogar versucht ihn zu lynchen. Also sagte er gar nichts mehr und versuchte die künstlichen Teile zu verstecken.

*

Das war doch kein Hund, oder? Er war sich nicht sicher. Jedenfalls sah es nicht wie einer aus, auch wenn es so knurrte. Gaius drückte sich enger an die Wand. Mit einer Mischung aus Faszination und Ekel beobachtete er das ‚Ding’. Ein besseres Wort fiel ihm nicht ein.

Unsicher war das Vieh um die Werkbank herum gelaufen und schnüffelte abwechselnd am Boden und in der Luft. Es sah ihn tatsächlich nicht. Im Schein der Lampe beobachtete er die Kreatur. Sie reichte ihm sicher bis an die Hüfte und sie war abgrundtief hässlich. Außerdem stank sie.

Der unförmige Kopf erinnerte fast an eine Dogge. Die einzige Hunderasse, die er nicht leiden konnte. Es hatte kein Fell, nur eine ungesunde braune und schuppige Haut. Aus seiner Nase triefte es, wenn es den Kopf hob um zu schnüffeln. Und auch auf dem Boden hinterließ das Tier eine deutlich sichtbare Schleimspur. Im bescheidenen Licht seiner Taschenlampe glitzerte sie wie Quecksilber. Sicher war ein Kontakt damit auch genauso gesund.

Ungelenk tappte das ‚Hundeähnliche’, wie er es getauft hatte, auf seine Taschenlampe zu und schnupperte daran. Deutlich sah er den Sabber glitzern, der an seiner Lampe hängen blieb. Dann wandte es den Kopf seinem Rucksack zu. Das konnte Gaius nicht zulassen! Niemals durfte dieses Ding seinem Schatz zu nah kommen. Seine Hand fuhr an seinen Gürtel und zog sein Taschenmesser. Die Klinge hatte nicht einmal zehn Zentimeter, also musste er gut treffen. Das Messer in der Hand, sprang er vorwärts.

*

Erschrocken starrte er den Honk an, dessen Gesicht unter einer dicken Paste aus ranzigem Fett und Ruß verschwand. Honks, so hatte man anfangs marodierende Soldaten genannt. Mittlerweile war es zu einem Begriff für bewaffnete Männer und Frauen mit dem Intellekt eines Toastbrots geworden.

»Konntest deine Finger nicht vom Würfel lassen, was?«, kicherte jemand in Christians Rücken.

Er zuckte zusammen. Noch ein Honk! Die Hand auf seiner Schulter ließ nicht zu, dass er sich dem Sprecher zuwandte. Aber das war auch nicht notwendig. Der kam um ihn herum. Er war genauso ein Kleiderschrank wie ‚Honk 1’, nur etwas kleiner. Auch er hatte sein Gesicht mit der Tarnpaste beschmiert und er trug eine Maschinenpistole, deren Lauf auf Christians Bauch zeigte. Im Gegensatz zu ihrem Träger, sah die Waffe gepflegt aus.

»Warst du nur neugierig oder weißt du, was du da angefasst hast?«, fragte der mit der MP weiter.

Christians Blick hatte sich an der Schusswaffe festgesaugt. Das war eine UZI. Ein ziemlich altes Modell. Die Dinger waren selbst gesichert gefährlich.

»Interessiert dich mein Baby?«, fragte der Honk mit einem bösartigen Lachen.

»Was?« Verwirrt tauchte Christian aus seiner Gedankenwelt auf. Der Kerl hatte ihn etwas gefragt. Warum gelang es ihm nur nie seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. »Ich, äh…der Würfel«, versuchte er es auf gut Glück. »Ich wollte ihn mir nur ansehen.«

»Ansehen?«, fragte der mit der Maschinenpistole hämisch. »Wolltest du testen, ob das was zu essen ist?«

Der andere Honk, der ihn noch immer an der Schulter festhielt, kicherte. Offensichtlich war das eine Art Honkhumor. Christian wusste jetzt schon, dass er damit nichts anfangen konnte. Aber jetzt war nicht die Zeit, um die Augen zu verdrehen. Er musste sich eine Antwort überlegen und das schnell.

