Читать книгу Überleben - Martin Johannes Christians - Страница 6
Keine Ruhe
ОглавлениеKamherra deutete auf eine kleine Pflanze, die der Morgensonne trotzig ihren Kopf entgegenstreckte. Dort war die kleine Dose, in der sie den Rest ihres Kaffees aufbewahrte, bei dem Überfall hingerollt. Rixel hob sie auf und steckte sie zu ihren anderen Habseligkeiten in den Beutel.
Sitzend lehnte Kamherra sich an einen Busch und schaute Siw und dem Romeo zu, wie sie das Nachtlager abbrachen. Sie selbst war noch zu schwach. Zwar war die Wunde nicht gefährlich, aber sie hatte viel Blut verloren und ihr wurde schnell schwindelig. Also bestanden ihre neuen Freunde darauf, dass sie sich ausruhte.
Ihre Freunde! Sie konnte es noch immer nicht fassen. Nach all den Tagen ohne Hoffnung gab es auf einmal einen Lichtblick. Erst war Siw aufgetaucht und dann Rixel. Sie war ganz erschrocken gewesen, als sie wieder zu sich gekommen war und sein Gesicht über sich gesehen hatte.
»Ich glaube, wir haben alles«, suchend sah Siw sich ein letztes Mal um.
»Dann sollten wir verschwinden.« Unruhig schaute Rixel sich um.
»Wenigstens haben wir jetzt ein Auto.« Mit Hilfe des Buschs zog Kamherra sich auf die Füße.
»Warte.« Siw sprang auf und kam zu ihr. »Ich helfe dir.«
Dankbar nahm sie Siws Hilfe an. Der Boden tanzte schon wieder um sie herum.
»Du musst viel trinken«, sagte Rixel und stützte sie auf der anderen Seite.
Siw und Rixel hatten den Pritschenwagen untersucht und zur Weiterfahrt hergerichtet, während sie noch unruhig geschlafen hatte. Die beiden waren übereingekommen, dass es zu gefährlich war, länger hier am Wasserloch zu bleiben. Und damit hatten sie sicher Recht.
So schnell sie konnte, ging Kamherra zwischen ihren beiden Helfern her. Der gestrige Tag, der so trostlos begonnen hatte, und fast in einer Katastrophe endete, hatte ihr zwei neue Freunde gebracht. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie wieder Freude und lächelte.
Kamherra schien es besser zu gehen, stellte Siw erleichtert fest. Komisch wie schnell einem jemand wichtig werden konnte. An nur einem Tag hatte sie mit Kamherra und Rixel zwei Menschen getroffen, denen sie vertrauen konnte. Gerade in einem Moment in dem alles hoffnungslos zu sein schien. Seit ihr altes Leben so sang und klanglos untergegangen war, hatte Siw niemanden mehr gehabt, auf den sie sich verlassen konnte. Eigentlich auch schon vorher nicht, wenn sie ehrlich zu sich war.
Nicht zum ersten Mal beschlich sie das Gefühl, dass der Krieg am Umgang miteinander eigentlich kaum etwas verändert hatte. Das Ende der Zivilisation hatte nur die Tünche der Menschlichkeit und Toleranz entfernt. Jetzt zeigten die Menschen wieder ihr wahres Gesicht und das war sehr hässlich. Dominiert von Neid, Angst und Hass.
Sie schaute Kamherra an; die langen schwarzen Haare, das blasse Gesicht und diese unglaublich traurigen Augen. Sie musste Schreckliches mitgemacht haben. Genau wie Rixel. Sie schielte zu dem Romeo hinüber.
Rixel half Kamherra ins Auto, dann verstaute er ihren Beutel auf der Ladefläche des Pritschenwagens. Neben einem Ersatzreifen lagen dort ein Sack, den sie sich noch nicht angesehen hatten. Rixel kletterte hinauf und öffnete ihn. »Hier sind Lebensmittel.«
»Gut.« Ein kurzes Lächeln huschte über Siws müdes Gesicht.
Rixel inspizierte seinen Fund. Ganz oben lagen mehrere Leinenbeutel mit grobem Mehl, Salz und sogar einer mit frischem Gemüse; Karotten und Paprika. Er leckte sich die Lippen. Fast hätte er sich eine der Karotten geschnappt, um sie zu knabbern. So wie er es früher oft getan hatte.
