Читать книгу Das Vigilante-Komplott (Vigilante 4) - Martin Kay - Страница 8

Kapitel 3
Echt jetzt?

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Eden Hawkes verdrehte die Augen und seufzte hörbar, nachdem das Schweigen zwischen ihr und Vigilante beinahe unerträglich geworden war.

»Ja!«, stieß sie genervt hervor. »Ich hätte mich in meine Karre setzen und wieder zurück zum Hotel fahren können, bis Sie mich anrufen und mir mitteilen, ob derjenige, den Sie angerufen haben, Informationen hat.«

Vigilante biss sich auf die Unterlippe. Er war sogar versucht, ihr recht zu geben, doch hier gab es weit und breit kein Hotel, in dem sie hätte absteigen können. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als zu warten, und Vigilante wollte sie nicht zur Tür und Gott weiß wohin zurückschicken. Er fuhr sich verlegen durch die Haare.

»Ja, Sie haben recht. Was können wir denn tun, um die Zeit zu überbrücken? Soll ich Ihnen was zu essen machen? Einen Film einwerfen? Ein Kartendeck holen? Oder wollen Sie eine Runde spazieren gehen?«

Er merkte, wie hohl seine Vorschläge klangen, dabei hatte er sie sogar ernst gemeint.

»Wie wäre es, wenn Sie mir einfach erzählen, wie Sie meine Schwester kennengelernt haben?«

Er lachte kurz. »Auch wenn es das Logischste wäre, darüber zu reden, ausgerechnet das darf ich nicht.«

Eine Falte entstand zwischen Hawkes’ Brauen. »Ach. Wieso das nicht?«

»Ich könnte jetzt den Ich kann schon, aber dann müsste ich Sie erschießen-Witz bringen, aber der ist so alt wie der, dass Darth Vader Lukes Vater ist. Meine Beziehung zu Ihrer Schwester unterliegt der nationalen Sicherheit und Geheimhaltung.«

Jetzt lachte Hawkes. »Nationale Sicherheit? Meine Schwester arbeitet als App-Entwicklerin bei einer Softwareschmiede. Wem wollen Sie was von nationaler Sicherheit und«, sie machte mit den Fingern eine Anführungszeichengeste, »Geheimhaltung erzählen?«

»Nun …« Vigilante erhob sich und wandte sich in Richtung Küchenzeile. »Sie können darüber denken, was Sie wollen, ich jedenfalls habe einen Mordskohldampf und werde mir erst mal ein ordentliches Frühstück zaubern. Es gibt Rührei mit Speck und frischen Kaffee. Wenn Sie auch was wollen, dann …«

Sein Smartphone vibrierte. Er hatte den Ton auf stumm gestellt, wie so viele es taten. Klingeltöne seien so von gestern, hatte ihn Rick Mercer einmal aufgezogen. Vigilante schob den Gedanken an den verstorbenen Hacker beiseite und nahm das Gespräch an, als er sah, dass es Pattersons Nummer war.

»Ja?«

»Jed!« Die Stimme des Stabschefs klang alarmierend. »Sie müssen da sofort weg, sofort!«

Vigilante war Profi genug, um zu erkennen, dass es nicht nur um Sekunden ging, sondern auch um Leben oder Tod. Er schob das Smartphone in die Jeans, setzte zur Couch hinüber, packte Hawkes an einem Handgelenk und zerrte sie auf die Füße.

»Was zum …?«

»Wir müssen sofort verschwinden!«

Seine Worte ließen keine Widerrede zu, dennoch machte Hawkes Anstalten, sich aus seinem Griff zu befreien.

»Wenn Sie weiterleben wollen, tun Sie ganz genau das, was ich Ihnen sage.«

»Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt?«

Sie erreichten die Tür. Vigilante öffnete sie, trat über die Schwelle und zog den Fuß sofort wieder zurück, als neben ihm die Hauswand zersplitterte und ihm Putz und Beton wie Schrapnelle um die Ohren sausten. Er schlug die Tür zu, bugsierte Hawkes zurück in den Innenraum. Ihr zuvor olivfarbenes Gesicht war kalkweiß geworden, die Augen geweitet.

