Читать книгу Überleben - Martin Johannes Christians - Страница 4

Schwierigkeiten

Оглавление

Halluzinierte er schon? Rixel rieb sich die Augen. An dem kleinen Wasserloch saßen zwei Frauen auf einer Decke und picknickten. Dabei lachten und scherzten sie, als ob sie in einem Park saßen und nicht hier in dieser trostlosen Einöde.

Ein Park! Rixel seufzte. Wie gern würde er noch einmal einen Park sehen oder besser noch, einen Wald. Er versuchte sich an üppiges Grün zu erinnern. Es gelang ihm nicht. War es wirklich schon so lange her, dass alles den Bach runter gegangen war? Er schüttelte den Gedanken ab und beobachtete die beiden Frauen eine Weile. Zu gern würde er dort hinunter gehen, mit ihnen reden und natürlich einen Schluck Wasser trinken. Aber das musste ein Wunsch bleiben. Er wollte sie nicht erschrecken, mit seinem Fenster im Kopf.

Wo die Beiden wohl her kamen? Ob es hier eine weitere Stadt gab? Oder zogen sie einfach allein durch die Wüste? Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Dafür sahen sie zu normal und zu fröhlich aus.

Rückwärts kroch er die Düne wieder hinunter. Am besten fand er sich damit ab, dass er nicht länger Teil einer menschlichen Gemeinschaft sein konnte. Kein Wasser für ihn und auch kein nettes Gespräch. Er würde einfach in die Wüste zurück schleichen und allein seiner Wege gehen. Besser gesagt, seinen letzten Weg. Wenige einsame Tage bis seine Energiezelle ihren Dienst ganz aufgab. Vielleicht fand er vorher ja noch ein anderes Wasserloch, dann musste er wenigstens nicht durstig sterben.

*

Mit einem Piep erwachte der Handheld hinter ihm zum Leben. Aus den Augenwinkeln sah er Heinz ungeschickt damit herum hantieren. Seine groben Finger verschmierten das Display. Er hämmerte darauf herum, als sei es eine uralte Schreibmaschine, so eine wie Christian sie bei seinem letzten Museumsbesuch gesehen hatte.

Er erinnerte sich lebhaft an den alten Kasten, mit den Farbbändern und dem beweglichen Wagen. Es war ihm schwer gefallen, sich vorzustellen, wie man mit so etwas schreiben konnte. Versonnen schaute er vor sich auf die verwitterten Mauersteine. Sie erinnerten ihn an irgendetwas. Außerdem taten ihm seine Arme weh. Wie lange wollten die ihn hier noch so stehen lassen?

»Das ist Programmiercode.« Heinz ließ den Handheld sinken und musterte Christian mit neuem Interesse. »Du bist Programmierer?«

»Was?« Heinz' Frage platzte in seine Gedanken. Den Faden ihrer kurzen Unterhaltung hatte er längst verloren. »Nein.«, Christian schüttelte den Kopf. »Ich bin Elektrotechniker.«

»Dann sind die nicht von dir?«, unterbrach Heinz ihn.

»Doch. Aber das sind Skripte«, korrigierte er gewissenhaft.

»Dann bist du Programmierer«, stellte Heinz bestimmt fest. »Glück für dich, sonst müssten wir dich an die Mauer stellen.«

Aber da stand er doch schon. Verwirrt starrte Christian auf die braunen Flecken, die sich um die Einschusslöcher gruppierten. Das war Blut, erkannte er mit seltener Klarheit. Es sah ganz anders aus, als im Film.

»He?« Heinz' Finger pikste in seinen Rücken.

»Äh, ja?« Der Heinz Honk wartete offensichtlich darauf, dass er etwas sagte. Aber was? »Ja, ich bin Programmierer«, bestätigte er schließlich. Fast hätte er Skripter gesagt, aber an derart feinen Unterschieden war der Mann offensichtlich nicht interessiert.

»Dann kannst du dich entspannen.«

Erleichtert sanken Christians Arme herunter. Prickelnd kehrte das Blut in seine Hände zurück. Sie fühlten sich kalt an, trotz der Sonne.

»Durst?«

»Was…?« Wenn sie doch aufhören würden, ihn mit ihren Fragen anzufallen.

Grinsend hielt Gabriel ihm eine Flasche entgegen. Vorsichtig nahm Christian das bauchige, mit Fell bezogene Gefäß in die Hand. In dessen Inneren gluckerte es.

Er hatte tatsächlich Durst, aber die Vorstellung aus dieser Flasche zu trinken, die von den Honks mit Sicherheit schon benutzt worden war, behagte ihm nicht.