Der Rest waren Dosen. Fleisch, Gemüse und Obst. Das war ein wertvoller Fund.
»Rixel?«
Siw stand immer noch neben dem Auto, die Hand auf den Griff gelegt.
»Ja?« Er kletterte von der Pritsche. Der Umhang, den er anstelle seines Hemdes trug, war hinderlich. Obwohl er auf beiden Seiten Löcher hinein geschnitten hatte, durch die er seine Arme stecken konnte.
»Fährst du?«
Überrascht schaute er Siw an. Sie wollten, dass er mitkam. »Ja, natürlich.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
*
Der Raum war voller Platinen, Lüfter und anderer Hardwareteile. Ron dirigierte Gaius durch das Gewirr hindurch. Vorbei an einem Schreibtisch, der einen halbwegs aufgeräumten Eindruck machte und neben dem ein Server lief. Offenbar war hier bis vor kurzem noch gearbeitet worden. Vor einem Haufen Bücher, die in der hintersten Ecke auf den Boden geworfen worden waren, blieben sie stehen.
Gaius verzog das Gesicht. ‚Unsere Sicherheitsleute wissen Bücher nicht zu schätzen’, hatte Lana zu ihm gesagt. Wenn er sich das hier ansah, schienen sie Bücher für entbehrlichen Müll zu halten. Neben dem Stapel kniete er sich auf den Boden und sah sich die Bücher an. Belletristik, ein paar Bände eines Lexikons, ein Gedichtband und ein Handbuch für ein Kofferradio; allesamt in einem erbarmungswürdigen Zustand.
»Das ist nur ein kleiner Teil der Bücher, die wir retten konnten«, erklärte Ron. »Im ganzen Rathaus verstreut gibt es weitere Räume in denen Bücher herum liegen.«
Und die sollte er zusammentragen, katalogisieren und eine Bücherei daraus machen. Ron hatte ihn Lana und dem Rat vorgestellt, kaum dass sie in der Stadt angekommen waren. Anfangs hatte ihn die Stadt beeindruckt. Die Häuser waren instand gesetzt worden, die Menschen auf den Straßen gut gekleidet und es sah nicht so aus, als ob sie Hunger litten. Und dass sie sogar daran dachten Kunst und Literatur wieder aufleben zu lassen, fand er aufregend.
Aber dann hatte Lana ihre Willkommensrede gehalten, die jeder Neue zu hören bekam. Darin war die Rede von Bewährung, Rechten auf Probe und absolutem Gehorsam der Obrigkeit gegenüber gewesen. Freiheit und Menschenrechte kamen darin nicht vor. Dass er hier nicht bleiben konnte, war ihm klar, noch ehe Lana die Abschlussfloskel gesprochen hatte, in der dem Neubürger zu verstehen gegeben wurde, dass es nicht seine Entscheidung war, ob er Teil der Gemeinschaft wurde. Aber zunächst galt es vorsichtig zu sein. Er musste so tun, als ob er die ihm zugedachte Rolle spielen würde.
»Das hier ist kein geeigneter Raum für ein Archiv«, sagte er und legte vorsichtig eine späte Ausgabe von »Geschichte Griffbereit« zur Seite.
»Ich dachte die Magazine der Büchereien waren immer im Keller«, wandte Ron ein.
»Ja, aber nicht in willkürlich beheizten und vor allem nicht zusammen mit Servern«, entgegnete Gaius. Um seine Antwort zu unterstreichen, deutete er auf den Rand eines Lexikons, der zu schimmeln begonnen hatte. »Hier ist es zu warm und zu feucht.«
»In Ordnung.« Ron nickte. »Du kannst dir hier unten einen Raum aussuchen.«
Ein bisschen Trotz durfte er ruhig zeigen, zu viel Anpassung würde Ron ihm nicht abnehmen.
»Hurra«, sagte er betont unmotiviert. »Und dann trage ich Buch für Buch herum? Wie lange soll das dauern?«
»Wieso? Hast du einen dringenden Termin?«, feixte Ron.
