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Kapitel 1
Doppelt hält besser

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Gegenwart

Green Mountain National Forest, Vermont, USA

Das durch die Jalousie fallende Sonnenlicht kitzelte seine Nase und weckte ihn. Mark Jedediah Vigilante öffnete die Augen und blinzelte. Er hatte geträumt. Gerade glaubte er noch zu wissen, wovon, und wollte in den Erinnerungen schwelgen, doch ehe er seinen Gedanken greifen konnte, war er unwiederbringlich fort. Statt sich den Kopf zu zermartern, an was er sich zuletzt erinnern konnte, begnügte er sich damit, dem realen Leben den Vorzug zu geben. Die Erinnerungen an gestern Abend konnten nur unvergleichlich schöner sein als sein Traum. Er drehte den Kopf zur Seite und fand eine leere Bettseite.

Enttäuschung breitete sich wie ein Schlag in die Magengrube in ihm aus. Er hatte geahnt, dass sie nicht bleiben würde, doch dass sie sang- und klanglos verschwand, ohne sich zu verabschieden, frustrierte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte.

Vigilante schlug die Bettdecke fort und stand auf.

»Irina?«, rief er. Eine vage Hoffnung, sie könne im Bad sein oder in der Küche, um Frühstück zu machen. Ein Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb sieben. Sein Glaube, sie könne sich noch im Haus befinden, zerschlug sich jäh, als er sich daran erinnerte, dass er beim Aufstehen ihre Bettseite berührt hatte. Sie war kalt, Irina längst fort.

Vigilante seufzte und schaltete die Stereoanlage mit der Fernbedienung an. Der CD-Player spielte den letzten Song. Saints & Sinners von Shallow Side dröhnte basslastig aus den Lautsprechern. Er verrichtete seine Morgentoilette und begab sich ins offene Wohnzimmer des geräumigen Bungalows. Mit nacktem Oberkörper und in der Pyjamahose begann er mit einem kleinen Work-out: Sit-ups, Liegestützen, Dehnübungen, dazu ein paar Punches und Klimmzüge an einer Stange, die zwischen zwei Türzargen eingeklemmt war. Nichts, was ihn ins Schwitzen brachte, aber Sachen, die ihn in Form hielten. Auf das Morgenjogging verzichtete er, auch wenn ihn das vielleicht auf andere Gedanken bringen mochte.

In der Küche, die direkt an den Wohnraum angrenzte und sich nur durch eine riesige Kochinsel von ihm trennte, schaltete er eine Induktionsplatte am Herd an, setzte eine Pfanne drauf und griff an die Kühlschranktür.

Da sah er ihren Zettel, klassisch mit einem Magneten an die Tür geheftet.

Tut mir leid, Jed. Ich wollte dich nicht wecken, musste aber los. Wir sehen uns später. Ich melde mich. Versprochen.

Kuss, Irina

PS: Du warst fantastisch letzte Nacht

Vigilante schmunzelte bei dem Nachtrag, doch dann dachte er daran, dass sie das vielleicht nur geschrieben hatte, um ihn ob ihres plötzlichen Aufbruchs zu versöhnen. Er verzog die Mundwinkel.

»Sehen uns später … wann? Willst du mich wieder ein Jahr warten lassen?«

Seine Beziehung mit Irina konnte er nicht einmal eine solche nennen. Es war weder eine Fernliebe noch ein On-off-Verhältnis. Sie tauchte auf. Sie liebten sich leidenschaftlich. Sie verschwand wieder.

Er zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Müll. Dann öffnete er die Kühlschranktür und griff mit einer Hand nach der Kunststoffflasche mit Orangensaft, mit der anderen nach zwei Eiern. Bevor er diese aus der Tür ziehen konnte, hörte er ein Motorengeräusch. Ein Wagen fuhr draußen vor.

Da sich kaum jemand so weit in den Green Mountain National Forest verirrte und er hier anonym lebte, konnte es nur Irina sein. Er schlug die Schranktür zu und eilte zum Eingang des Bungalows. Hinter der Milchglasscheibe sah er eine Gestalt, der Figur nach weiblich und mit langen Haaren.

Er riss die Tür auf, ehe die Besucherin klingeln konnte, und rief freudestrahlend: »Irina, hast du mich … äh …«

Er blickte nicht in die grünen Augen der Rothaarigen, sondern in die tiefschwarzen einer jungen Frau, die ihre indische Abstammung nicht verbergen konnte. Olivdunkler Teint, schwarze lange Haare und ein leicht gekrümmter Nasenbuckel.