»Trink!«, ermunterte Heinz ihn.

»Äh…ich…«, abwehrend hob er die Hand.

»Trink was!«, befahl Heinz drohend.

Sein Gebaren ließ kein Zweifel daran, dass Christian keine Wahl hatte. Widerwillig schraubte er die Flasche auf. Der Geruch trug nicht dazu bei seinen Appetit zu steigern, aber was blieb ihm übrig? Sorgfältig wischte Christian den Flaschenhals ab und trank einen Schluck.

*

»Und?«, fragte die Stimme in seinem Rücken. Die Frage galt nicht ihm, sondern Tolly. Einem der drei Honks die aus der Dunkelheit in den Lichtkreis seiner Taschenlampe getreten waren. Er hatte den Befehl bekommen, Gaius’ Rucksack zu durchsuchen.

»Nur Papier.« Achtlos wühlte Tolly die einzelnen Blätter heraus und warf sie zur Seite.

Seine Manuskripte! Dieser Halbaffe brachte sie völlig durcheinander. Nur die Pistole in seinem Rücken hinderte Gaius daran, sich auf den Honk zu stürzen und ihn zu erwürgen.

»Und deswegen hast du Fiffi erschreckt?«, wunderte sich der Mann in seinem Rücken.

Fiffi? Er warf einen Blick auf die stinkende Kreatur. Sie war leise jaulend zurückgekommen, als sie die Männer gehört hatte. Jetzt hielt einer der Honks sie in den Armen und brabbelte ihr irgendeinen Blödsinn ins Ohr. Tollys überraschter Pfiff entband Gaius einer Antwort.

»Ein Computer«, verkündete der Honk und hielt Gaius' Laptop hoch.

Dann nahm Tolly mit der freien Hand eines der Blätter auf, die er zuvor so gleichgültig fortgeworfen hatte. Einen Augenblick starrte er mit gerunzelter Stirn darauf. »Da sind eine Menge Symbole drauf«, verkündete er dann. »Vielleicht ist der Typ Programmierer.«

Programmierer? Er schnaubte ärgerlich. Es war doch eindeutig, was Tolly in den Händen hielt. Mühsam schluckte er das Wort »Idiot«, das ihm auf der Zunge lag, herunter.

»Bist du Programmierer?«, fragte der Mann mit der Pistole in seinem Rücken.

»Nein«, antwortete er einsilbig. Er sah keinen Grund etwas zu erklären. Der Pistolero konnte wahrscheinlich genauso wenig lesen wie Tolly und die beiden anderen Hohlköpfe.

»Zeig mal her.«

Tolly bückte sich und klaubte die verstreuten Seiten zusammen.

Eine Pistole im Rücken zu haben, fühlte sich wirklich nicht gut an. Das war viel schlimmer als vor einem Lauf zu stehen, entschied Gaius. Das musste er unbedingt berücksichtigen, wenn er noch einmal dazu kommen sollte zu schreiben.

Ohne Vorwarnung riss ihn sein Angreifer herum und drückte ihn gegen die Wand. Schmerzhaft prallte er mit den Schulterblättern dagegen. Wenigsten sah er den Mann jetzt. Er war hager, fast einen Kopf größer als er selbst und er war bestimmt kein Honk. Die unangenehmsten hellen Augen, die er je gesehen hatte, musterten ihn eindringlich. Diese Augen verrieten ihm außerdem, dass der Mann intelligent war. Die Pistole wurde ihm seitlich gegen den Hals gedrückt. Das fühlte sich auch nicht besser an, als im Rücken, analysierte ein Teil vom ihm nüchtern.

»Du bleibst schön brav hier stehen. Ich will keine Bewegung sehen. Verstanden?«, ordnete der Hagere mit Nachdruck an.

Gaius' Mund wurde trocken. Zum ersten Mal verspürte er mehr Angst als Trotz und Ärger. Dieser Mann war gefährlich. Schweigend nickte er.

Die Pistole verschwand im Gürtel des Hageren und er nahm die zerknitterten Seiten, die Tolly ihm hinhielt. Mit einem spöttischen Lächeln in Gaius Richtung, glättete er das Papier und begann zu lesen.

»Ein Manuskript?« Überrascht hob der Kerl den Kopf und suchte seinen Blick.

Wieder nickte er nur. Jahrelang hatte er sich mit Kurzgeschichten, Zeitungsartikel und blödsinnigen Werbesprüchen über Wasser gehalten und ausgerechnet als er seinen ersten Buchvertrag in der Tasche hatte, mussten sie die Welt in die Luft jagen.

Die Honks grinsten böse und Tolly hatte plötzlich einen unförmigen Revolver in der Hand.