*
Das Brot musste ganz frisch gebacken worden sein. Es roch herrlich. Und der Kaffee erst! Christian lief das Wasser im Mund zusammen. Heinz war vor einer Viertelstunde hereingekommen, beladen mit einem Tablett, und hatte die Sachen auf dem Tisch abgestellt. Außerhalb seiner Reichweite. Dann hatte der Honk ihm hämisch einen guten Appetit gewünscht und war gegangen. Wohl wissend, dass Christian kaum in der Lage war aufzustehen.
Er schloss kurz die Augen und versuchte sich an die jüngsten Ereignisse zu erinnern. Weiter als bis zu seinem Treppensturz kam er nicht. Was danach geschehen war, lag völlig im Dunkeln. Sicher wusste er dagegen, dass sein Hintern wehtat, er sich kaum bewegen konnte und er einen Bärenhunger hatte. Also musste er irgendwie aus diesem Bett heraus und an den Tisch heran kommen.
Er versuchte sich auf den Rücken zu drehen. Sofort pochte der Schmerz sein Rückgrat hinauf. Das war keine gute Idee. Also musste er es anders versuchen. Mühsam wälzte er sich auf den Bauch. Liegestütze hatte er noch nie gekonnt, trotzdem versuchte er sich hoch zudrücken. Es ging nicht. Das Bett war zu weich. Außerdem gehorchte ihm sein linkes Bein nicht. Es war vom Knie abwärts taub und damit im Augenblick sein kleinstes Problem.
Die Schmerzen in seinem Steißbein brachten ihn fast um den Verstand. Trotzdem legte Christian keinen Wert darauf, erneut von dieser Ärztin mit der stinkenden Tinktur eingerieben zu werden. Wie entwürdigend das gewesen war! Mit nacktem Hintern vor der Ärztin zu liegen, während Lana ihm eine Strafpredigt hielt.
Mehrfach hatte sie ihn auf seine Undankbarkeit hingewiesen und darauf, was ihm bei einem erneuten Fluchtversuch blühen würde. Ihr kalter Blick hatte ihn richtig eingeschüchtert und ihm klar gemacht, dass sein nächster Fluchtversuch auf keinen Fall scheitern durfte.
Sein Magen knurrte vernehmlich. Der Duft des frischen Brotes war einfach zu verlockend. Er musste aus diesem verdammten Bett heraus. Sehnsüchtig schaute er das Tablett an. Kurzentschlossen robbte er an die Kante und fiel entschlossen aus dem Bett. Mit Händen und dem unverletzten rechten Knie fing er sich ab, trotzdem schoss ihm ein heißer Schmerz den Rücken hinauf.
Tränen kullerten Christian über die Wangen. Dieser verdammte Heinz! Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den Wunsch jemanden die Knochen zu brechen. Mit zusammengebissenen Zähnen, das linke Bein hinter sich herziehend, kroch er zum Tisch. Mühsam zog er sich am Stuhl hoch, bis er auf dem rechten Knie hockte. Mit der Hand zog er das linke Bein unter sich. Wenigstens trug es sein Gewicht. Mit dem Bauch an den Tisch gelehnt, schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein.
*
Das Gebäude sah mit seinen verrammelten Fenstern nicht besonders einladend aus, aber es war groß genug um das Auto zu verstecken und drei Menschen als Unterschlupf zu dienen. Wenigstens bis es Kamherra wieder besser ging, dachte Siw und zog ihren Revolver.
»Halt hier an«, bat sie Rixel.
Sie waren noch fast fünfzig Meter von der Ruine entfernt.
»Was hast du vor?« fragte Kamherra müde. Unglaublich wie sehr einen der Verlust von so einem bisschen Blut schwächen konnte, ärgerte sie sich.
»Ich will sichergehen, dass wir keine neue Überraschung erleben«, sagte Siw düster. Es war erst wenige Tage her, dass sie in dieser Ruine übernachtet hatte, aber sie konnten nicht sicher sein, dass sie in der Zwischenzeit nicht von anderen Wanderern in Besitz genommen worden war. Die meisten Menschen teilten heutzutage nicht gern.
»Ich kann gehen«, bot Rixel an.