So unschuldig wie möglich, sah er dem Mann in die Augen und versuchte zu ergründen welche Antwort die Günstigere für ihn war. Der große Knall hatte viele Menschen zu Technikfeinden werden lassen. Man machte Wissenschaftler, Ingenieure und Programmierer für die Katastrophe verantwortlich. Am meisten die Programmierer. Wenigstens kam ihm das so vor.

»Bist du stumm geworden?«, fragte ‚Maschinenpistole’ mit den ersten Zeichen von Ungeduld.

Jetzt hatte er den Faden verloren. Unvermittelt quetschte ‚Honk 1’ ihm die Schulter. »Au!« Empört sah er seinen Peiniger an.

»Kann noch immer reden«, bemerkte der zufrieden und kehrte in seine abwartende Position zurück.

Ärgerlich rieb Christian sich die schmerzende Schulter.

»Anscheinend braucht unser Gast etwas Hilfe beim Reden.« Maschinengewehr grinste böse. »Zeig ihm die Wand, Gabriel.«

Gabriel drehte ihn wie eine Puppe um seine Achse und schob ihn näher an die Mauer, die seinen Flug so unsanft gebremst hatte. Erst jetzt fielen Christian die Einschusslöcher auf. Seine Knie wurden weich.

*

Der Schmerz machte ihr nichts aus. Eher erinnerte er sie daran, dass sie noch lebte. Entschlossen zog Kamherra die Bürste ein weiteres Mal durch ihr widerspenstiges Haar. »Widerstand ist zwecklos!«, kicherte sie manisch. Aus welchem Film war das noch gewesen? Sie erinnerte sich nicht.

Rupf! Es tat weh, wenn sich die Bürste in einem Knoten verfing, aber wenigsten hatte sie keinen Haarausfall. Wie so viele andere nach dem großen Knall. Ob das ein gutes Zeichen war? Vielleicht war sie nicht so schlimm verstrahlt.

Wieder stahl sich ein hysterisches Lachen über ihre Lippen. Spielte das noch eine Rolle? Gesund sein, für ein möglichst langes, einsames Leben in dieser Sandwüste? Wann hatte sie das letzte Mal einen anderen Menschen gesehen? Einen lebenden Menschen, der seinen Verstand noch beisammen hatte und sie nicht umbringen wollte. Gab es überhaupt noch welche? Seit einer Ewigkeit hatte sie nur noch Leichen gesehen. Und sie hatte die angefasst, um an ihre Habseligkeiten zu kommen.

*

Siw schlitterte die Sanddüne herunter. Die Frau hörte und sah nichts. Sie war vollkommen in ihr monotones Bürsten versunken. Am Fuß der Sanddüne blieb Siw stehen und betrachtete die Fremde. Ihre Haare begannen unter den beharrlichen Bürstenstrichen zu glänzen. Wie Siw, trug sie ein Tank Top und dazu einen Rock.

Siws Mund wurde trocken. Was tat sie hier eigentlich? Wollte sie diese Frau wegen etwas Wasser und einer Bürste umbringen? Sie hatte noch nie jemanden ermordet und wollte damit auch jetzt nicht anfangen. Sie ließ den Revolver sinken.

Unvermittelt kicherte die Frau vor ihr wieder. Die Haare an Siws Armen richteten sich auf. Erinnerungen an die Irren in den Ruinen der Städte tauchten vor ihr auf. Weit aufgerissene Augen, wirres Haar und geifernd wie tollwütige Hunde. Sie riss die Waffe wieder hoch und zielte genau auf einen Punkt zwischen den Schulterblättern. Auch wenn sie noch nie gemordet hatte, getötet hatte sie schon. Einen dieser Wahnsinnigen, der plötzlich sabbernd vor ihr gestanden hatte. Noch immer lief es ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie daran dachte. Das Kichern veränderte sich und die Schultern der Frau begannen zu zucken.