»Machen wir ihn kalt.«

»Steck' das Ding weg, Idiot!«

Der Hagere würdigte Tolly keines Blickes, trotzdem gehorchte der sofort. Die beiden Anderen hörten auf zu grinsen und sogar Fiffi stellte sein leises Winseln ein.

»Wir nehmen ihn mit. Ihn und seine Sachen. Und geht vorsichtig damit um.« Damit verschwand er in der Dunkelheit. Tolly beeilte sich die losen Manuskriptseiten und den Computer wieder in den Rucksack zu stopfen. Einer der anderen Honks packte Gaius am Oberarm und führte ihn hinter ihrem Anführer her.

*

Die Staubfahne entpuppte sich als Auto. Eine Art Pick-up, wenn ihn seine Augen nicht täuschten. Sie fuhren nicht in seine Richtung, waren aber nah genug, um ihn zu entdecken; was in einer fast deckungslosen Wüste kein Kunststück war.

Rixel legte sich flach auf den Boden und zog seinen Umhang über sich. Er hielt den Kopf gerade hoch genug, um den Wagen, unter seiner provisorischen Tarnung, im Auge behalten zu können. Sie fuhren schnell und wenn sie ihre Fahrtrichtung nicht änderten, würden sie ihn um fast einen Kilometer verfehlen. Endlich hatte er auch mal Glück. Rixel atmete auf.

Er wagte es, sich auf die Unterarme zu stemmen, um dem Auto besser nachsehen zu können. Es änderte die Richtung und hielt auf das Wasserloch zu, an dem die beiden Frauen saßen. Gehörten sie zu den Beiden oder bedeuteten sie eine Gefahr? Rixel erhob sich und schaute dem Wagen hinterher. Vor der Düne wurde er langsamer und ein Mann sprang heraus. Dann raste der Pick-up weiter, um die Düne herum. Der Mann hastete den Sandberg hoch.

Rixel zögerte nicht länger. Möglich, dass die Männer Freunde der Frauen waren. Ebenso gut aber konnten es auch Wüstenräuber sein. Er hatte schon öfter von Banden gehört, die sich die wenigen Wasserstellen zunutze machten, um Menschen zu überfallen.

Rixel rannte.

*

Wie lange stiefelte er jetzt schon hier durch den Sand? Christian wusste es nicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dass er hinter dem stramm marschierenden Heinz herlief.

Die Sonne brannte unbarmherzig und seine Füße versanken bis zu den Knöcheln im warmen Sand. Außerdem hatte er Durst. Sehnsüchtig suchte sein Blick die Flasche an Heinz' Gürtel. Das Wasser war eine warme Brühe und beide Honks hatten den Verschluss besabbert, aber im Augenblick war ihm das egal.

Gabriels Finger bohrten sich wieder einmal zwischen seine Schulterblätter und Christian stolperte. Das machte der Honk in regelmäßigen Abständen, unabhängig davon, ob Christian langsamer geworden war oder nicht. Vermutlich dachte er, dass so etwas zu seinen Aufgaben als Wächter gehörte, oder es machte ihm einfach nur Spaß. Christian ignorierte es jedenfalls schon lange.

Seine Gedanken kehrten zu seinem Handheld zurück. Ob Heinz seine Skulpturen gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er sicher danach gefragt. Vorsichtshalber hatte Christian sich schon eine Erklärung für die digital animierten Objekte zurechtgelegt. Falls man ihn danach fragen sollte.

Mit dem Ärmel seines zerschlissenen Hemdes wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Das brachte ihn wieder zu der Frage zurück, wohin sie gingen. Darauf hatten weder Heinz noch Gabriel ihm geantwortet. Gabriel schien überhaupt nur reden zu können, wenn Heinz ihn dazu aufforderte.

In seinem Kopf entstand das Bild eines primitiven Lagers voller Tarnfarben verschmierter Honks. Aber was konnten solche Kreaturen von ihm wollen? Dass er ihre alten Computer wieder lauffähig machte, damit sie ihre Ballerspiele weiterspielen konnten? Vielleicht sogar denkbar, wären da nicht das fehlende Stromnetz und diese ausgeklügelte Falle mit dem Würfel. Eine tiefe Denkfalte grub sich in Christians Stirn. Darüber hatte er bisher noch gar nicht nachgedacht. Dieser Hinterhalt konnte unmöglich von Heinz gelegt worden sein. Allein auf die Idee mit den flexiblen Kontaktstellen zu kommen. Christians Gedanken verloren sich in der Konstruktion des Würfels.