»Nein.« Siw schüttelte den Kopf. »Ich kenne das Gebäude. Ihr beide bewacht das Auto.« Das Auto war ein wertvoller Besitz. Vor allem da der Tank gefüllt war und sie außerdem noch einen vollen Reservekanister unter der Ladefläche versteckt hatten. Ganz zu Schweigen von den Lebensmitteln auf der Ladefläche.
»Vielleicht sage ich etwas Dummes, aber ihr solltet beide gehen. Das Auto kann ich allein bewachen«, mischte Kamherra sich ein.
Das Gebäude war groß und zu zweit konnten sie es viel schneller durchsuchen. Außerdem war es im Zweifelsfall gut, wenn Siw Rückendeckung hatte.
»Wirst du im Notfall damit klarkommen?«, fragte Siw mit einem Kopfnicken zur Pistole, die auf der Ablage ruhte.
Kamherra nahm ihre Waffe in die Hand. »Hier spannen, abdrücken und dann durchladen«, ging sie die Schritte durch, die Siw ihr gezeigt hatte. »Außerdem habe ich ja noch meine Stricknadeln«, fügte sie todernst hinzu.
Gegen ihren Willen musste Siw grinsen. Sie verließ das Auto und machte sich auf den Weg zum Haus. »Gehen wir, Romeo«, sagte sie über die Schulter. »Und nimm das Gewehr mit.«
Ohne auf Rixels Antwort zu warten, zog Kamherra das Gewehr aus der Halterung über den Sitzen und drückte es ihm in die Hand.
Zaudernd nahm er es und sah Kam unschlüssig an. Es gefiel ihm nicht sie allein zurückzulassen. Aber genauso wenig wohl würde er sich dabei fühlen, wenn Siw allein in dem dunklen Gebäude herumlief.
»Nun geh schon. Ich komme zurecht.«
»Hub einfach, wenn was ist. Dann komme ich sofort zurück.«
»Geht auch schießen?«, fragte Kamherra lakonisch. Im selben Moment tat es ihr leid. Der Romeo sorgte sich wirklich um sie. Aber er schien nicht beleidigt zu sein. Er winkte und folgte Siw.
Kamherra lehnte sich zurück und beobachtete die Beiden, so gut das in der zunehmenden Dämmerung ging. Einen Augenblick stellte sie sich vor, was geschehen wäre, wenn Siw und Rixel nicht am Wasserloch aufgetaucht wären. Allein hätte sie gegen die drei Wüstenräuber keine Chance gehabt. Sie zweifelt sogar daran, dass sie sich gewehrt hätte, wenn es nur um sie gegangen wäre. Auf keinen Fall hätte sie jemandem eine ihrer Stricknadeln in den Rücken gerammt.
»Schnellstricknadeln, Stärke sechs aus Messing«, flüsterte sie und spürte wieder das Blut an ihren Händen.
Kamherra wischte das Gefühl beiseite. Sie hatte nichts Falsches getan. Schließlich hatten die Männer zuerst versucht Siw und sie umzubringen.
Siw und Rixel näherten sich dem Haus von zwei Seiten und dabei gestikulierten sie wild mit ihren Händen herum. Hoffentlich meinten sie beide dasselbe mit ihrem Gefuchtel. Kamherra warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Sonne ging langsam unter. Das bedeutete Kälte und streunende Hunde. Ihr Blick kehrte wieder zu den beiden zurück, die eben durch verschiedene Türen im Inneren des Gebäudes verschwanden. Sie rutschte zur Wagentür, öffnete sie und glitt hinaus. Fast wäre sie gestürzt. Im letzten Moment gelang es ihr, sich an der Tür festzuhalten.
*
Die Holzstiege knarrte und wackelte noch genauso wie bei ihrem ersten Besuch. Damals war das Gebäude leer gewesen. Siw hoffte, dass das so geblieben war. Ohne Rücksicht auf das Knarren zu nehmen, rannte sie die Stufen hinauf. Ungehört konnte man diese Stufen ohnehin nicht betreten, da konnte sie sich genauso gut beeilen.
