Читать книгу Überleben - Martin Johannes Christians - Страница 5
Schmerzen
ОглавлениеÜberrascht starrte er die Frau an. Zwar hatte Heinz von einer Bürgermeisterin gesprochen, aber Christian hatte sie sich gänzlich anders vorgestellt. Etwa so wie Aunt Entity in dem Film Mad Max. Auf jeden Fall aber jung und sexy, oder wenigstens tough. Aber auf keinen Fall so!
Vor ihm stand eine Matrone unbestimmten Alters, mit grauen Haaren und ein wenig übergewichtig. Ihre Augen musterten ihn mit einem unangenehm durchdringenden Blick.
»Was bringst du mir da?«, fragte Lana, wie Heinz sie genannt hatte, den Honk.
Ihre schrille Stimme ging ihm durch Mark und Bein. Genau wie ihr Blick. Er fühlte sich eingeschüchtert. Für einen Moment hatte er keine Probleme seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Das war ein ganz neues Gefühl für ihn.
»Einen Programmierer«, antwortete Heinz devot und reichte Lana Christians Handheld.
Erneut verzichtete er auf die Erklärung, dass er Skripter und kein Programmierer war. An solchen Details war Lana sicher noch weniger interessiert als Heinz. Zu seiner Überraschung drückte sie routiniert die richtigen Knöpfe des kleinen Computers.
»Was ist das hier?«, erkundigte sie sich nach einer Weile und hielt Heinz den Handheld vor die Nase.
Der Honk starrte eine Weile auf den Monitor. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich. Schließlich zuckte er mit den Schultern. Lanas Zeigefinger pikste in seine Richtung. Ihm fielen die unzähligen Armreifen auf, die um ihr Handgelenk baumelten.
»Komm her!«, befahl sie ihm.
Christians Beine schienen ihren Befehl selbstständig zu gehorchen. Er trat neben Lana und warf einen ahnungsvollen Blick auf den Bildschirm. Ein ineinander verschlungenes Gewirr aus Kugeln umkreiste einander auf festgelegten Pfaden. Lana hatte die Datei mit seinen 3D Objekten gefunden. Ausgerechnet! Wie sollte er diesen Leuten das erklären? Für derartige Spielereien hatten sie bestimmt keinen Sinn.
»Das ist nichts«, erklärte er verlegen. »Eine Spielerei, bei der ich mich entspanne.«
»Es ist hübsch«, sagte Lana und sah wieder auf den kleinen Monitor. »Ich würde sogar sagen: Es ist Kunst’.«
Kunst? Verwirrt sah Christian auf die kleine Skulptur. Das war doch bloß ein bisschen Code.
»Ich würde es gern einmal auf einem größeren Bildschirm betrachten«, fuhr Lana fort.
Er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlte oder einfach nur verwirrt.
»Ein Programmierer und Künstler«, stellte Lana übergangslos an Heinz gewandt fest. »Gute Arbeit, Heinz.«
Am liebsten hätte er klar gestellt, dass er kein Programmierer war und auch kein Künstler. Wenigstens fühlte er sich nicht so. Aber vielleicht war das nicht der richtige Moment, um darauf hinzuweisen.
»Ein Künstler fehlt uns hier mindestens ebenso sehr wie ein Programmierer«, plapperte Lana weiter. »Siehst du, ich will die Zivilisation wieder aufbauen.«
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn in die Mitte des Raums. »Sieh dich hier um. Wir geben uns Mühe, aber - na ja, richtig kultiviert sieht unser Ratsaal noch nicht aus.«
Damit hatte sie Recht. Der Putz bröckelte von den kahlen Wänden und das einzige Bild, das hier hing, zeigte eine kitschige Picknickidylle.
»Ich sehe du teilst meine Meinung«, nickte Lana zufrieden.
Sie erwartete keine Antwort und das war ihm Recht. Solange er nicht reden musste, sagte er auch nichts Falsches. Lana redete weiter. Ihre Stimme wurde zu einem monotonen Hintergrundrauschen und seine Gedanken kehrten in ihre eigene Welt zurück.
*
Wenigstens zwangen sie ihn nicht mitzuschuften. Gaius saß im Schatten und beobachtete die Honks bei der Arbeit. Kiste um Kiste schleppten sie aus dem Lagerhaus und luden sie auf einen LKW.