*

Sie wollten ihn verschleppen! Gaius konnte sich nicht entscheiden, ob ihn das mehr erschreckte oder ärgerte, einfach so, wie ein Fundstück, mitgenommen zu werden. Ohne den Kerl mit den kalten Augen, von dem er mittlerweile wusste, dass er Ron hieß, wäre die Entscheidung dazwischen nicht so schwer gefallen. Honks hatte er schon öfter ausgetrickst. Aber dieser Typ? Unwillkürlich dachte er daran, was er früher einmal über Psychopathen gelesen hatte. Sie waren intelligent, meistens erfolgreich und nur wenige wurden zu Serienmördern. Vor dem großen Knall waren die meisten Investmentbanker gewesen. Er versuchte sich Ron in einem Anzug auf einer Cocktailparty vorzustellen, wie er charmanten Smalltalk betrieb. Es gelang ihm nicht. Irgendwie schien er mehr der Typ Mafioso zu sein. Die rechte Hand eines Dons, die für Ruhe sorgte.

Wenn er sich doch nur Notizen machen könnte. Seine Erlebnisse konnten so viel zur Lebendigkeit seiner nächsten Charaktere beitragen. Dabei spielte es keine Rolle, dass er keine Krimis oder Thriller schrieb. Gaius öffnete die Augen. Warum sollte er sich eigentlich keine Notizen machen? Dagegen konnten sie doch nichts haben. Er schielte auf seinen Rucksack, der neben seinem Bewacher an der Hauswand lehnte.

»Denk nicht einmal daran!«

Ron materialisierte unmittelbar neben ihm aus dem Schatten. Wenigstens erschien es ihm so. Verglichen mit dem Typ, trampelten Katzen.

»Wieso soll ich mein Notizbuch nicht holen?«, fragte er verdutzt.

»Dein Notizbuch«, grinste Ron. »Sicher!«

Gaius nickte verwirrt. Was dachte Ron denn, was er vorgehabt hatte? Den Honk umhauen und wegrennen? Mit seinem Rucksack? Warum eigentlich nicht, fragte er sich erneut. Die Idee war gar nicht so dumm. Da hätte er auch wirklich selbst drauf kommen können. Schließlich hatte er doch mal ein paar Gürtelgrade beim Anti-Terror-Kampf erworben. Aber jetzt musste er erst einmal Ron antworten. Wenigstens sah der aus, als ob er auf eine Erklärung wartete.

»Ich möchte meine Eindrücke festhalten«, erklärte er ehrlich. »Das ist immerhin meine erste Entführung.«

Ron starrte ihn einen Moment so an, wie es früher sein Psychiater getan hatte. Aber anders als der, warf Ron unvermittelt seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend. Ebenso schnell wie es angefangen hatte, verstummte das Lachen und Ron packte ihn am Revers.

»Und dafür riskierst du, zusammengeschlagen oder erschossen zu werden?«, fauchte Ron böse.

Erschossen? Das klang nicht gut. Würden sie tatsächlich auf ihn schießen, wenn er versuchte wegzulaufen?

»Du machst mir Spaß«, fuhr Ron fort. »Für unseren Schreiberling noch mal im Klartext: Du wirst dich nicht bewegen, ohne dass man es dir erlaubt.« Leise fügte er hinzu: »Hast du das begriffen oder brauchst du ein paar Eindrücke, die du garantiert die nächsten Tage nicht vergisst?«

*

Verblüfft blieb Christian stehen und schaute auf die Stadt hinunter. Sie war groß, hatte eine solide Stadtmauer und Elektrizität! Das war selten. Gabriel schubste ihn vorwärts.

Ihr Weg hatte sie vor knapp einer Stunde von der Sandwüste in eine Steinwüste geführt. Erst waren sie über wegloses Geröll gestolpert, aber bald hatte sich der Boden zu einem Pfad geglättet und hier, unmittelbar vor der Stadt, war es sogar eine richtige Straße. Mehrere Männer arbeiteten daran sie auszubauen.

»Willkommen in der Zivilisation, Christian«, sagte Heinz voller Stolz.

Christian konnte den Blick nicht von der Arbeitscrew wenden. Sie trugen Ketten mit massiven Kugeln an den Fußgelenken und vermieden jeden Blickkontakt.

»Was haben sie getan?«, fragte er, besorgt um sein eigenes Schicksal.