*

Er erstarrte zur Salzsäule. Der Hund war mit einem Aufheulen in der Dunkelheit verschwunden, obwohl er ihn nicht einmal verletzt hatte. Er hatte sich einfach erschrocken, als Gaius mit einem lauten ‚Aus!’ und dem Messer in der Hand auf ihn zugesprungen war. Und während er dem seltsamen Hund nachschaute, hatte sich etwas kaltes Rundes in sein Genick gebohrt. Den letzten Zweifel, worum es sich dabei handelte, beseitigte ein metallenes Knacken.

»Böser Junge!«, sagte jemand hinter ihm amüsiert.

Die Mündung der Waffe rutschte an seiner Wirbelsäule herunter, ohne den Kontakt mit seinem Körper zu verlieren. Auf Höhe seiner Nieren hielt sie an.

»Was ist so Wertvolles in dem Rucksack?«, erkundigte sein Angreifer sich.

Warmer Atem streifte Gaius Ohr. Mühsam unterdrückte er ein Schaudern. Er hasste es, wenn ihm jemand so nah kam, dazu brauchte es nicht einmal eine Pistole.

»Magst du mir nicht antworten?«, fragte die Stimme rau.

Der Mann hinter ihm lachte unangenehm. »Oh, und lass bitte das Messer fallen.«

*

Traurig schaute Rixel auf die Skala der Energiezelle. Ihm blieb nicht einmal mehr ein ganzer Monat. Ein paar Stunden konnte er hinzugewinnen, wenn er etwas zu essen fand. Ohne viel Hoffnung suchte er den Horizont ab. Sand im Norden, Sand im Westen und im Süden. Die einzige Erhebung in dieser lebensfeindlichen Wüste war die Stadt in seinem Rücken, aus der er hinausgeflogen war. Und in der auch seine Tasche, mit der letzten vollen Energiezelle, zurückgeblieben war.

Mittlerweile war er zu der Ansicht gelangt, dass die Hand der Frau sich nicht zufällig im Griff seiner Tasche verheddert hatte. Sie hatte vermutlich von Anfang an vorgehabt ihn zu bestehlen.

Unschlüssig schaute er auf die Stadt zurück. Sollte er sich zurückzuschleichen und im Schutz der Nacht über den Palisadenzaun klettern, um sich sein Eigentum zurückholen? Vielleicht konnte er dann auch noch etwas von dieser braunen Limonade ergattern, die sie als Cola verkauften. Diebe zu bestehlen war kein Raub. Und ihm konnte es helfen. Mit diesem Zuckerwasser und etwas Brot konnte er die Lebensdauer seiner Energiezelle strecken. Also seine eigene! Was hatte er zu verlieren?

‚Falsche Frage’ schoss es ihm durch den Kopf. Richtig musste es heißen: ‚Was konnte er gewinnen?’ Eine lange, einsame Zeit in dieser Sandwüste. Ausgestoßen aus den Resten der menschlichen Gemeinschaft. Er seufzte schwer und setzte seinen Weg fort. Weg von der Stadt.

*

Christian hätte am liebsten laut geschrien, vor Ekel und Verzweiflung. Langsam und sorgfältig tastete Gabriel seinen Körper ab. Jeden noch so unbedeutenden Gegenstand zog der Honk aus seiner Tasche und warf alles auf einen Haufen in den Sand.

Sie hatte ihn gezwungen sich mit dem Gesicht zur Mauer zu stellen und die Hände gegen die Steine zu drücken, so wie Polizisten es in Kinofilmen mit Verdächtigen machten. Als es noch Kinos gab. In dieser lächerlichen Position musste er die Durchsuchung über sich ergehen lassen. Warum machten sie sich diese Mühe? Hätten sie ihn nicht wenigstens erst erschießen können? Eine der Hände glitt in sein offenes Hemd, berührte dabei seine nackte Haut und fand die versteckte Innentasche. Der Honk stieß einen Pfiff aus.