Sie zuckte erschrocken zurück und wich einen Schritt nach hinten, als er sie so überschwänglich begrüßte.

»Ich … huch …«

»Karma?«, sagte er verdutzt. »Wie …«

Vor ihm stand Karma Prakash, auch unter dem Decknamen Sentinel bekannt. Eine Hackerin, die er vor ein paar Monaten aus den Fängen der NSA und des früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten befreit hatte.

Sie blickte ihn überrascht an. »Äh … Mister Vigilante?«

Jetzt war er noch erstaunter. »Wir waren beim letzten Mal schon etwas vertrauter.«

Sie blickte an ihm herunter und musterte seinen nackten Oberkörper und die Schlafanzughosen. »Ich störe offenbar … entschuldigen Sie. Aber ich müsste Sie wirklich dringend sprechen. Und nein, ich bin nicht Karma. Aber genau deswegen bin ich hier. Mein Name ist Eden Hawkes, ich bin Karmas …«

»… Zwillingsschwester«, fiel er ihr ins Wort und erinnerte sich daran, dass Sentinel sie erwähnt hatte. Oder Madame Dunoire. So genau wusste er es nicht mehr.

»Oh … tut mir leid, dass ich Sie verwechselt habe. Ich … okay, kommen Sie rein, ich werde mir nur kurz was überwerfen.«

Er trat beiseite und ließ sie vorbei. Ein kurzer Blick nach draußen überzeugte ihn davon, dass sie allein war. Neben seinem Ford Ranger Lariat stand ein rostiger roter Toyota, der schon bessere Tage gesehen hatte. Vigilante schloss die Tür und wies mit einer Hand ins Wohnzimmer.

»Setzen Sie sich doch. Ich bin gleich bei Ihnen.«

»Danke. Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen.«

Hast du schon, dachte er. Erst Irinas vorwarnungsloser Abgang, dann die Verwechslung mit Sentinel. Offenbar war heute der Tag des Wechselbads der Gefühle zwischen Kummer, Hoffnung und wieder Kummer. Vigilante ging ins Schlafzimmer, schlüpfte in frische Jeans und streifte sich das erstbeste T-Shirt über. Die Mühe, nach Socken oder Hausschuhen zu suchen, machte er sich nicht. Barfuß kehrte er zurück in den Wohnraum.

»Ich wollte mir gerade Frühstück machen. Wollen Sie auch was?«

Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt bekam er Gelegenheit, sie eingehender zu mustern. Sie trug Cowboystiefel, eine rote Bluse mit Fransen und eine knallenge Jeans, darüber eine Wildlederjacke, ebenfalls mit Fransen. Offenbar ein Country-Fan. Er ging zum Kühlschrank, schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und leerte es in einem Zug. Dann spähte er zur Kaffeemaschine.

»Kaffee?«

Sie sah hoch. »Tee?«

»Muss ich passen.«

»Wie gesagt, machen Sie sich keine Umstände.«

Er setzte sich auf die Couch ihr gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust. Nicht mal acht Uhr in der Früh und er bekam Besuch, der unmöglich wissen konnte, wo er sich zurzeit aufhielt, es sei denn, dieser unterhielt einen direkten Kontakt zur Präsidentin der Vereinigten Staaten.

»Also, wie haben Sie mich gefunden?«

Hawkes setzte einen fragenden Blick auf.

»Keine Spielchen«, mahnte er. »Offiziell existiere ich gar nicht mehr. Niemand weiß, dass ich mich hier aufhalte.«

»Die Rothaarige ist also niemand?«

Sein Herz setzte einen Schlag aus. »Sie haben Irina gesehen? Wann?«

»Sie hat das Haus vor einer Stunde verlassen.«

»So lange warten Sie schon draußen?«

Hawkes zuckte mit den Achseln. »Es war noch alles ruhig und ich dachte, Sie schlafen vielleicht noch nach … nach … ach, vergessen Sie’s.«

Nach einer leidenschaftlichen, verausgabenden Nacht, dachte Vigilante die abgebrochenen Worte zu Ende. War er so leicht zu durchschauen? Er löste die Arme und beugte sich vor. »Das beantwortet nicht meine Frage. Woher wissen Sie, dass ich hier bin, und woher kennen Sie meinen Namen?«