»Was … was hat das zu bedeuten?«

Er sah sie an. »Ich weiß es nicht. Aber vertrauen Sie mir, bleiben Sie in meiner Nähe und tun Sie das, was ich sage, das erhöht Ihre Chance, das heil zu überstehen.«

Er rannte durch das Haus, zuerst ins Schlafzimmer, riss einen Rucksack aus dem Kleiderschrank und nahm die FN Five-seveN und ein zusätzliches Magazin aus der Schublade seines Nachttischchens. Dann kehrte er in den Wohnraum zurück, hetzte von dort die Treppe in den Keller hinunter und öffnete eine Tür zu einem Depot.

»Was tun Sie?«

»Ausrüsten«, rief er über die Schulter zurück. »Halten Sie den Kopf unten.«

Er drückte seinen Finger auf ein Sensorfeld und gab zusätzlich einen achtstelligen Code in die Tastatur darüber ein. Mit einem hörbaren Klicken entriegelte sich die Tür und verschaffte ihm Zugang zu seinem Waffenraum. Rasch verschaffte er sich einen Überblick. An der Wand hingen verschiedene Sturmgewehre, Schrotflinten, Maschinenpistolen und Pistolen sowie einige Messer. In den Schubläden der Schränke darunter befand sich das schwerere Zeug: C4-Pakete, Granaten, Semtexladungen, Sprengfallen. Mehr als die Hälfte davon durfte er als US-Bürger trotz der lockeren Waffengesetze nicht einmal besitzen. Es musste schnell gehen. Er griff nach einer Pistole für Hawkes und einer MP7 für sich selbst. Rasch füllte er einige Magazine in den Rucksack und so viel wie ging, in die Hosentaschen. Wie beiläufig steckte er noch eine Rauch- und eine Splittergranate ein und ein Erste-Hilfe-Päckchen für den Fall der Fälle. Dann hastete er wieder nach oben und bedeutete Hawkes, sich zum Ausgang an der Küche zu wenden. Er warf sich den Rucksack über, ging zur Vordertür, riss sie auf, zog den Splint der Splittergranate und warf sie in hohem Bogen zu der Stelle, von der gerade das Feuer gekommen war. Noch in dem Moment, in dem er den Sprengkörper losließ, sah er Mündungsfeuer aufblitzen und spürte die Einschläge der Geschosse am eigenen Leib. Kugeln flogen ihm um die Ohren, eine fegte dicht an ihm vorbei und streifte den Riemen des Rucksacks. Mehrere schlugen in den Türrahmen und die Hauswand ein. Eine zerfetzte die Glasscheibe in der Tür und ergoss einen Splitterregen über Vigilante. Er riss schützend die Arme vor das Gesicht, duckte sich und rannte zurück zur Küche. In seiner Hand lag die Rauchgranate.

Draußen dröhnte der Explosionshall des Splittersprengsatzes wider. Vigilante hoffte, dass er sich dadurch wertvolle Sekunden der Ablenkung erkaufte. Er wusste nicht, wie stark der Gegner war, wie weit sie das Haus eingekreist hatten noch was sie von ihm wollten. Nur eines wusste er: Er und Hawkes mussten hier raus, wenn sie das überleben wollten.

»Wenn ich ›Jetzt!‹ sage, laufen Sie los zu meinem Wagen, springen auf den Beifahrersitz und ziehen sofort den Kopf ein.«

Sie nickte atem- und wortlos, die Panik in ihren Augen. Der Blick wurde noch größer, als er ihr eine Beretta Nano in die Hand drückte, die kleinste Pistole in seinem Arsenal. »Können Sie damit umgehen?«

Sie nahm die Waffe. »Ich bin E-Sportlerin.«

Vigilante sah sie zweifelnd an.

»Call of Duty«, ergänzte sie.

Er verdrehte die Augen. »Das ist was anderes als Maus und Tastatur.«

Hawkes betätigte den Magazinauswurf, ließ den kleinen Metallbehälter in ihre Handfläche gleiten, rammte ihn sogleich wieder in den Griff, zog den Verschlussschlitten zurück und beförderte eine Patrone in die Kammer, dann sicherte sie die Waffe.