Im Moment war niemand als Wache abgestellt, aber die Honks kamen im Sekundentakt aus dem Lagerhaus. Immer beladen mit einer Kiste, die sie auf dem Lastwagen abstellten. Das ging schon eine ganze Weile so und er hatte sich bemüht herauszubekommen, wie viel Zeit verging, bis der nächste Honk in der Tür erschien. Dazu zählte er langsam die Sekunden. Weiter als bis neun kam er nie.
Neun Sekunden also. Das war nicht viel, aber es musste ausreichen, denn der Wagen war schon halb voll. Wenn er eine Flucht versuchen wollte, dann jetzt. Der Honk sprang von der Ladefläche und verschwand wieder in der Halle.
Gaius sprang auf und warf sich seinen Rucksack über die Schulter. Ohne sich umzusehen rannte er los. Die Rückseite der Halle war seine Chance. Dort gab es ein paar weitere Schuppen und einen fast zugewehten Eingang zu einem verfallenen U-Bahntunnel. Er bog um die Ecke.
Ungebremst rannte er in Tolly hinein, der sich eben an der Hauswand erleichtert hatte. Der Honk stolperte, blieb aber auf den Beinen.
»Der Gefangene haut ab!«, brüllte Tolly überraschend geistesgegenwärtig und warf sich ihm entgegen.
Gaius wich aus und warf ihm seinen Rucksack vor die Brust. Tolly wischte ihn einfach zur Seite. Der Honk kämpfte in klassischer Straßenschlägermanier, die eine Schulter vorgeschoben und den Kopf eingezogen. Mühelos wich Gaius seinen Schlägen aus, bis es ihm gelang Tollys Schlagarm einzuklemmen und ihn mit einem Fußtritt von den Beinen zu holen. Schwer knallte Tolly auf den Rücken. Gaius trat zu, ehe er sich erholen konnte. Sein Schuh traf genau die Kinnspitze seines Kontrahenten. Mit einem Ächzen entspannte Tolly sich und blieb mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegen.
Unvermittelt wickelte sich etwas um Gaius Beine und brachte ihn zu Fall. Eine südamerikanische Bola stellte Gaius verwundert fest und rollte sich auf den Rücken. Ron stand über ihm und diesmal war er nicht amüsiert. Er zog seine Pistole und drückte ab.
*
Das tat entsetzlich weh. Ihre Schulter pulsierte und sie konnte das Blut spüren, das ihren Arm herunter tropfte. Kamherra zwang sich tief durchzuatmen. Sie hatte Siw rufen hören, wie durch einen Nebel, und dann war es für einen Moment dunkel um sie herum geworden. Vorsichtig hob sie den Kopf und starrte auf einen breiten Rücken. Ein Mann stand dort und richtete eine Pistole auf Siw.
»Schön langsam aufstehen!«, befahl der Mann Siw.
Kamherra kannte die Stimme. Es war dieselbe, die sie als ‚Ladys’ angesprochen hatte. Was war geschehen? Hatte Siw keine Munition mehr gehabt oder hatte sie wegen des Schützen auf der Düne aufgeben müssen?
»Geh zurück!« Der Mann fuchtelte mit seiner Waffe. »Weg von dem Revolver.«
Kams Blick klärte sich und sie sah Siws Revolver im Sand liegen. Fast vor den Füßen des Fremden. Siws Boots bewegten sich rückwärts weg von der Waffe.
»Verdammtes Luder!«, blaffte der Mann. »Wer war der Irre, der Karl erledigt hat?«
Siw schwieg. In Kamherras Kopf drehte sich alles. Von was für einem Irren sprach der?
»Und wo ist James? Habt ihr uns aufgelauert?« Drohend trat der Bewaffnete einen Schritt auf Siw zu. »Streichen noch mehr von euch hier herum?«
Wovon sprach der Kerl? Aber darüber konnte sie sich später noch den Kopf zerbrechen. Im Moment musste sie Siw helfen. Der Bastard würde sie umbringen, daran bestand kein Zweifel. Wellen von Schmerz trieben ihr Tränen in die Augen, als sie ihren verletzten Arm bewegte. Ihre Hand tastete an der Längsseite ihres Rocks entlang, bis sie die Stricknadeln spürte, die dort sicher in einer eingenähten Tasche verwahrt waren.
»Mach's Maul auf, Lady«, forderte der Kerl leise. »Oder es wird dir leid tun.«, fügte er drohend hinzu.
Kam zog die in Papier eingeschlagenen Nadeln aus ihrer Tasche. Jetzt kam der schwierige Teil. Die Nadel in der Hand, stemmte sie sich hoch. Siw hatte sich wunderbar unter Kontrolle. Sie verzog keine Miene.