»Das klingt jetzt verrückt. Karma hat mir von Ihnen erzählt und von ihr hab ich auch diese Adresse.«

Vigilante schürzte die Lippen. Er hatte Karma seit ihrer Rettung im Bunker des Weißen Hauses nicht mehr getroffen. Nur Präsidentin Gainsborough kannte seine Anschrift. Gut, Irina auch. Aber das war zweitrangig. Allerdings war Karma eine brillante Hackerin und hatte ihn während seiner letzten beiden Aufträge immer wieder mit ihren Fähigkeiten erstaunt. Sehr wahrscheinlich war sie sogar besser als Gwendolyn Stylez zu Lebzeiten. Aber er hatte stets angenommen, dass ihre Fähigkeiten sich durch ihren Aufenthalt in einer virtuellen Welt und der direkten Verbindung zu allen Netzwerken potenziert hatte.

»Okay«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sie müssen mir helfen«, sagte Hawkes. Ihre Worte waren atemlos, klangen jetzt verzweifelt.

»Helfen? Wobei?«

»Karma zu finden.«

Vigilante wurde hellhörig. »Wie jetzt?«

»Karma ist verschwunden. Spurlos.«

* * *

»Schon wieder?«, hätte er beinahe laut ausgerufen, atmete jedoch tief ein und starrte Eden Hawkes forschend an. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? Kaum. Aber das war doch unmöglich. Madame Dunoire hatte sich um Sentinel gekümmert und versichert, dass sie nie wieder in die Hände der Nachrichtendienste fallen würde. Soweit er wusste, hatte sie dafür eine Vereinbarung mit Präsidentin Gainsborough getroffen.

»Sie erzählen die Dinge in der falschen Reihenfolge«, sagte er sachlich und musterte sie weiter.

»Was? Wieso …?«

»Nun, wenn Sie zu mir gekommen sind, um mich zu bitten, Karma zu suchen, wie kann sie Ihnen dann meine Adresse gegeben haben, wenn sie doch verschwunden ist? Sie wird sie sicher nicht beiläufig vor ihrem Verschwinden erwähnt haben und Sie haben sie ausgerechnet für Notfälle notiert.«

Hawkes schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so war es nicht. Karma wollte mich sehen. Wir verabredeten ein Treffen in Washington. Es ist schon sehr lange her, dass wir uns das letzte Mal begegnet sind. Sie war beschäftigt und … ich hörte von ihrer Entführung. Als ich zum Treffpunkt kam, war sie nicht dort. Sie textete mich an … hier, das war gestern.« Sie holte ein Smartphone aus ihrer Wildlederjacke und reichte es ihm. Das Display war entsperrt und zeigte eine geöffnete Messenger-App.

Garten. Kann nicht kommen. Böse Menschen. Finde mich. Such Vigilante.

Darunter standen zwei Zahlen, die die exakten Koordinaten seines Aufenthaltsorts darstellten. Sicher, eine Adresse mit Straße gab es hier draußen im Wald nicht. Der nächste Ort war Shaftsbury, aber so weit entfernt, dass sich niemand bis hierher verirrte.

Garten, dachte Vigilante und sprach Hawkes darauf an.

Sie lächelte peinlich berührt. »Ein Kosename … für meinen Vornamen Eden. Aber auch ein Zeichen dafür, dass Karma diese Nachricht geschickt hat, denn nur sie nennt mich so.«

»Und das war nach der vereinbarten Zeit für ein Treffen?«

Hawkes nickte. »Gut eine Stunde danach.«

Vigilante strich sich über das Kinn. Das konnte doch nicht wahr sein. Warum ließ sich Sentinel wieder entführen? Er wollte nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, sie aus der Patsche zu holen. Wortlos griff er nach dem Smartphone vor sich auf dem Couchtisch, entsperrte das Display und wählte in der Kurzwahl die Nummer von Madame Dunoire.

Die Verbindung baute sich auf und sofort sprang die Ansage der Telefongesellschaft an, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. Vigilante runzelte die Stirn und drückte die Wahlwiederholung. Diesmal verkündete die automatische gar, dass die Rufnummer nicht vergeben wäre.

»Probleme?«, fragte Hawkes.