Beeindruckt zog Vigilante die Brauen hoch. »Ich hab nichts gesagt.«

Er wandte sich zur hinteren Tür neben der Küchenzeile, zog sie auf und schleuderte die Rauchgranate ins Freie. In Gedanken zählte er die zwei, drei Sekunden ab, die das Gasgemisch brauchte, um seine Wirkung zu entfalten und jedem Feind, der nicht gerade mit Infrarotvisier auf ihn zielte, die Sicht zu nehmen.

»Jetzt!«, rief er.

Ungezielte Schüsse erklangen. Er packte Hawkes an der Hand und zog sie hinter sich her. Den Weg zum Ford Ranger kannte er blind. Noch zehn Meter über den Kiesweg. Seine Schritte konnte er nicht tarnen, doch der Gegner auch nicht. So hörte er das Knirschen von Stiefeln auf Schotter genau in dem Moment, als er am Rand seines Gesichtsfeld einen Schatten wahrnahm, der sich vor dem dichter ausbreitenden Rauch abhob.

»Geradeaus weiter!« Er ließ Hawkes los, wandte sich dem Schatten zu und trat seitwärts gegen ihn. Der harte Anstoß, das Zurückweichen und das Stöhnen verrieten ihm, dass er empfindlich getroffen hatte, aber der Schatten verschmolz nur für eine Sekunde mit dem Nebel, eher er wieder zu sehen war. Vigilante hob die FN und schoss zweimal in Brusthöhe. Die letzte Kugel für den Kopf sparte er sich, da er diesen nicht sehen konnte und vermutlich ohnehin danebengeschossen hätte. Falls der Gegner eine Schutzweste trug, war er wahrscheinlich noch am Leben und in wenigen Augenblicken wieder auf den Beinen.

Vigilante hörte Stimmen. Die Gegner gaben sich über Funk Anweisungen. Irgendwo jenseits des Rauchs lauerten sie auf ihn und Hawkes, dabei war er nicht sicher, hinter wem von ihnen beiden sie her waren. Die Probleme tauchten ausgerechnet dann auf, wenn er unerwarteten Besuch erhielt. Da er monatelang unbescholten hier gelebt hatte, musste er davon ausgehen, dass Karmas Schwester das Ziel der Angreifer war. Er erreichte den Pick-up, klemmte sich hinters Steuer, startete den Motor und warf der Frau einen kurzen Seitenblick zu, die sich auf der Beifahrerseite so gut duckte, wie es im angeschnallten Zustand ging. Dann gab er Gas.

Der Wagen machte einen Satz, schlitterte über den Kies und preschte aus der Nebelwand vor. Sofort sah Vigilante die Gestalten, die das Haus eingekreist hatten. Eine Sekunde darauf blitzte Mündungsfeuer auf. Er riss das Lenkrad herum, der Wagen kam ins Schleudern, fing sich und jagte eine Böschung hinauf. Die Räder fanden Halt auf dem lockeren Untergrund und Vigilante lenkte ihn vom Weg ab ins Unterholz. Von nun an wurde die Fahrt nicht nur ungemütlich, sondern auch holperig. Der Wagen rumpelte durch Laub und Erde, überfuhr Zweige, Äste und Wurzeln, während seine Insassen ordentlich durchgeschüttelt wurden und Vigilante Mühe hatte, das Steuer unter Kontrolle zu halten. Einschüsse erklangen: harte Knallgeräusche, die davon zeugten, dass der Rahmen des Wagens getroffen wurde. Solange sie keinen Reifen erwischten oder die Heckscheibe zerschlugen, machte sich Vigilante keine Sorgen.

Das Glas der Sichtscheibe hinter ihnen zerbarst in tausend Scherben. Vigilante fluchte und riss wieder am Lenkrad. Die Böschung ließen sie mit einem Satz hinter sich. Der Pick-up setzte hart auf. Hawkes schrie. Vigilante stieß sich den Kopf am Dachhimmel des Wagens. Er verriss das Lenkrad, der Ford stellte sich quer und rutschte mehrere Meter den Abhang hinunter. Sie waren zwar nun außer Sicht ihrer Verfolger, doch wenn das Fahrzeug sich jetzt überschlug und auf dem Dach liegen blieb, hatten sie nichts gewonnen.