»Nichts!«, grinste Heinz. Für einen Augenblick entwickelte der Honk eine beeindruckende Empathie. »Und nichts tun, gibt es bei uns nicht. Wer leben will, muss einen nützlichen Beitrag zum Gemeinwohl liefern.«

Christian fühlte sich an seinen Geschichtsunterricht erinnert. Deutschland hatte einmal einen Außenminister gehabt, der von solchen Zuständen geträumt hatte. Er folgte Heinz die gut gepflegte Straße hinunter; Gabriel nach wie vor einen Schritt hinter sich. »Wer ist ‚uns’?« In seinem Kopf wirbelten die Eindrücke durcheinander. Eine richtige Stadt und damit Hoffnung, aber anscheinend unter der Knute einiger Honks.

»Wir alle sind ‚uns’!«, erklärte Heinz, noch immer voller Stolz. »Wir sind eine Gemeinschaft, mit dem Ziel die Zivilisation wieder aufzubauen. Und das besser als sie je war.« Heinz Arm beschrieb einen weiten Bogen, der symbolisch die Stadt umfasste. »Unsere Stadt ist nicht wie die anderen, die das Unglück überdauert haben. Wir sind ordentlich organisiert. Wir haben einen Stadtrat mit einer Bürgermeisterin.«

Bürgermeisterin? Die Honks gehorchten einer Frau? Vermutlich war das ein gutes Zeichen, jedenfalls konnte Christian sich nicht an eine Diktatorin erinnern. »Ihr habt einen Stadtrat gewählt und eine Bürgermeisterin?« Hoffnung kehrte in seine Stimme zurück.

»Wo denkst du hin?«, lachte Heinz amüsiert. »Wahlen!«, schnaubte er verächtlich. »Lana hat nach dem Knall hier alles zusammengehalten und sich so den Posten als unsere Bürgermeisterin verdient. Ihre Helfer hat sie zu Stadträten ernannt.«

Soviel dazu, dass die Welt in Frauenhand besser wird. Entmutigt trottete Christian hinter seinen Entführern her. Heinz grüßte zwei Männer, die etwas abseits der Straße träge an einem Fels lehnten und die Arbeiter beobachteten. Genau wie Heinz trugen sie Waffen. Nur ihre Gesichter waren sauber. Weitere Bewaffnete empfingen sie vor dem Stadttor. Ein Mann und eine Frau. Sie hatten im Schatten eines Wachhäuschens gewartet. Heinz wechselte leise ein paar Worte mit ihnen.

Christian nutzte die Zeit um sich umzusehen. Viele der Häuser sahen so aus, als ob sie noch aus der Zeit vor der Katastrophe stammten. Sie waren alt, massiv und wurden offenbar gut in Schuss gehalten. Allerdings hatte keines der Häuser mehr als ein Stockwerk. Nur ganz am Stadtrand standen ein paar höhere Gebäude, die ein gut gebauter Palisadenzaun miteinander verband. Diese Häuser waren unbewohnt und die Außenfassaden an den Stellen, wo sie Fenster und Türen gehabt hatten, zugemauert und mit Stacheldraht verkleidet.

»Christian?« Heinz winkte ungeduldig. »Träumst du schon wieder?«

»Was?« Zerstreut riss er sich von der Betrachtung der Häuser los.

Heinz packte ihn an der Schulter und zog ihn kopfschüttelnd durch das Stadttor.

»Wohin gehen wir?« Ihm war mulmig zumute. »Was wird aus mir?«

»Du erfährst gleich alles, was du wissen musst. Komm einfach mit und konzentriere dich ein bisschen. Ich bringe dich vor den Stadtrat und die mögen es nicht, wenn man ihnen nicht zuhört.«

»Der Stadtrat?« Das beruhigte ihn nicht.

»So halten wir das hier. Jeder der beim Herumstreunen aufgegriffen wird, muss vor den Stadtrat.«

Herumstreunen? Aufgegriffen? Das hörte sich ja an, als habe er etwas angestellt oder gegen Gesetze verstoßen. Sie bogen auf einem breiten Weg ein, der über einen gepflasterten und mit Blumenrabatten gesäumten Platz führte. Zwei Häuser standen auf der gegenüberliegenden Seite. Eine Kirche und eine Villa, an der ein handgemaltes Schild hing, das es als Rathaus auswies.

Christian blieb stehen und starrte auf den Galgen, der an zentraler Stelle vor den beiden Gebäuden aufgebaut war. Eine massive Konstruktion, dazu gedacht, lange stehen zu bleiben.

Heinz, der seinem Blick gefolgt war, hinderte Gabriel daran ihn erneut vorwärts zu schubsen. »Keine Angst! Wir benutzen ihn nicht häufig.«

Christian entspannte sich wieder.

»Die meisten Leute werden erschossen. Kugeln können wir billig herstellen.«, grinste der Honk.