»Also nur der Irre«, triumphierte der Mann. »Deine beiden Freunde sind hin, Lady.«
Unsicher machte Kamherra einen Schritt auf den Mann zu. Sie hatte genug Blut verloren, damit ihr schwarze Schatten vor den Augen tanzten, trotzdem schaffte sie es hinter den Fremden zu kommen. Das Samtpapier, mit dem sie die Nadeln eingewickelt hatte, fiel zu Boden. Sie stand dicht hinter dem Widerling, konnte die Pockennarben in seinem Genick sehen und seinen säuerlichen Schweiß riechen. Mit beiden Händen umfasste sie das Nadelduo. Sie hatte noch nie einen Menschen getötet und hatte das auch nie tun wollen. Schon gar nicht hinterrücks.
»Keine Angst, Lady«, lachte der Kerl böse. »Du wirst nicht lange allein sein.« Er spannte den Hahn der Pistole. »Ich schick dich zu deinen Freunden.«
Wie in Trance hob Kamherra die Nadeln. Wohin sollte sie zielen? Einen Augenblick zögerte sie, dann stieß sie entschlossen zu und rammte ihm die Stricknadeln in die Nieren. Sein Hemd zerriss. Er schrie vor Schmerz und Überraschung. Eisern hielt Kamherra die Nadeln fest und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Sie spürte wie die stumpfen Nadeln den Widerstand der Haut überwanden. Sein Blut spritzte und rann ihr warm über die Hände. Die Pistole fiel zu Boden. Mit beiden Händen schlug der Mann hinter sich, wie um einen Schwarm Insekten zu vertreiben und riss ihr die Nadeln aus der Hand.
*
Blut! Seine Zunge fuhr über die aufgesprungene Unterlippe. Es ärgerte ihn, dass er auf diesen alten Trick hereingefallen war. Andererseits, so oft war auch noch nicht auf ihn geschossen worden. Die Kugel war nur knapp neben seiner Hüfte in den Boden eingeschlagen. Genug Ablenkung damit er Rons Schlag nicht hatte kommen sehen. Mit der Faust hatte er zugeschlagen. Nur einmal! Trotzdem dröhnte Gaius der Kopf.
»Hast du jetzt einen guten Eindruck davon, wie es sich anfühlt, wenn ich ärgerlich werde?«, fragte Ron spöttisch.
Hinter ihm lachten die Honks. Sie genossen die Show. Selbst Tolly, der noch am Boden hockte und dessen Kinn sich langsam blau färbte.
»Falls du noch weitere Eindrücke sammeln möchtest, ich helfe immer gern.«
»Es reicht mir«, entgegnete Gaius. »Jetzt muss ich das nur noch aufschreiben, ehe der Eindruck verblasst.«
Ron grinste und hielt ihm die Hand hin. »Wie heißt du?«
»Gaius.« Er ließ sich von Ron hoch helfen.
»Wie Cäsar«, witzelte Ron.
»Nein«, trotzte er. »Wie Gaius.« Innerlich schalt er sich dafür, nicht den Mund halten zu können.
»Okay, Gaius wie Gaius.« Ron schmunzelte. »Dies war meine zweite Warnung. Das nächste Mal zerschieße ich dir eine Kniescheibe.«
*
Kamherra zitterte. Sie starrte abwechseln auf ihre blutigen Hände und den Toten.
Scheu umrundete Siw den Leichnam und kniete sich neben sie. »Danke.«, sagte sie leise.
Kamherra schluckte. Nur langsam kehrte die Farbe in ihr bleiches Gesicht zurück. »Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert.«
Automatisch schauten sie beide auf den Toten. Er lag auf dem Gesicht. Auf dem Rücken durchtränkte Blut sein Hemd.
»Das war verdammt mutig.« Siw versuchte zu lächeln. Es missglückte.
»Du warst auch nicht schlecht.« Kamherra nahm etwas Sand und rieb das fremde Blut von ihren Händen. »Von was für einen Irren hat der Kerl gesprochen?«
»Jemand hat den Typen auf dem Hügel angegriffen.« Sie deutete auf die Düne. »Ich habe Gebrüll gehört und das hat mich abgelenkt.«
»Sind sie tot?«, fragte Kam mit einer Mischung aus Hoffnung und Grausen.