Die Tür zur oberen Etage war geschlossen und der Knauf ließ sich nicht mehr drehen, aber das Schloss war nicht eingeschnappt. Mit einem lauten Scharren schrammte das Türblatt über den Boden. Ungemütliches Zwielicht empfing sie im Inneren. Sie drückte die Tür hinter sich zu und schaltete die kleine Lampe ein, die sie in dem Pick-up gefunden hatte. Ein nützlicher Fund, denn die kleine Funzel lud sich durch Sonnenlicht wieder auf.
Es gab hier vier Räume. Die beiden direkt neben der Tür waren bei ihrem ersten Besuch leer gewesen. Das eine rechts von ihr war ohnehin kaum mehr als ein Verschlag; in der äußeren Wand war ein Loch, ein Teil der Decke und der Wand zum hinteren Zimmer waren eingestürzt. Sie leuchtete kurz hinein. Er war unverändert. Auch im Zimmer links war in der Zwischenzeit niemand gewesen, das verriet ihr die Staubschicht auf dem Boden.
Sie wandte sich den hinteren Räumen zu. Im Linken hatte sie übernachtet. Seine Tür ließ sich mit einem Riegel gegen Eindringlinge sichern. Sie leuchtete das Zimmer aus. In der einen Ecke lagen noch die alten Säcke, die sie in der Halle unten zusammengetragen hatte, um sich daraus ein bequemes Schlafnest zu bauen. Sonst waren da nur noch ein altes Holzregal und ein Metalltopf, den ein früherer Besucher zu einem primitiven Ofen umgebaut hatte.
Zufrieden wandte sie sich dem letzten Raum zu. Der stand voller Gerümpel und ein Teil des Bodens war eingebrochen. In das Loch hatte jemand ein Seil gehängt. Auf jeden Fall musste sie vorsichtig sein. Von der Tür aus leuchtete sie über die zerborstenen Möbel, Kisten und den anderen Kram. Alles Zeug, das man früher auf einem Speicher gefunden hätte. Genau wie beim letzten Mal unterdrückte sie den Wunsch, sich das alte Zeug anzusehen. Dafür war morgen auch noch Zeit. Bei Tageslicht.
*
Über sich hörte er das Knarren von Bodendielen. Die Haare an seinem Nacken richteten sich auf, obwohl er wusste, dass es Siw war. Seine Erlebnisse in der letzten Zeit hatten anscheinend einige Urinstinkte wieder aktiviert.
Vorsichtig bewegte er sich im tückischen Zwielicht weiter. In den Science Fiction Filmen, die er früher so gern gesehen hatte, konnten Cyborgs bei völliger Dunkelheit sehen. In seinem Fall hatte man das offenbar für überflüssig gehalten. Aber eigentlich war er ja auch kein echter Cyborg. Niemand hatte vorgehabt ihn zu verbessern. Sie hatten ihn nur notdürftig wieder zusammengeflickt.
Er schob die destruktiven Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Das hier war wohl einmal eine Werkstatt gewesen. Überall lagen Kanister, alte Autoreifen und Säcke herum. Weiter hinten trennte eine Wand, deren obere Hälfte aus Glas bestand, einen Teil der Halle ab. Der Ort war ideal um das Auto zu verstecken und vielleicht fanden sie sogar noch Ersatzteile oder Benzin. Oder etwas um seine Energiezelle aufzuladen.
Aber bevor er sich hier umsah, sollte er sich den Bereich auf der anderen Seite der Glasscheibe ansehen. Nicht dass ihn von dort jemand überraschte. Rixel schob die schief in den Angeln hängende Tür auf. Direkt vor der Scheibe stand ein alter Schreibtisch, aus dem die Schubladen herausgezogen worden waren. Die Aktenschränke, sie sich längs der Wände aufreihten, waren aufgebrochen und ihres Inhaltes beraubt worden. Auf dem Boden lagen jede Menge Papiere verstreut. Alte Rechnungen, Briefe und dergleichen. Nichts, was noch irgendeine Bedeutung hatte. Hier verschwendete er nur seine Zeit.
Zurück in der Halle fiel sein Blick auf ein paar metallene Fässer, die in der hintersten Ecke verborgen lagen. Das Logo, das darauf prangte, würde er den Rest seines Leben nicht vergessen. Es war auch auf den verhängnisvollen Fässern gewesen, denen er seinen Zustand verdankte.