»Das ist … merkwürdig.«

»Wen versuchen Sie zu erreichen? Karma?«

»Nein, eine alte Freundin. Steckt vielleicht in einem Funkloch.« Er wischte durch das Menü seiner Kontakte und grub in seinem Gedächtnis nach dem Namen von Dunoires neuer Sicherheitschefin, die sie nach Marian Watts’ Tod eingestellt hatte. Als er weder in seinen Erinnerungen noch im virtuellen Telefonbuch etwas fand, entschied er, dass er wohl ihre Nummer nicht abgespeichert hatte. Er kehrte zurück zu Dunoires Eintrag und wählte diesmal die Festnetznummer. Irgendeiner der Hausangestellten würde schon abheben. Zu seiner Überraschung bekam er auch hier nur die automatisierte Ansage, dass diese Rufnummer nicht vergeben sei.

»Kein Funkloch«, murmelte er.

»Bitte?«

Er hob eine Hand und bedeutete Hawkes zu warten. Zuerst dachte er daran, Priscilla Mercer anzurufen, die Schwester des verstorbenen Hackers Wolverine, die noch immer für Dunoire arbeitete. Aber offiziell saß er in einem Hochsicherheitsgefängnis für den Mord am Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ein und wartete auf seine Verurteilung. Die Befreiungsaktion, die die damalige designierte Präsidentin Gainsborough arrangiert hatte, fand unter dem Radar statt. Wer auch immer momentan an seiner Stelle im Gefängnis saß, hatte mit der Tötung von Brian Matthew Wallace nichts zu tun. Falls jemand an Vigilantes Stelle hinter Gittern hockte …. Bei all den verrückten Dingen, die er in den letzten Jahren erlebt hatte, war es auch denkbar, dass sie einen Klon von ihm eingesperrt hatten oder ein virtuelles, holografisches Abbild. Er schauderte bei dem Gedanken, strich aber Priscillas Nummer aus der Liste möglicher Leute, die er kontaktieren konnte. Außer Dunoire wussten nur wenige, dass er auf freiem Fuß war. Irina würde ihm nicht helfen können. Blieb nur noch das Weiße Haus.

Er presste die Zähne zusammen. Das hätte er gerne vermieden, doch dann wählte er Pattersons Nummer. Der frühere Wahlkampfmanager Gainsboroughs war inzwischen Stabschef der Präsidentin.

»Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass es schön ist, Ihre Stimme zu hören, aber mir würde es besser gehen, hätten Sie nicht angerufen«, wurde er direkt begrüßt.

»Wenn es nicht wichtig wäre, hätte ich mir den Anruf gespart.«

Die Verbindung war sicher. Die Telefone, die im Weißen Haus benutzt wurden, wurden regelmäßig durch den Secret Service mit den neusten Patches versehen und kontrolliert. Vigilante hatte bei der Auswahl des Wohnsitzes inmitten des Green Mountain National Forest darauf geachtet, dass ein Mobilfunkmast zumindest so nahe gelegen war, dass er telefonieren und eine Internetverbindung aufbauen konnte. Sein Gerät war ebenfalls durch einen Experten vor Abhörmaßnahmen geschützt worden.

»Schießen Sie los!«, sagte Alex Patterson.

»Haben Sie in letzter Zeit mit Madame Dunoire gesprochen?« In seine Frage schloss er die Präsidentin mit ein.

»Vor … drei, vier Wochen. Warum?«

Vigilante erzählte ihm von seinen vergeblichen Anrufen bei Madame Dunoire.

»Das kann doch nicht sein …«, folgerte Patterson. »Sicher liegt das an der Gegend, in der Sie sich aufhalten. Die Verbindung …«

»… ist glasklar«, unterbrach ihn Vigilante. »Wir telefonieren ja auch miteinander.«

»Warten Sie einen Moment.« Die Verbindung wurde gehalten. Offenbar wählte Patterson nun ebenfalls Dunoires Anschluss, um Vigilantes Aussage zu prüfen. Nach einer halben Minute war er wieder in der Leitung. »Ich bekomme sie auch nicht. Ich lass eine Streife nach dem Rechten sehen.«

»Danke.«

Vigilante unterbrach die Verbindung und begegnete Hawkes’ fragendem Blick.

»Wir warten«, sagte er. »Vielleicht doch einen Kaffee?«

»Immer noch Tee.«

»Ich muss immer noch passen.«

»Tja«, sagte sie und schlug ein Bein über das andere. »Wir bewegen uns im Kreis.«

Das Vigilante-Komplott (Vigilante 4)

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