»Es wird besser sein, wenn wir uns davon überzeugen.« Siws Mund fühlte sich seltsam trocken an. Sie spürte nicht wirklich den Drang, sich weitere Tote anzusehen.
Einen Moment hockten sie schweigend nebeneinander im Sand. Die ersten Fliegen schwirrten um den Leichnam.
»Deine Schulter!«, sagte Siw unvermittelt. »Du bist angeschossen worden.«
Überrascht schaute Kamherra auf die blutige Wunde. In den letzten Minuten hatte sie überhaupt nicht mehr daran gedacht und auch den Schmerz nicht gespürt. Jetzt kehrte der allerdings mit voller Macht zurück. Ihr wurde schwindelig.
Siw stützte sie. »Vielleicht solltest du sitzen bleiben und hier warten.«
»Nein«, entschlossen schüttelte Kamherra den Kopf und verscheuchte damit ein paar der schwarzen Punkte, die vor ihren Augen tanzten. »Ich geh lieber mit.«
Siw war erleichtert. »Warte kurz.« Sie sprang auf und sammelte ihren Revolver und die Pistole des Toten ein. Die Pistole hielt sie Kam hin. »Kannst du damit umgehen?«
Vorsichtig nahm Kamherra die Waffe entgegen. Sie hatte noch nie auf Menschen geschossen, aber das war auf jeden Fall besser als ihnen Stricknadeln in den Rücken zu rammen.
»Noch nicht.« Sie stemmte sich auf die Füße. »Aber du kannst es mir ja beibringen.«
»Okay«, nickte Siw. »Lektion ein: Die Pistole ist im Moment entsichert. Wenn du jetzt an den Abzug kommst, löst sich ein Schuss.«
»Verstanden.« Kams Finger glitt vom Abzugsbügel zurück.
Nebeneinander liefen sie zum Fuß der Sanddüne, wo zwei weitere Männer regungslos lagen.
»Sie atmen«, meinte Kamherra erstickt.
Sie blieben stehen. Deutlich war zu sehen, dass sich die Brustkörbe der beiden hoben und senkten. Äußerlich schienen sie unversehrt zu sein. Jedenfalls war nirgends Blut zu sehen.
»Was ist das denn?« Siw deutete auf den Größeren der beiden Männer. Er war in einen Umhang gehüllt, dessen Kapuze halb auf seinem Rücken hing. Darunter kam ein Kopf mit nur wenigen schwarzen Haarresten zum Vorschein. Eingepasst in den kahlen Teil der Kopfhaut, funkelte ein Stück milchiges Glas in der Sonne. Darunter konnte man sein Gehirn sehen.
»Das ist ein ROMEO«, sagte Kamherra überrascht.
»Ein was?« Siw konnte den Blick nicht von dem Glas lösen.
»Ein Roboter Mensch Objekt«, erklärte Kamherra. »Bei uns im Dorf gab es so einen.« Kurz verdüsterte sich ihr Gesicht, bei der Erinnerung. »Er war mit irgendeinem Gas in Berührung gekommen und Ärzte von BASE hatten die veräzten Stellen seines Körpers durch mechanische Teile ersetzt. Bis auf den Kopf hatten sie das ganz gut gemacht.« Sie deutete auf das Glas. »Der hatte auch so ein Fenster im Schopf.«
»Es muss schlimm sein, so herumzulaufen.« Mitfühlend sah Siw den Romeo an.
»Den im Dorf haben die Leute mit ihrer Ablehnung in den Wahnsinn getrieben.« Kamherra erinnerte sich gut daran, wie der Romeo schließlich durchgedreht war und wild schreiend die Kneipe zerschlagen hatte.
Der Romeo im Sand bewegte sich. Er stöhnte und hob beide Hände an den Kopf. Mit geschlossenen Augen, so, als wollte er seine Umgebung nicht wahrnehmen, betastete er das Glas und schien erleichtert, dann setzte er sich auf.
Kamherra und Siw wichen einen Schritt zurück. Sie hoben die Waffen und zielten auf den Romeo. Dessen dunkle Augen richteten sich auf sie, wanderten dann zu den drohenden Waffenläufen. Er schluckte und streckte die Hände in die Luft.
»Ich will nichts Böses«, flüsterte er ängstlich.
»Traut ihm nicht«, warnte der andere Mann. Er war unbemerkt zu sich gekommen und richtete sich auf. Dabei rückte er von dem Romeo ab. »Der gehört zu dem Kerl im Auto.«
Was für eine dreiste Lüge! Empört zuckte Rixels Kopf herum. Das schmutzige Gesicht des Wüstenräubers grinste ihn frech an. »Das ist eine Lüge«, brachte er heraus. Noch immer zielten beide Waffen auf ihn.