*
Sie hatte sich nicht getäuscht. Da war wirklich eine Bewegung gewesen. Mit einer Hand hob sie die Pistole, mit der anderen musste sie sich am Rahmen des Autos festhalten. Kamherras Mund wurde trocken und ihr Herz begann zu rasen. Der Schatten bewegte sich auf sie zu. Er kroch dicht am Boden entlang. Mit schweißnasser Hand spannte sie den Hahn. Das Klicken hallte überlaut in ihren Ohren und offenbar hatte ihr Angreifer es auch vernommen. Er kam nicht näher und das gab ihr die Zeit genauer hinzusehen.
Er war für einen Menschen zu klein. Oder? Es gab viele Mutanten und auch herumstreunende Kinder. Oh bitte, nur das nicht, stöhnte sie innerlich. Niemals würde sie auf ein Kind schießen. Der Schatten bewegte sich wieder auf sie zu. Er kroch jetzt dicht über dem Boden und winselte. Das war ein Hund! Ihre Hand mit der Waffe sank. Sollte sie wieder ins Auto schlüpfen? Die Tür verriegeln und das Fenster hochkurbeln?
Das Tier richtete sich auf und kam näher. Sie legte die Pistole auf den Sitz und griff an die Armaturen. Blind fummelte sie einen Moment nach dem Lichtschalter. Vielleicht vertrieb ihn das. Die Scheinwerfer flammten auf. Bei Licht sah der Hund gar nicht so groß aus. Er ging ihr höchstens bis ans Knie. Der schlanke, braunschwarze Körper sah überraschend gepflegt aus.
Kamherra griff wieder nach der Pistole. Am Ende schlich der Besitzer des Hundes hier irgendwo herum. Sie schaltete die Scheinwerfer wieder aus. Sollte sie Siw und Rixel warnen? Aber dann blieb das Auto unbewacht. Vielleicht war es besser die beiden zu rufen. Aber damit machte sie jeden Strauchdieb, der zufällig in der Nähe war, auf sich aufmerksam. Sie schaute in die Runde. Außer dem Hund war niemand zu sehen. Er war stehen geblieben, hatte sich geduckt und seine großen dunkeln Knopfaugen sahen sie forschend an.
Im Haus knallte ein Schuss. Kamherra fuhr herum und verlor das Gleichgewicht. Ausgerechnet jetzt flammte der Schmerz in ihrer Schulter in neuen Wellen auf. Rote Schlieren tanzten vor ihren Augen und im Rücken spürte sie den heißen Atem des Hundes.
*
Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Schatten wahr. Der Schatten einer Hand, und die grapschte nach ihr. Für den Buchteil einer Sekunde lähmte der Schreck Siw. Lang genug, damit sich ein haariger Arm um ihre Taille winden konnte. Ihr fiel die Lampe aus der Hand. Sie landete mit einem Krachen auf dem Boden. Ein Mutant, schoss es Siw durch den Kopf.
Seine Berührung war abscheulich. Drahtiges Haar kratzte an den Stellen, die ihr Top nicht bedeckte. Ihr Herz raste. Die meisten Mutanten waren Monster. Menschen, die auf der Evolutionsleiter rückwärts gegangen waren. In der Stadt, in der sie zuletzt gelebt hatte, erzählte man sich, dass es unter ihnen sogar Menschenfresser gab. Panisch versuchte sie den pelzigen Arm fort zu schieben. Es gelang ihr nicht. Das Wesen packte noch fester zu und hob sie vom Boden hoch. Mit der zweiten Hand versuchte es ihre Kehle zu erreichen.
Siw strampelte und krallte ihre Nägel in den behaarten Arm. Das Ding schnappte nach ihr. Fauliger Atem streifte ihre Wange. Das Vieh wollte sie töten. Sie schrie und griff nach ihrem Revolver. Vielleicht erschreckte ein Schuss das Biest. Ihre Hände fanden den Griff und zogen daran. Er steckte unter dem Arm des Mutanten fest. Verzweifelt zog sie mit beiden Händen daran.