*

Wo war denn der plötzlich hergekommen? In einer Wolke aus Sand, kam Rixel schlitternd zum Stehen. Der Mann mit dem Gewehr war wie eine Fata Morgana vor ihm aus dem Sand aufgetaucht und das Gewehr, das der auf ihn gerichtet hielt, war ein gutes Argument der Aufforderung zum Anhalten nachzukommen.

»Sieh mal an«, grinste der Bewaffnete. »Ein Irrer im Umhang, der durch die Wüste rennt. Bisschen zu warm zum Joggen, oder?«

»Anhalter«, keuchte Rixel außer Atem. »Ich hab ein Auto gesehen und wollte es anhalten. Einen Pick-up.«, fügte er hinzu.

»Anhalter?«, wiederholte der Mann perplex.

Rixel nickte. Er musste den Mann am Denken hindern und das ging am besten mit einem Monolog. »Bist du aus dem Pick-up?« Unbeholfen taumelte er einen Schritt nach vorn. »Ich hab gerufen, aber er hat nicht angehalten und dann…«

»He!« Der Lauf des Gewehrs zuckte ein Stück höher. »Das ist nah genug!«

»..bin ich losgerannt.« Er ignorierte das Gewehr und rückte noch ein Stück näher, wild mit den Armen gestikulierend. »Aber meine Kapuze ist mir ins Gesicht gerutscht und…« Der Mann wich einen Schritt zurück und entsicherte seine Waffe. »…fast wäre ich gestolpert, aber wer weiß, wann hier wieder ein Auto durchkommt.« Schnaufend blieb er stehen. »Ich trampe schon seit Tagen.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Nein, eigentlich ist das nicht korrekt, ich versuche zu trampen, aber hier kommen ja keine Autos durch, und…«

»Halt die Klappe!«, brüllte der Fremde.

Im gleichen Moment knallte ein Schuss. Auf der anderen Seite der Düne. Rixels Herz machte einen Satz. Ohne zu denken, schnellen sein Hände vor und umklammerten den Lauf der Flinte. Überrascht schrie der Mann auf, aber statt abzudrücken, versuchte er, sein Gewehr mit einem Ruck zu befreien. Dabei rutschte seine Hand vom Abzug. Rixel ließ nicht los. Er bog den Lauf zur Seite und zog daran.

»Lass los, du Irrer!«, fluchte der Mann und riss die Waffe mit aller Macht zurück.

»Nein!« Rixel stemmte beide Beine in den Sand und zerrte wild an dem kalten Metall.

»Mistkerl!« Der Mann stolperte nach vorn und trat nach Rixel.

Er fühlte den Schlag nicht, aber das ‚Ponk’ und das schmerzverzerrte Gesicht, mit dem der Mann vor ihm auf die Knie sank, verrieten Rixel, dass der gegen sein rechtes Schienbein getreten hatte.

Sein Angreifer überraschte Rixel damit, dass er nicht versuchte aufzustehen. Stattdessen hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an das Gewehr und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag landete Rixel im Wüstensand. Liegend kämpften sie weiter. Beißen, kratzen und Spucken! Jetzt war alles erlaubt. Und dabei darauf achten, den eigenen Kopf von der Mündung der Flinte weg zu halten.

Auf der anderen Seite der Düne knallten erneut Schüsse. Es waren also eindeutig keine Freunde der Frauen, sondern Räuber. Rixel verdoppelte seine Anstrengung. Unvermittelt ließ der Mann sein Gewehr los und packte Rixel am Hemd. Fest krallten sich seine Finger in den Stoff. Der Kerl versuchte seine Hand zu drehen und ihn mit dem Kragen seines eigenen Hemdes zu würgen. Ärgerlich zog er den Kopf zwischen die Schultern und drückte den Arm des Mannes von sich weg. Es gab einen Ruck und die Knöpfe flogen in alle Richtungen.

Sein letztes Hemd! Rixel fluchte. Jetzt rissen die Hände seines Kontrahenten an der Brustplatte, die dicht neben seinem Herzen die Energiezelle barg. Er versuchte die grapschenden Hände wegzuwischen. Trotzdem schaffte der Kerl es, seine Finger in den Verschluss zu krallen. Hektisch versuchte Rixel den Mann zurückzustoßen, aber der hing wie ein Terrier an ihm. Der Verschluss klickte und die Platte fiel herunter. Die Hand seines Angreifers fuhr in seinen Brustpanzer und umklammerte die Energiezelle.