Vigilante trat die Bremse, drehte das Lenkrad erneut. Der Wagen schlingerte, rutschte weiter. Fluchend zog Vigilante die Handbremse und sandte ein Danke an Henry Ford und die Fordwerke in Deaborn, dass dieses Fahrzeug nicht mit einer elektronischen Parkbremse ausgestattet war, sondern noch auf einen altmodischen Hebel setzte. Er bekam den Wagen unter Kontrolle, aus der Rutschpartie wurde wieder etwas, das man zumindest ansatzweise eine Fahrt nennen konnte.

»Mir wird schlecht«, sagte Hawkes.

»Tun Sie sich keinen Zwang an.« Er sah in den Rückspiegel. Von den Verfolgern war nichts zu sehen. Wenn die zu Fuß unterwegs waren und ihre Fahrzeuge weiter weg abgestellt hatten, würden die sie nicht mehr einholen. Doch es gab noch keinen Grund aufzuatmen. Das wusste Vigilante aus eigener Erfahrung. Noch immer war die Fahrt holperig und schüttelte sie durch. Noch immer musste er hart gegensteuern, um nicht erneut ins Schlingern zu gelangen. Er musste Bäumen und zu großen Wurzeln ausweichen. Immer wieder stieß er mit dem Kopf gegen den Dachhimmel oder die Seitenscheibe und die Gurte schnitten ihm in Fleisch und Knochen. Wenn er die Sache jedoch mit ein paar Blutergüssen, blauen Flecken und Beulen überstehen konnte, war er schon dankbar.

Er lenkte den Wagen aus dem Unterholz auf einen Waldweg. Die Fahrt wurde etwas ruhiger, hielt allerdings keinem Vergleich zu dem Fahren auf einer befestigten Straße stand. Sie rutschten über den Waldboden. Vigilante gönnte sich den Luxus, einmal tief durchzuatmen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Haben wir es geschafft?«, fragte Hawkes.

»Noch nicht.« Er griff nach dem Smartphone in seiner Hosentasche und fummelte es heraus. Die Verbindung zu Patterson war unterbrochen. Rasch wählte er die Nummer aus der Wahlwiederholung. Der Stabschef ging nach einmal Durchläuten ran.

»Alles okay?«

»Die haben mein Haus angegriffen, Alex. Schwer bewaffnet. Automatische Waffen. Keine Ahnung, wie viele. Wer sind die?«

»Ich weiß es nicht. Ich hatte nur einen Verdacht.« Der Stabschef atmete schwer. »Bevor ich Sie angerufen habe, hat mich die Metropolitan Police kontaktiert. Die Streife, die bei Black nach dem Rechten sehen sollte, ist in einer Explosion umgekommen. Das ganze Haus ist in die Luft geflogen!«

»Was? Gibt es …?«

»Nein«, unterbrach Patterson. »Noch keine Hinweise. Rettungskräfte sind vor Ort, die Spurensicherung ebenso. Bisher lässt sich nicht sagen, wer und ob überhaupt sich jemand in dem Haus befunden hat. Jed, ich hab hier ein Spezialteam mit einigen Leuten, die Sie kennen. Ich würde Ihnen gerne Verstärkung schicken, aber …«

»Aber?«

»Die sind für eine wichtige Mission im Auftrag der Präsidentin abkommandiert.«

»Schon gut. Können Sie mich mit etwas anderem unterstützen? Ich brauche Ressourcen und einen guten Computerspezialisten. Leider ist mir einer abhandengekommen, den ich jetzt wiederfinden muss.«

»Sie glauben, der Anschlag auf Blacks Haus wurde von denen durchgeführt, die Sentinel entführt haben, um Beweise zu vernichten?«

»Möglich. Wissen Sie, wo Sentinel sich die letzten Monate aufgehalten hat?«

»Nein«, sagte Patterson. »Darum hat sich Black gekümmert. Hatten Sie Kontakt zu ihr?«