Der Mutant schnappte ein weiteres Mal nach ihr. Scharfe Zähne streiften ihre Schulter. Sie wand sich in seinem Griff und hatte unvermittelt seinen breiten Oberarm vor dem Gesicht. Entschlossen biss Siw zu. Der Mutant quiekte schrill und drückte fester zu. Ihr blieb die Luft weg. Voller Angst krümmte sich ihr Zeigefinger um den Abzug des Revolvers. Es knallte und etwas Heißes streifte ihren Oberschenkel.
Der Mutant brüllte. Sein unbarmherziger Griff löste sich, Siw fiel und schlug hart auf dem Boden auf. Im Liegen wirbelte sie herum. Fast wäre sie erneut erstarrt. Das Biest, das sie angegriffen hatte, sah aus wie eine Kreuzung aus einem Schimpansen und einem Honk. Und es starrte vor Dreck. Angewidert kroch sie rückwärts fort. Die Augen des Mutanten waren blutunterlaufen. Er war wütend, schien aber auch Angst zu haben. Offenbar hatte er schon Bekanntschaft mit Schusswaffen gemacht.
Ihre Hand mit der Waffe zuckte hoch. Sie schoss ohne zu zielen. Die Kugel traf das Biest in die Stirn. Blut und Hirn quollen über ein hässliches rosa Gesicht mit Affenaugen. Ohne einen Ton fiel der Mutant um. Siw stöhnte. Ihr Bein pochte heftig und es blutete. Außerdem war ihr schwindelig. Sie verlor das Bewusstsein.
*
Siws Schrei holte ihn in die Gegenwart zurück. Wie betäubt hatte er vor den Fässern mit dem unheilvollen Logo gestanden. Über ihm polterte es und etwas quiekte durchdringend. Oben wurde gekämpft!
Er wirbelte herum und rannte in die Mitte der Halle zurück. Nur von dort aus erreichte man die Tür. Überall sonst stand Zeugs im Weg. Oben knallte ein Schuss und dann brüllte das ‚Etwas’. Rixel sprang über einen Reifen und blieb mit dem Fuß daran hängen. Im Fallen sah er das Loch in der Decke und das Seil, das an dessen Rand baumelte. Eine Wand aus Fässern hatte ihm zuvor die Sicht darauf verstellt.
Erneut bellte Siws Revolver. Ein Aufschlag folgte und dann noch einer.
»Siw!«, schrie er. Keine Antwort. Ohne zu zögern packte Rixel das Seil. Mit aller Kraft zog er sich hoch. Seine Beine baumelten kaum eine Handbreit über dem Boden. Er musste dieses Seil hinauf. Entschlossen zog er sich ein Stück höher und löste eine Hand vom Seil. Sofort begann die andere zu rutschen. Hektisch griff er wieder zu. Das war viel zu hoch. Sein Arm war ganz ausgestreckt. So konnte er sich niemals hochziehen.
Ohne den Kontakt zum Seil zu verlieren, zog er die Hand zurück. Jetzt fing es auch noch an zu schaukeln. Er schloss die Augen und zog sich ein Stück weiter nach oben. Und noch ein Stück. Die Stille über seinem Kopf machte ihm Angst.
Vorsichtig öffnete er die Augen wieder und sah hinter sich. Das war ein Fehler. Sofort wurde ihm übel, denn er hing bereits gute zwei Meter über dem Boden. Rixel keuchte vor Anstrengung. Er war nie gut in diesen Kletterübungen gewesen und das, was seine mechanischen Teile ihm an Vorteilen brachten, zerstörten sie durch ihr Gewicht wieder.
*
Das war Siws Revolver gewesen. Kamherra schüttelte ihre Erstarrung ab und ließ den Türgriff los. Siw hatte geschrien und geschossen, dann hatte etwas furchtbar gebrüllt und von Rixel war nichts zu hören oder zu sehen.
Nach wenigen, unsicheren Schritten gaben ihre Beine nach und sie fiel auf die Knie. Bis zu den Gelenken sanken ihre Hände in dem weichen Sand ein. Mit dem Blick folgte sie den Spuren der beiden zum Haus. Das waren kaum mehr als fünfzig Meter. Das musste doch zu schaffen sein! Vergeblich mühte sie sich auf die Füße zu kommen. Dann eben nicht! Entschlossen kroch Kamherra auf den Knien und der Hand ihres gesunden Armes weiter. Hinter sich hörte sie das Tappen von Pfoten im Sand. Sie hielt gerade lange genug an, um die Pistole aus ihrem Rock zu ziehen. Unbeirrt von dem Geräusch, das die Pfoten im Sand machten, kroch sie weiter. Der Hund holte auf.