Der Wüstenräuber wurde mutiger und stand auf. Dabei brachte er einen weiteren Meter zwischen sich und Rixel. »Sicher.« Der Kerl grinste und zeigte eine Reihe ebenmäßiger, gelber Zähne. »Gleich versucht der euch noch weiszumachen, dass es umgekehrt ist und ich der Räuber bin.«
Genauso war es doch! Empört starrte Rixel den Mann an.
»Mund halten! Alle beide«, Siw warf einen Blick auf Kamherra. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Ihre Schulter musste versorgt werden. Aber was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht einfach beide erschießen.
»Deine Freundin braucht Hilfe.« Das schmutzige Gesicht wandte sich besorgt Kamherra zu.
Kamherra taumelte leicht, hielt sich aber tapfer auf den Beinen. Die Schmerzen drohten sie wahnsinnig zu machen. Schon sah sie alles durch einen roten Schleier, aber sie musste durchhalten. Sie durfte Siw nicht enttäuschen.
Der Kerl hatte Recht. Siws Hand mit dem Revolver zitterte leicht. Kamherra verlor zu viel Blut, aber sie konnte doch keinen Unschuldigen töten.
Kamherras Arm sank nach unten. Sie hatte einfach nicht länger die Kraft die Pistole ruhig zu halten und sie wollte keinen der Beiden aus Versehen erschießen. Der Romeo saß immer noch im Sand. Sein Blick huschte zwischen Kamherra, dem anderen Mann und der Waffe in Siws Hand hin und her.
»Wir sollten nachsehen, ob im Auto Verbandszeug ist, meinst du nicht?« Der Mann mit dem schmutzigen Gesicht rührte sich nicht, aber seine Augen richteten sich vielsagend auf Kams Schulter. »Deine Freundin hat Schmerzen.«
Siw kaute auf ihrer Unterlippe. Sie sah Kamherra an, aber deren Augen waren genauso ratlos wie ihre.
»Wir können den Romeo ja fesseln und später entscheiden, was wir mit ihm machen«, schlug der Mann vor.
Rixel blieb vor Wut die Luft weg. Der Kerl log und bediente sich auch noch seiner Taktik. Reden bis dem Gegner schwindelig wurde. Wieso gelang ihm das im Moment nicht? Die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen kommen.
»Einverstanden.« Siw nickte. »Such du im Auto nach Verbandsmaterial und etwas, womit wir den Romeo fesseln können, Karl.«
»Geht klar.« Der Mann mit dem schmutzigen Gesicht wandte sich dem Auto zu.
Siw schoss, ohne zu zögern.
*
Christian schaute sich in dem Chaos um. Computer, Platinen, Festplatten, jede Menge Kabel, Bücher und was sonst noch alles.
»Nur zu!« Heinz schlug ihm auf die Schulter. »Nicht so schüchtern Chris. Das ist jetzt dein Reich.«
Christian war nicht begeistert, trotzdem setzte er sich in Bewegung um die Sachen zu sichten. »Das dauert Tage, bis ich hier auch nur aufgeräumt habe.«
Und Lana verlangte von ihm innerhalb von drei Tagen ein Netzwerk im Rathaus einzurichten. Als ob das einfach so ging. Selbst unter optimalen Bedingungen brauchte das seine Zeit.
»Ich schicke dir Hilfe.« Heinz war an der Tür stehen geblieben. Christians fehlende Begeisterung enttäuschte ihn sichtlich. »Zum Aufräumen, meine ich.«
Christian nickte und sah sich weiter um. Bisher waren nur die Rechner von Lana und ihrem Sekretär miteinander vernetzt. Alle anderen mussten über die Gänge rennen, wenn sie etwas voneinander wollten. Immerhin standen in den meisten Büros funktionierende Computer. Wenigstens hatte Lana ihm das gesagt.
An der gegenüberliegenden Wand entdeckte er einen Schreibtisch mit einem Computer darauf. Vorsichtig schlängelte er sich durch die herumliegenden Teile und setzte sich auf den wackeligen Stuhl. Einen Augenblick blieb er verträumt sitzen, die Hände auf den Armlehnen. Wann hatte er das letzte Mal an einem Desktop PC gesessen? Es schien ihm Ewigkeiten her zu sein. Ob das Teil überhaupt funktionierte? Der Computer fuhr hoch. Langsam zwar, aber immerhin und der Monitor schien recht brauchbar zu sein. Christian beugte sich vor und betrachtete die vertraute Oberfläche. Probeweise nahm er die Maus und bewegte den Zeiger über die Symbole.