»Sieh mal, Heinz.« Er hielt dem Mann mit dem Maschinengewehr seinen Fund unter die Nase.

Mit einem gemeinen Grinsen nahm Heinz Christians Handheld entgegen und schaltete ihn an.

»Wie ist das Passwort?«

Trotzig biss Christian sich auf die Lippe. Warum sollte er ihnen das sagen? Sie würden ihn ohnehin erschießen.

Anscheinend erriet Heinz seine Gedanken. Er beugte sich über seine Schulter und sein Mundgeruch traf Christians Nase.

»Ich wette mit dir, dass Gabriel keine halbe Stunde braucht, um das Passwort aus dir herauszuprügeln«, flüsterte er dicht neben seinem Ohr.

Christian versuchte die Luft anzuhalten und schielte über die Schulter; dorthin, wo Gabriel stand.

*

Sie weinte! Ganz leise. Siws Hand mit dem Revolver sank wieder. Leise, aus tiefstem Inneren, kam das kaum hörbare Schluchzen. So verzweifelt, als weinte sie um die ganze Welt und wahrscheinlich tat sie das auch.

Siws Daumen rutschte ab und der Hahn entspannte sich mit einem nicht zu überhörenden Klicken. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück. Die fremde Frau wandte sich nicht sofort um. Sie erstarrte und ihr Weinen brach abrupt ab. Die Hand mit der Bürste schlaff vor sich im Sand, wartete sie ergeben ab.

Siw brachte keinen Ton heraus. Was sollte sie auch sagen? Warum war sie überhaupt hier? Dumme Frage! Wegen des Wassers natürlich. Die Schultern der Frau zitterten, als ob sie fror. Siw kam sich total blöd vor, mit der klobigen Waffe in der Hand, herumzustehen. Was sagte man in so einer Situation? Hallo, fühlst du dich auch so verloren?

Langsam drehte die Fremde sich zu ihr um. Ihre Augen waren blau und, bis auf die Tränen, klar. Das waren nicht die Augen einer Wahnsinnigen. Trauer und Schmerz sprangen Siw fast physisch aus diesem Blick an. Einen Moment fühlte sie sich, als ob sie in einen Spiegel schaute.

»Ich bin Kamherra«, sagte die Fremde leise.

Siw lauschte der Stimme. Sie war traurig. Am liebsten hätte sie den Revolver unsichtbar gemacht. »Kann ich mir deine Bürste leihen?«, fragte sie spontan.

*

Hinter ihr stand keine Horde Zombies oder anderer Irrer. Es war nur eine Frau mit einem alten Revolver, die höflich um ihre Bürste bat. »Natürlich«, lächelte Kamherra unsicher. Sorgfältig zupfte sie ihre Haare aus der Büste, ehe sie diese der Unbekannten reichte.

Achtlos steckte die Frau, mit den kurz geschnittenen Haaren, ihre Waffe weg. Vorsichtig nahm sie Kamherra die Bürste aus der Hand. »Danke«, sagte sie leise und ein wenig schüchtern.

»Setzt dich doch.« Kamherras Hand deutete auf den heißen Wüstensand, als ob sie einer unerwarteten Besucherin einen Platz in einem Salon anbot.

Mit gekreuzten Beinen ließ die Frau sich neben Kamherra nieder. Fast andächtig hob sie die Büste und zog sie durch ihr volles rotbraunes Haar.

»Ich heiße Siw«, sagte sie dabei beiläufig.

Mit einer Mischung aus Unglauben und Hoffnung beobachtete Kamherra Siw. Sie war definitiv kein Trugbild. Sie saß dort im Sand vor ihr und sie wirkte nicht krank. Ihre Haut war hell und bis auf ein paar Narben und Kratzer sah sie gesund aus. Nicht wie jemand, der in den nächsten Stunden sterben, und sie erneut allein in dieser Einöde zurücklassen würde.

*

Überleben

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