*

Gaius blinzelte. Die Sonne war noch immer unerträglich hell, obwohl der Tag schon weit fortgeschritten war. Die Honks waren seit fast einer Stunde in der Lagerhalle beschäftigt. Es war noch ein Vierter hinzugekommen; mit einem Lastwagen. Ihn hatte Ron hinaus bringen lassen. Leider blieb immer einer der Honks als Wache bei ihm. Im Augenblick war das Tolly. Der Honk saß im Schatten der Mauer und bohrte sich mit dem kleinen Finger im Ohr.

»Komm her und setzt dich in den Schatten«, befahl Tolly unvermittelt.

Dem Befehl kam Gaius nur zu gern nach.

»Hinsetzen und ruhig sein«, orderte Tolly weiter.

Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ruhig sein? Was für eine blöde Phrase. Was erwartete Tolly denn, dass er tun würde? Stepptanz und dazu Arien schmettern? »Kann ich meinen Rucksack haben?«, fragte er nach einer Weile.

»Willst du nachsehen ob wir dich beklaut haben, oder dir wieder Notizen machen?«, fragte der Honk.

Das war ja ein fast komplexer Gedanke. »Beides, denke ich«, antwortete er ehrlich.

Tatsächlich gab Tolly ihm seinen Rucksack. Die Honks hatten seine Notizen sorgfältig zusammengesucht und verstaut. Es schien alles beisammen zu sein. Sogar das Book war da. Er zog es heraus und schaltete es ein. Mit einem leisen Summen erwachte der kleine Computer zum Leben.

»Tolly?«

»Was?«, fragte der Honk und sabberte an einer Flasche Wasser.

»Ich habe in der Halle einen Knopf gedrückt, ehe Fiffi aufgetaucht ist. Hängt das irgendwie zusammen?« Die Frage beschäftigte ihn schon die ganze Zeit. Tollys Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Der Knopf öffnet Fiffis Verschlag. Es sind immer zwei Mann hier bei Fiffi, musst du wissen«, erklärte Tolly bereitwillig und stolz. »Schlau nicht?«

»Aber der Hund bellt nicht.«, stellte er fest.

»Nee«, bestätigte Tolly eifrig. »Er fängt an zu winseln und stupst einen mit der Pfote an. Hat Ron ihm beigebracht.«

»Ist Ron eurer oberster Boss oder gibt es noch jemanden, der Befehle erteilt?«, fragte er weiter.

»Horchst du Tolly aus?«, erkundigte Ron sich. Er kam aus dem Schatten des breiten Haupteingangs.

»Natürlich«, gab Gaius zu.

Ron blieb vor ihm stehen. »Wir leben in einer hübschen Stadt, mit einer klugen Bürgermeisterin und unter lauter arbeitsamen Leuten«, erklärte Ron ihm grinsend. »Und du wirst schon bald dazugehören.«

*

Mit dem Gesicht im Sand, lag Siw unter einem der kärglichen Büsche. Der letzte Schuss war vom Kamm der Düne gekommen. Wer immer sich dort versteckt hielt, hatte nahezu freies Schussfeld auf Kamherra und sie.

»Worauf wartet der?«, flüsterte Kam, die neben ihr im Staub lag.

»Ich weiß es nicht.« Siw schob sich probehalber ein Stück zurück, ohne dass etwas geschah. »Wir sollten sein Zögern ausnutzen. Hier sitzen wir wie auf einem Präsentierteller.«

Kamherra nickte. Fast in Zeitlupe robbten sie rückwärts, weiter unter den Busch, der keine wirkliche Deckung bedeutete. Wenn der Schütze auf der Düne über ausreichend Munition verfügte, musste er nur lange genug in den Strauch schießen, irgendwann würde er treffen.

»Vielleicht wollen die Munition sparen«, dachte Kamherra laut.

»Oder sie hoffen, dass wir die Nerven verlieren und was Dummes tun.«

»Wir sind doch nicht blond«, meinte Kam trocken.

Siw kicherte. Aber nur kurz. Bei dem Pick-up tat sich etwas. Ein Mann kam mit erhobenen Händen dahinter hervor. Ein Strauchdieb! Das konnte sie selbst auf diese Entfernung erkennen.

»Ladys!«, rief er, mit einer komischen hohen Fistelstimme.

»Meint der uns?«, skeptisch runzelte Kamherra die Stirn.

»Kann nicht sein.« Siws Finger spielte am Abzug des Revolvers. »Ich fühle mich gerade nicht wie eine Lady.«

»Ich auch nicht.« Wehmütig schaute Kamherra auf ihre Picknickdecke, auf der die Scherben ihrer letzten Porzellantasse lagen. »Und die benehmen sich nicht wie Gentleman.«

»He, ihr Süßen!« Der Kerl kratzte sich am Bart und verließ endgültig die Deckung des Autos. »Ihr seid doch nicht vor Angst ohnmächtig geworden, oder?«

»Du wirst gleich sehen, wie ohnmächtig wir sind«, flüsterte Siw heiser und hob den schweren Revolver.