»Chris!« Heinz stand an der Tür und winkte ungeduldig.
»Was?« Er ließ sich jetzt nur ungern stören.
»Unser Rundgang ist noch nicht beendet.«
»Hat das nicht Zeit?« Seine Hände strichen über die Tastatur. Das war ein gutes Gefühl.
»Nein.«
Heinz' Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht diskutieren würde. Seufzend fuhr er den PC herunter und folgte dem Honk zurück auf den Flur. Wieder ging es die verwinkelten Flure entlang. Nach Heinz' Erklärung befanden sie sich unter dem Rathaus und den beiden dahinter liegenden Gebäuden. Vor einer massiven Tür blieb Heinz stehen.
»Das ist dein neues Heim.« Der Honk öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. »Zwischen diesem Zimmer und deinem Arbeitsplatz darfst du dich frei bewegen.«
Er schluckte das ‚Toll’ herunter, das ihm auf der Zunge lag und sah sich in dem Raum um. Es gab drei Betten, ebenso viele Schränke und eine Sitzgruppe.
»Wer wohnt noch hier?« Einen Augenblick plagte ihn die Vorstellung die Stube mit Gabriel oder einem der anderen Honks zu teilen.
»Im Moment niemand außer dir«, erklärte Heinz.
*
Rote Schleier senkten sich vor Kamherras Augen, dann kam ihr der Boden entgegen. Sie landete mit dem Gesicht im Sand. Überrascht registrierte sie, wie weich der war und wie warm. Sie kuschelte sich hinein. Endlich schlafen. Siws erschrockenen Aufschrei hörte sie schon nicht mehr.
»Kam!« Siws Herz schnürte sich vor Angst zusammen.
Sie stand zwischen dem noch immer im Sand kauernden, blassen Romeo und Kamherra.
»Wir müssen ihr helfen«, sagte der Romeo leise. Ganz langsam richtete er sich auf.
Siws Herz schlug wie ein Schmiedehammer. Kamherra lag halb auf der Seite. Ihre langen schwarzen Haare verdeckten das Gesicht und Blut tränkte den Sand unter ihrer Schulter. Wie in Trance sank sie neben Kam auf die Knie und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie war weiß wie ein Laken und ihre Augen waren geschlossen, aber sie atmete.
»Sie lebt«, flüsterte Siw erleichtert. Vorsichtig beugte sie sich über Kam und untersuchte die Wunde. Es war eine tiefe Furche und sie blutete stark, aber wenigstens schien die Kugel nicht in den Körper eingedrungen zu sein. »Ein Streifschuss«, sagte sie.
Der Romeo riss einen Streifen von seinem Hemd ab. »Wir müssen die Blutung stillen.« Zaghaft kniete er sich neben Siw und drückte den Stoff auf Kamherras Schulter.
»Da ist Sand in der Wunde.« Siw spürte, dass ihre Kraft sie zu verlassen drohte. »Wir müssen sie säubern, ehe wir sie richtig verbinden können.«
»Ich kann sie zum Wasser tragen.«
Siw musterte den Romeo. Sein Gesicht war weich und die Augen musterten Kamherra mit echter Sorge. Sie beschloss ihm zu vertrauen und steckte den Revolver wieder in das selbstgebaute Halfter.
»Ich drücke den Verband drauf, während du sie trägst.«
Gemeinsam trugen sie Kam zum Wasser. Dorthin, wo die Reste ihres unbeschwerten Picknicks lagen. Siw fegte die Trümmer von der Decke, ehe der Romeo Kamherra vorsichtig drauf legte. Sie nahm ein Bruchstück der Porzellantasse und schöpfte etwas Wasser aus dem Tümpel. Der Stoffstreifen war getränkt mit Kams Blut. Siw schluckte und goss etwas Wasser über die Wunde.
»Wir brauchen mehr Verband«, seufzte der Romeo und zog sein Hemd aus. Kurzentschlossen riss er es in Streifen.
Zusammen versorgten sie die Schusswunde. Auch wenn die Kugel nicht im Fleisch steckte, war es eine ernste Verletzung.
»Woher wusstest du es?« Die Frage ließ Rixel nicht los. Noch immer sah er den Moment vor sich, als der Lauf der Waffe herum schwang und der Schuss sich löste.