Vigilante verneinte. Das letzte Mal, dass er Karma gesehen hatte, war in einem Ruheraum in Madame Dunoires Haus. Allerdings auch nicht persönlich, sondern nur auf einem Kamerabild. Dunoire hatte versichert, sie würde sich um Karmas Wohl kümmern, aber dass diese erst einmal Ruhe brauchte, um sich ausgiebig von ihrer Gefangenschaft im Koma zu erholen. Wie weit sie bis zum heutigen Zeitpunkt genesen war, vermochte er nicht zu sagen. Karma alias Sentinel hatte sich nie bei ihm gemeldet und er selbst war damit beschäftigt, unter dem Radar zu bleiben und vorzutäuschen, dass er in einem Hochsicherheitsgefängnis auf seine Verurteilung als Präsidentenmörder wartete. Eine Verurteilung, die nie stattfinden sollte, da Präsidentin Gainsborough ihn höchstselbst auf dem Weg zum Gefängnis befreien ließ. Da bei der Aktion auch Angreifer Acherons oder deren ehemaliger verlängerter Arm, die Nexus Initiative, beteiligt waren, bestand ebenfalls der Verdacht, dass Vigilante bei dem Scharmützel ums Leben gekommen oder in die Hände Acherons gefallen war. Welche der beiden Möglichkeiten die offiziell von der US-Regierung vertretene Variante war, hatte ihm nie jemand verraten.

»Okay … ich informiere die Präsidentin. Und ich schicke Ihnen eine Adresse, an die Sie sich wenden können. Sie erhalten dort jegliche Unterstützung, die Sie benötigen. Haben Sie Ihren Reisepass eingepackt?«

Hatte er nicht.

»Keine Sorge, wir kriegen das auch so hin.«

»Wohin geht es denn?«, fragte er neugierig nach.

»Nach Kanada, Jed.«

* * *

Vigilante warf Hawkes einen Blick zu, die mittlerweile aufrecht im Sitz saß und ihn verstohlen ansah, während er mit dem Stabschef des Weißen Hauses telefonierte.

»Ich hab die Schwester von Sentinel bei mir. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie Ziel des Angriffs war. Ist sie dort sicher?«

»Ja.«

»Gut, schicken Sie mir die Adresse. Und ich brauche eine Transportmöglichkeit.«

»Wird organisiert.«

»Ich schlage mich bis Stratton durch. Wäre gut, wenn wir etwa drei Meilen westlich davon eine Mitfahrgelegenheit bekommen.«

Patterson bestätigte. Dann beendeten sie das Gespräch.

Kurz darauf bekam Vigilante über SMS die Adresse ihres Ziels. Es lag im kanadischen New Brunswick, schätzungsweise 560 Meilen von ihrem jetzigen Standort entfernt.

»Und?«, fragte Hawkes neben ihm.

»Wir wandern aus«, sagte er knapp. »Ich bringe Sie in Sicherheit. Sobald wir dort sind, informieren Sie Ihren Arbeitgeber, dass Sie krank sind, nehmen aber sonst zu niemandem Kontakt auf. Ich verschaffe Ihnen eine sichere Leitung.«

»Ich habe keinen Arbeitgeber.«

»So?« Vigilante steuerte den Ford Ranger den enger werdenden Pfad hinunter. Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, doch von den Verfolgern war bisher nichts auszumachen. Er gab sich jedoch nicht der Illusion hin, sie endgültig abgehängt zu haben. Dafür wusste er zu wenig über sie, ihre Truppenstärke und ihre Logistik.

»Wie gesagt, ich bin E-Sportlerin und nehme an Turnieren teil, für die ich Geld bekomme. Nebenher trete ich in ein paar Schuppen auf und mache Musik, um meine monatliche Miete zu bezahlen.«

Er runzelte die Stirn. »So gar nicht die Schwester, oder? Ich dachte, Zwillinge wären sich sehr ähnlich.«

»In dem Punkt offenbar nicht. Unsere gemeinsame Vorliebe sind Computer. Während Karma mehr in die Tasten haut, haue ich lieber auf virtuelle Mitspieler.«

»Call of Duty

»Und Counter Strike

»Das Durchladen der Waffe haben Sie aber nicht aus einem Spiel, oder?«

Hawkes schüttelte den Kopf. »Ein Kumpel von mir ist Jäger und hat mich oft mitgenommen. Er hat mir so allerlei Tricks gezeigt. Und im Gegensatz zu meiner Schwester war ich bei den Pfadfindern.«