*

Vorsichtig löste Rixel die erstarrten Finger von der Energiezelle. Sie schien unbeschädigt zu sein, zeigte aber keinerlei Aktivität mehr. Nervös tastete er nach der kleinen Vertiefung am unteren Ende und drückte den kaum spürbaren Knopf. Sofort blinkte die Skala auf und durchlief den Checktest. Er dauerte keine zwei Sekunden, trotzdem kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis wieder ein Wert angezeigt wurde. Erleichtert seufzte er. Die Energie war nicht vollständig verbraucht. Das war schon einmal die halbe Miete.

Er sah auf seine Brust hinunter. Ein schwarzer Brandfleck markierte die Stelle, an der sich der Blitz nach außen entladen hatte. Angespannt befühlte Rixel die Sicherung in seinem Innern. Sie hatte ihren Dienst gut getan und sein Herz geschützt.

Der Knopf war deutlicher zu spüren, als der an der Energiezelle. Mit einem gut hörbaren Klick rastete er ein. Leider gab es keine Anzeige, die ihm verriet, ob alles noch funktionstüchtig war. Das konnte er nur feststellen, in dem er die Zelle einsetzte. Unentschlossen schaute er auf den harmlosen kleinen Zylinder in seiner Hand. Auf der anderen Seite der Düne wurde gerufen, dann folgten in schneller Folge ein Schuss, ein Schrei, Fluchen und weitere Schüsse. Rixel biss die Zähne zusammen und rammte den Zylinder in die Halterung.

*

Sand im Auge! Das tat weh. Die Kugel hatte sie verfehlt, aber den Sand vor ihr aufgewirbelt. Ihre Augen fingen an zu tränen und machten alles noch schlimmer. Weitere Schüsse peitschten den Sand vor ihr auf. Der Schütze auf dem Dünenkamm tat genau das, was Siw an seiner Stelle getan hätte. Den Busch unter dem Kam und sie Zuflucht gesucht hatten, mit ungezieltem Feuer zu belegen. Mit beiden Händen umklammerte sie den Revolver und schoss blind in die Gegend, wo sie den Pick-up vermutete. Auch von dort flogen jetzt Kugeln heran. Offenbar war der Kerl nicht so schwer verletzt, wie sie gehofft hatte. Neben ihr schrie Kamherra auf.

»Kam?« Siws Stimme überschlug sich vor Furcht. Kamherra antwortete nicht.

*

Rixel schnappte sich das Gewehr und rannte die Düne hinauf, ohne einen weiteren Blick auf den verkrampften Leichnam zu werfen. Eine aktive Energiezelle aus ihrer Halterung zu reißen, war eine sichere Art Selbstmord zu begehen. Er schüttelte den Kopf und kämpfte sich gegen den rutschenden Sand voran. Die Düne hinauf zu joggen war kein leichtes Unterfangen. Fest richtete er den Blick auf sein Ziel; ein Mann in beigefarbener Kleidung, der auf dem Dünenkamm kniete und nach unten schoss.

Der Kerl war so vertieft in sein Tun, dass er Rixels Schnaufen und seine Schritte im Sand nicht hörte. Rixel blieb stehen. Wieso rannte er eigentlich wie ein Irrer? Das konnte er doch der Gewehrkugel überlassen. Er hob die Waffe und zielte sorgfältig. Der Rücken des Wüstenräubers war über die Kimme klar zu erkennen. Ein leichtes Ziel. Groß, unbeweglich und kaum zu verfehlen. Sein Finger strich am Bügel des Abzugs entlang und berührte den Abzug. Jetzt musste er den Zeigefinger nur noch krümmen und dem ahnungslosen Mann in den Rücken schießen.

Wieso war das so schwer? Er zwang seinen Atem zur Ruhe. Okay, bis drei zählen und abdrücken. Hinter der Düne schrie eine der Frauen. Rixel zog den Abzug durch. Außer einem leisen Klicken geschah nichts. Ladehemmung! Fast hätte er die Waffe in seiner ersten Wut weggeworfen, aber dann stand der Kerl auf dem Dünenkamm auf und lachte höhnisch.

Ruhig drehte Rixel das Gewehr und packte es am Lauf. Wie eine Keule hob er es über seinen Kopf und rannte los; einen wilden, unartikulierten Schrei auf den Lippen.

*

Überleben

Подняться наверх