»Der Name.« Siw strich sich mit der Hand über die Stirn. »Der Kerl, den Kam mit den Stricknadeln erlegt hat, hatte mir den Namen genannt.«
Mit Stricknadeln erlegt? Das wollte er sich nicht einmal vorstellen. »Ich heiße Rixel«, sagte der Romeo und knotete den Verband fest um Kamherras Schulter.
»Siw.« Sie wickelte das freie Ende der Decke um Kam. »Und das ist Kamherra.«
*
Gaius lag auf dem Rücken und starrte zum Sternenhimmel hinauf. Der Tag hatte so gut angefangen. Mit einem kräftigen Frühstück aus Würstchen und einer Tasse Tee. Und er hatte einen neuen Akku für sein Book bekommen. Von ein paar Leuten die sich begeistert seine Geschichten angehört hatten. Drei Tage war er mit ihnen gezogen. Eine Art Hippiekommune, die sich vom Weltuntergang nicht die Laune verderben lassen wollte. Sie hatten ihm sogar angeboten bei ihnen zu bleiben, aber das war nicht seine Welt.
Andererseits, was war jetzt ‚seine Welt’? Gab es noch irgendwo einen Platz für ihn? Andere Schreiber und Künstler? Ohne Internet war es echt schwer, das herauszufinden. Aber vielleicht hatte sich das ja jetzt sowieso erledigt. Wenigstens für einen längeren Zeitraum. Sein Fluchtversuch war voreilig und unbedacht gewesen. Jetzt ließ Ron ihn nicht mehr aus den Augen.
Wieso hatte er auch unbedingt diese Lagerhalle durchsuchen müssen und war nicht misstrauisch geworden, dass die Türen so sorgfältig verschlossen waren? Stattdessen musste er unbedingt durch ein Fenster hineinklettern und auf den erstbesten Knopf drücken.
Er seufzte lautlos und versuchte sich in eine etwas angenehmere Position zu bringen. Ron und der Fahrer des Lastwagens hatten ihn mitgenommen. Mehrere Stunden hatte er eingeklemmt zwischen den beiden Männern in der stickigen Fahrzeugkabine gesessen. Ron hatte erst anhalten lassen, als es schon dunkel war. Und dann hatte er irgendetwas mit dem Motor des Wagens angestellt, damit man ihn nicht anlassen konnte. Wenigstens hatte es etwas zu essen gegeben. Und nun lag er eingekeilt zwischen Ron und dem Fahrer im Wüstensand; die Hände an einen Pflock gefesselt, den sie über seinen Kopf in den Boden gerammt hatten. Das war wie in einer seiner Geschichten. Nur dass er nie den Ehrgeiz gehabt hatte, in einer davon mitzuspielen.
*
Alles war ruhig und dunkel. Der Strom wurde jeden Abend abgestellt um Energie zu sparen, das hatte Heinz ihm erklärt, als er kam um ihn in den Feierabend zu schicken. Nach zehn Stunden harter Arbeit in der Gesellschaft zweier Honks, denen man das Atmen schon als Leistung anrechnen musste. Immerhin hatte er ein anständiges Abendbrot bekommen. Brot, Wurst, etwas, das aussah wie Butter und dazu hatte es eine Art Kaffee aus Gerste gegeben.
Leise verließ Christian das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Flur war es finster. Er blieb einen Moment stehen, aber es gab keinen Lichtschein, nichts, an das sich seine Augen anpassen konnten. Also musste er sich blind vorantasten. Wenigstens gab es auf den Fluren keine Hindernisse. So weit er sich erinnerte wenigstens. Christian legte seine Hand an die Wand. Die Steine waren kalt.
Das erinnerte ihn daran, dass er außer seinem Handheld nichts mehr besaß. Keine Decke und keinen Proviant, noch nicht einmal eine Flasche Wasser. Er zögerte kurz und sah in der Dunkelheit dorthin zurück, wo die Zimmertür lag.
Wieso hatte er nicht daran gedacht, eine der Decken mitzunehmen? Oder sich etwas von seinem Abendessen aufzusparen? Er schüttelte den Gedanken ab und tastete sich entschlossen weiter an der Wand entlang. Es gab kein Zurück! Vielleicht konnte er auf dem Weg zur Mauer noch etwas organisieren. Irgendetwas das einer Decke nahe kam, würde ihm reichen. Wasser und etwas zu essen hatte er bisher immer gefunden oder gegen ein paar Zeilen Programmcode tauschen können. Jetzt musste er erst einmal hier heraus.