Vigilante legte den Kopf schief. »Und im Gegensatz zu Ihrer Schwester haben Sie den eingebürgerten Namen Ihrer Eltern angenommen.«

»Lassen Sie uns jetzt nicht damit anfangen.«

»Schon gut, geht mich ja auch nichts an.« Die Waldstrecke öffnete sich zu einer Lichtung, die bis zu dem vor ihnen liegenden See reichte. Dabei handelte es sich um die nördlichen Ausläufer des Somerset Reservoirs, des größten Binnengewässers in der Umgebung. Am Ufer befand sich ein kleiner Anlegesteg an dem ein Motorboot befestigt war: eine kleine Boston Whaler 160 Super Sport, etwas über fünf Meter lang, knapp zwei Meter breit mit einem 90 PS starken Außenborder, der das Boot immerhin auf über 37 Meilen pro Stunde beschleunigte.

Vigilante stoppte den Ford Ranger vor dem Steg, langte nach dem Rucksack mit den Waffen und sprang aus dem Wagen. Hawkes blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er eilte zum Steg, machte das Tau vom Poller los, sprang über die Kante des Boots, warf den Rucksack zwischen die beiden Sitze, bot Hawkes eine Hand an, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, und ließ sich dann auf dem Sessel des Steuermanns nieder. Die Version des Boston Whalers, die Vigilante sich gegönnt hatte, bestand nur aus einem zweisitzigen Arrangement sowie einer freien Sonnenfläche vorn am Bug, auf der bis zu vier weitere Personen Platz fanden, wenn sie auf Tuchfühlung gingen. Bisher war er nie mit jemand anderem mit dem Boot rausgefahren, und wenn er es sich offen eingestand, war aus seinem Vorhaben, öfter mal auf den See rauszufahren, kaum etwas geworden. Dreimal in den letzten vier Monaten hatte er das Boot genutzt.

Hawkes setzte sich neben ihn, während Vigilante den Außenbordmotor startete, der nach zwei Stotterpartien beim dritten Mal losröhrte. Er gab Schub und das Boot löste sich vom Steg und glitt langsam auf den See hinaus. Als sie die Anlegestelle hinter sich gelassen hatten, gab Vigilante vollen Schub. Der Motor heulte auf und das Boot nahm Fahrt auf. Kurze Zeit später erreichte das Boot seine Höchstgeschwindigkeit. Für Autofahrer mochten 37 Meilen die Stunde nicht schnell sein, aber auf Gewässer, trotz ruhigem Seegang auf dem Somerset Reservoir, war die Fahrt ein Auf und Ab und glich nicht minder der Querfeldeinfahrerei, die sie gerade mit dem Ranger hinter sich gebracht hatten.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Hawkes.

Vigilante steuerte das Sportboot nach Nordosten. Er musste keine Rücksicht auf Verkehr nehmen. Die meisten Kanuten und Ruderer hielten sich im südlichen Bereich des Sees auf und Sportfahrer mit kleinen Motorbooten wie Vigilantes verirrten sich eher am Wochenende in diese Region.

»Ist das was mit dem Motor?«

Vigilante hörte das Geräusch inzwischen auch. Ein tiefes Brummen mischte sich unter das Röhren des Außenborders und das Klatschen des Rumpfs auf Wasser. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er blickte nach oben und suchte auf einen Verdacht hin den Himmel ab. Dann sah er ihn: einen kleinen Punkt, der von Südosten schnell näher kam.

Vigilante presste die Lippen zusammen und rollte mit den Augen. »Echt jetzt?«

»Was denn?«

Er deutete auf den rasch größer werdenden Punkt am Himmel, aus dem sich jetzt die Konturen eines Jet Rangers schälten.

»Glauben Sie, die gehören dazu?«

»Wir werden es gleich wissen.« Er wollte noch mehr Schub auf den Motor geben, doch der Regler war bereits bis am Anschlag. Mehr war aus der kleinen Boston Whaler nicht herauszuholen.

Während sie über den See fegten, beobachtete Vigilante das Näherkommen des Hubschraubers. Eine zivile Maschine. Die Kennzeichen waren entfernt worden. Zu ihrem Glück sah er keine Waffenträger. Dafür stand allerdings eine Seitentür offen und darin hockte eine Gestalt mit unverkennbar einer Waffe in den Händen.