Jetzt wandte Kamherra sich doch um. Der Hund stand dicht hinter ihr und starrte sie an. War das ein Drohfixieren? Sie war sich nicht sicher. Es war zu dunkel. Er kam näher. Die Angst half ihr auf die Beine. Ihre Knie zitterten vor Schwäche und die verletzte Schulter schmerzte so stark, dass sie die Waffe kaum ruhig halten konnte.
Geduckt näherte der Hund sich weiter. Seine Rute hing fast auf dem Boden, genau wie seine Nase und in seinen Augen konnte sie jetzt das Weiße schimmern sehen. Ganz langsam hob er eine Pfote und schob sich weiter auf sie zu. Ihr Herz hämmerte. Was hinderte sie daran diesen fremden Köter einfach zu erschießen? Ihre Freunde waren in Schwierigkeiten und sie trödelte hier herum. Kamherra fluchte. Warum konnte da nicht einfach ein knurrendes Monster auf sie zufliegen? Oder ein Honk? Musste es ausgerechnet ein Hund sein?
*
Geschafft! Rixel keuchte schwer. Endlich war es ihm gelungen, mit seinen Füßen halt am Seil zu finden. Der Rest würde jetzt ein Kinderspiel sein. Wenigstens hoffte er das. Die Hälfte des Weges hatte er ja schon. Er betrachtete das Loch über sich; ein dunkler Fleck im Grau der Decke. So nah war das doch noch nicht. Also besser nicht hinsehen und einfach klettern. Mühsam zog er sich weiter. Die Knie strecken und sich mit den Füßen am Seil festklammern. So wie damals im Sportunterricht. Eine weitere Erinnerung die fast so unangenehm war wie der Krieg.
Staub rieselte von der Decke und brannte in seinen Augen. Um ein Haar hätte er aus Reflex eine Hand vom Seil gelöst um ihn fortzuwischen. Rixel zwinkerte und kletterte weiter. Die verdammte Decke näherte sich in Zeitlupe und da oben war Siw in Gefahr. Er verfluchte die Mediziner, die ihm die Teile eingebaut hatten. Hätten die nicht Aluminium oder besser noch Kunststoff nehmen können? Einen biegsamen Kunststoff, der keine Wärme leitete? Das wäre wenigstens ein Vorteil gewesen.
Musste dieses doofe Seil so schlingern? Davon wurde ihm übel. Oder kam das von dem Gestank? Er schnüffelte. Der war ja furchtbar und der Geruch kam aus dem Loch, das er endlich erreicht hatte. Arme Siw!
Er zog sich das letzte Stück hoch und steckte seinen Kopf durch die Öffnung. Geblendet schloss er die Augen. Woher kam dieses Licht? Vorsichtig blinzelte er unter den Augenlidern durch. Ein schmaler Lichtkegel. Richtig! Siw hatte ja die Lampe aus dem Auto mitgenommen. Rixel wandte den Kopf ein wenig und tastete nach der Bodenkante. Die bot ihm keinen Halt. Daran konnte er sich nicht hochziehen.
Das Seil rutschte heftig pendelnd ein Stück nach unten. Erschrocken umklammerte er es mit beiden Händen. Rixel spürte, dass es weiter nachgab. Mit dem Blick suchte er die Stelle, an der das Seil über dem Boden lief. Nah am Rand zerrissen seine Fasern und dabei geriet es immer heftiger in Schwingung. Verzweifelt packte er das Ende hinter dem Riss, das auf dem rauen Holz hin und her rutschte. Ohne Halt zu finden, schrammten seine Finger schmerzhaft über den Boden. Mit einem hässlichen Geräusch zerrissen weitere Fasern. Angsterfüllt griff er nach der Kante des Fußbodens. Wieder rutschte er ab und fasste ins Leere. Das Seil riss endgültig.
*