An wie vielen Türen hatte Heinz ihn vorbeigeführt? Wieder verharrte er einen Augenblick um zu überlegen. Die Tür zum Serverraum war auf der linken Seite, wenn man von der Treppe kam, und da hatte es drei Türen gegeben. Da war er sich sicher. Aber wie oft waren sie abgebogen? Das hier war kein einfacher Keller. Das war ein Labyrinth.
Langsam ging er weiter, während seine Fantasie ihm Bilder von Spinnenhorden vorgaukelte, die sich an der Wand abseilten. Er rechnete jeden Moment damit, in etwas Haariges zu fassen.
Zwei Abzweigungen später wurde es weiter vorn im Flur heller und er meinte die Silhouette einer Treppe zu sehen. Christian lief schneller. Ja, das war sie! Er hatte Glück gehabt. Mit der Hand faste er nach dem Geländer. Das vom Alter glatte Holz unter der Hand zu fühlen war beruhigend, nach dem Umherirren in der Dunkelheit. Jetzt nur noch hinauf und zur Stadtmauer.
Aber Vorsicht! Sein Fuß verharrte in der Luft. Treppenstufen konnten übel knarren. Nah am Rand der Wand trat er auf die erste Stufe. Einen Teil seines Gewichts trug dabei das Treppengeländer. Mühsam arbeitete er sich voran. Erst im zerstörten Lichthof des Rathauses atmete er auf.
Mondschein fiel durch die dunklen Metallrippen, zwischen denen einst Glas gewesen war. Das war gut. Dann sah er trotz der Dunkelheit wenigstens etwas. Im Moment zum Beispiel den Galgen auf dem zentralen Platz. Christian schauderte und zog die Schultern hoch. Schnell wandte er sich ab und umrundete das Rathaus. An der Hinrichtungsstätte wollte er lieber nicht vorbeigehen. Außerdem war es ohnehin besser, nicht geradewegs zum Stadttor zu marschieren. Das war sicher bewacht. Er musste möglichst weit vom Tor entfernt einen Weg über die Mauer finden. Zuversichtlich schritt er voran.
»He!«, hallte unvermittelt ein Ruf durch die Straße.
Christian erstarrte auf der Stelle. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Galt das ihm? Eine dunkle Gestalt löste sich aus einem der Hauseingänge und kam auf ihn zu. Christian machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.
»Stehen bleiben!«, gellte es hinter ihm her.
Natürlich blieb er nicht stehen. Was für eine Strafe hatten sie hier wohl für einen Fluchtversuch? Wieder dachte er an den Galgen und rannte schneller. Hinter ihm schrillte eine Trillerpfeife. Christian hastete um die nächste Ecke. Den Verfolger musste er unbedingt abschütteln, bevor er zur Mauer konnte.
Überall um ihn herum begann es zu pfeifen. Ein richtiges Trillerpfeifenkonzert lärmte durch die Nacht. Schwer atmend blieb er stehen. Sie kesselten ihn ein. Das war auch nicht schwer. Jeder Flüchtling wollte zur Mauer, also bildeten sie einfach einen Ring und zogen ihn nach innen immer enger. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn sehen würde.
Verzweifelt sah er sich um. Ihm blieb keine Wahl. Er musste zurück ins Rathaus und hoffen, dass er nicht erkannt oder erwischt wurde. So schnell er es wagte, rannte er weiter. Schon sah er den Schatten des unheilvollen Galgens, wie einen Wegweiser. Oder eine Prophezeiung, fuhr es ihm durch den Kopf. Er wandte sich wieder zur Rückseite des Gebäudes. Dort gab es ebenfalls eine Treppe. Das hatte er gesehen, als er losgegangen war.
Die Trillerpfeifen kamen näher und im Rathaus wurde es lebendig. Honks rannten auf den zentralen Platz raus. Christian beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, die Vordertür zu meiden. Im selben Moment sah er die Treppe. Er hatte sich also nicht geirrt. Das hier war ein alter Zugang zum Keller. Erleichtert schwang er sich auf die oberste Stufe.
Sie zerbarst mit einem Knall, der sich wie ein Kanonenschuss anhörte. Hilflos ruderte Christian mit den Armen, aber er schaffte es nicht, im Gleichgewicht zu bleiben. Auf dem Hintern schlitterte er die Stufen hinunter.
*