»Halten Sie den Kopf unten. Wenn ich es Ihnen sage, nehmen Sie das Steuer. Sie müssen nichts weiter tun, als das Boot geradeaus zu steuern.«

»Das sollte ich hinbekommen. Was haben Sie vor?«

Statt zu antworten, griff Vigilante in den Rucksack und zog die MP7 mit zwei zusätzlichen Magazinen hervor. Er vergewisserte sich, dass das im Schaft steckende mit Munition gefüllt war, schob es zurück in den Griff und lud die Waffe durch. Danach zog er die Schulterstütze aus, ließ sie einrasten und warf einen prüfenden Blick durch das auf der oberen Schiene montierte Rotpunktvisier.

»Okay, übernehmen Sie das Steuer.«

Sie wechselten die Plätze. Vigilante kletterte über den Steueraufbau nach vorn, kniete sich dort hin und legte einen Ellbogen auf die Reling auf. Das Boot holperte und wackelte zu stark, als dass er ruhig zielen konnte, aber ein ähnliches Problem würde auch der Schütze an Bord des Hubschraubers haben. Der Hubschrauber holte auf und ging parallel zu dem über das Wasser fegenden Boot in Position. Vigilante sah den Schützen anlegen. Das Gewehr war weder auf einem Stativ aufgestützt noch lang genug für eine Präzisionswaffe. Er konnte es nicht genau erkennen, ging aber davon aus, dass es sich um ein Sturmgewehr handelte. Zudem zielte der Schütze über Kimme und Korn.

Mündungsfeuer blitzte. Vigilante zuckte instinktiv zusammen, doch er sah weder Einschläge im Wasser noch hörte er welche im Bootsrumpf. Wie zu erwarten, sorgte der Aufwind über dem See für einen unruhigen Flug. Aber selbst ein ungeübter Schütze konnte einen Zufallstreffer landen oder sich einschießen. Vigilante spähte durch das Rotpunktvisier. Der kleine farbliche Fleck in der Zieloptik sprang wie wild auf und ab bei jeder Bewegung des Bootes und wollte nicht stillhalten. Wieder blitzte die Mündung des gegnerischen Gewehr auf. Wieder daneben.

Vigilante zog den Abzug zurück. Die MP7 ruckte in seiner Schulter hoch. Er verriss den Lauf und konnte nicht einmal ahnen, wohin der Feuerstoß gegangen war. Er legte den Schalter von Dauer- auf Einzelschuss und startete einen weiteren Anlauf. Der rote Punkt tanzte hoch und runter, nach links, nach rechts, aber zumindest blieb der Hubschrauber im Schussbereich. Vigilante feuerte. Er machte kurze Pausen zwischen den einzelnen Schüssen und sah, wie von vier Kugeln drei in den Rumpf des Helis einschlugen oder zumindest davon abprallten. Zur Antwort sah er wieder das Mündungsfeuer des Gegners. Diesmal hatte sein Angriff Erfolg. Eine Salve strich über den Bootsrumpf und stanzte daumendicke Löcher ins Material.

Plötzlich spürte Vigilante den Boden unter den Füßen verlieren, als der Boston Whaler abrupt abgebremst wurde. Rasch hielt er sich an der Reling fest und warf Hawkes einen Blick zu. Der Hubschrauber rauschte an ihnen vorbei.

»Worauf warten Sie?«, rief Hawkes.

Das Boot kam nicht wie ein Auto sofort zum Stillstand, sondern glitt weiter über die Oberfläche des Sees. Durch die Fahrt und Wasserverdrängung aufgewirbelte Wellen ließen es noch immer schwanken, aber insgesamt lag es ruhiger im Wasser als vorher bei hoher Fahrt. Vigilante nickte grimmig, drehte sich um und wandte sich dem Hubschrauber zu. Der Pilot hatte gewendet und ließ die Maschine jetzt seitwärts auf sein Ziel zufliegen, die offene Seitentür dem Boot zugewandt, damit der Schütze sie aufs Korn nehmen konnte.

Vigilante legte an, zielte sorgfältig und schoss, bevor der Mann im Helikopter die Chance hatte, es ihm gleichzutun. Durch das Schwanken des Bootes fand er noch immer keine ruhige Position. Einige Projektile verschwanden ins Leere, andere prallten gegen den Rumpf, trafen jedoch weder Schütze noch Pilot.

Der Gegner erwiderte das Feuer. Inzwischen blieb der Hubschrauber auf einer Stelle in der Luft hängen, was dem Mann mit dem Gewehr die Möglichkeit gab, viel besser zu zielen als Vigilante. Eine Salve jagte über Vigilantes Kopf hinweg und prasselte in den Steueraufbau des Boston Whalers. Hawkes schrie auf.

»Sind Sie verletzt?«

»Nein, verdammt! Holen Sie den endlich vom Himmel oder muss ich es tun?«

Beinahe hätte Vigilante gelacht. Er feuerte mehrmals schnell hintereinander. Jeder Schuss ein Treffer. Eine Kugel jagte durch die Pilotenkanzel, eine weitere gegen den Rotor, wieder eine in den Türrahmen und eine fand ihr Ziel tatsächlich in der Schulter des Schützen. Vigilante sah ihn zusammenzucken und drückte erneut den Abzug, doch der Schlagbolzen der Maschinenpistole hämmerte auf eine leere Kammer statt auf ein Zündplättchen. Vigilante drückte den Auslöser für die Magazinhalterung, zog die leere Stange aus dem Schaft und holte aus dem Rucksack eine Ersatzfüllung, die er in den Griff der Waffe rammte. Das Magazin war etwas länger als das vorherige und fasste 40 statt 30 Patronen. Vigilante zog den Fangschlitten zurück und beförderte das erste Projektil in die Kammer. Inzwischen hatte der Schütze sich wieder gefasst. Offenbar machte die Verletzung ihn nicht kampfunfähig. Er legte wieder an und schoss zurück.

Kugel um Kugel verließ die MP7, während der Bootsrumpf vor und zu beiden Seiten neben ihm von einschlagenden Geschossen aufplatzte und Vigilante die Kunststoffsplitter um die Ohren flogen. Es war nur noch eine Frage von Sekundenbruchteilen, bis die erste Kugel entweder ihn oder den Gegner erwischte.

Der Schütze wechselte das Magazin. Vigilante stellte den Wahlschalter auf Dauerfeuer, klemmte sich die Stütze der Waffe in die Schulter und presste sie fest dagegen. Er visierte den Mann im Hubschrauber durch die Optik an. Der rote Punkt bewegte sich nur minimal.

Vigilante hielt den Atem an.

Der Gegner hatte durchgeladen und legte an.

Dann spritzte ein Schwall Blut aus seinem Hals, obwohl Vigilante nicht einmal den Abzug betätigt hatte. Das Fauchen einer dritten Waffe ließ ihn herumfahren. Über das Steuer gelehnt, stand Eden Hawkes mit der Beretta Nano und schoss das gesamte Magazin der kleinen Pistole leer. Sie hatte nur mit dem ersten Treffer Erfolg, der aber völlig genügte, den Schützen außer Gefecht zu setzen. Vigilante sah, wie der Mann zur Seite kippte und sich eine Hand auf den Hals presste. Er schien etwas zu rufen, worauf der Pilot abdrehte, den Hubschrauber wieder auf den Kurs brachte, von dem sie angeflogen waren, und dann beschleunigte.

»Guter Treffer!«, lobte Vigilante. »Danke.«

»Scheint COD ja doch für etwas gut zu sein.« Sie lächelte unbeholfen, während Vigilante wieder über den Steueraufbau zurück in den Sitz am Ruder glitt. Er schob den Schubregler nach vorn. Der Motor brüllte, dann nahm das Sportboot wieder Fahrt auf.

»Übertreiben Sie es nicht.«

Der Boston Whaler pflügte über das Gewässer. Vigilante suchte auf der Fahrt zum Nordostufer des Somerset Reservoirs sowohl den Himmel als auch alle Seiten ab. Von weiteren Feinden war nichts zu sehen. Er hoffte, dass Patterson für einen raschen Abtransport sorgte, ehe ihnen noch weitere Gegner auf die Pelle rückten.

Das Vigilante-Komplott (Vigilante 4)

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