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VATER UND SOHN

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Die Stimmung hatte sich nach Wills Ansprache gelockert. Logis Wut war gedämmt und die allgemeine Trauer etwas verdaut. Der perfekte Zeitpunkt, um die nächsten Schritte zu planen. Wir entschieden uns, uns erstmal auf Fynns Terrasse niederzulassen. Die Stühle dort würden bequemer sein als die harten Steinbänke um den Springbrunnen. Außerdem gab es Essen und das hatten meine Gefährten und ich bitternotwendig. Unsere letzte Mahlzeit lag einen Tag zurück. Dementsprechend hungrig waren wir alle.

Mit Fynn und Logi an der Spitze streiften wir durch das Heckenlabyrinth. Es war eigenartig, den beiden gemeinsam, an ein und demselben Ort zu begegnen. Zwei mächtige Wesen, die mein Leben geprägt hatten. Ein jeder war auf seine Weise faszinierend. Ob die Zukunft noch mehr solcher Lehrer für mich parat haben wird?, ging es mir durch den Kopf.

Während die Gedanken ihre Kreise zogen, erinnerte ich mich wieder daran, dass Logi ja gar nicht alleine hierher gereist war. Mein Blick fiel daher auf den Weg, den wir zurückgelegt hatten. Und mir war, als ob ich an einer Biegung den Schatten des Phantomwolfes erkannt hatte.

Amalia war meinem Blick gefolgt. Sie brauchte sich nicht lange zusammenreimen, dass ich jetzt nichts lieber tun würde, als dem Wolf zu folgen. Und mit einer unauffälligen Geste forderte sie mich auf, diesem Verlangen nachzugeben.

Jetzt fiel mir auf, dass uns Logi beobachtet hatte. Obwohl ich nur einen kurzen Blick von ihm erhaschte, war sein Ausdruck aufschlussreicher, als er beabsichtigt hatte. Der Wächter hatte mich nur ein einziges Mal so merkwürdig angesehen. Damals hatte ich ihn nach meinem Vater gefragt.

Mir blieb die Luft im Halse stecken. Das konnte nicht wahr sein! Mein Vater? Hier? Ich starrte jetzt förmlich auf Logis Hinterkopf. Da mir dieser allerdings nicht mehr Bestätigung schenkte, seilte ich mich von der Gruppe ab. Ich flüsterte Amalia ein »Bis später« zu und machte kehrt.

Nie zuvor hatte ich solch ein Gefühl in der Magengegend. War es Aufregung? Wut? Ich konnte es nicht definieren. In über siebzig Jahren war ich meinem Vater nicht einmal begegnet. Onkel Aaron hatte ihn nur ein, zwei Mal erwähnt. Für mich hatte er nie existiert. Erst durch eine Vision hatte ich überhaupt seinen Namen erfahren: Aiden. Das war alles, was ich von ihm wusste.

Ich kam zur Biegung, doch von dem Wolf war nichts zu sehen. Dennoch führte mich eine innere Stimme weiter durch das Labyrinth. Es dauerte gar nicht lange, bis ich mein Ziel erreicht hatte: einen kleinen Teich, den ich nie zuvor gesehen hatte.

Der Phantomwolf stach mir sofort ins Auge. Er hatte sich in einem Blumenbeet zusammengekauert. Es weckte den Eindruck, als würde er schlafen. Allerdings hob er müde sein Auge, nachdem er mich hatte rascheln hören. Eine Sekunde später klappte es wieder zu und ließ sich nicht weiter von meinen Geräuschen stören.

Logis Begleiter saß etwas entfernt am Rande des Teiches. Er beobachtete einen Frosch, der seine Bahnen zog und am anderen Ende aufs Festland watete. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht und er wandte mir den Rücken zu. Selbst als ich direkt neben ihm zum Stillstand kam, rührte er keinen Finger. Stattdessen sagte er völlig belanglos: »Schön hier, findest du nicht, Sohn?«

Dieses letzte Wort schnürte mir den Brustkorb zu. Es bestätigte nur, was ich längst vermutet hatte. Und dennoch hatte ich das Gefühl, für diese Situation nicht vorbereitet zu sein. Zorn kochte in mir hoch. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«

Endlich drehte er seinen Kopf, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. Wir musterten uns eine ganze Weile stumm. Mein Vater hatte müde Augen, wie man sie meistens bei unglücklichen Menschen wiederfand. Das ließ ihn älter wirken, obwohl auch er durch sein Bluterbe deutlich langsamer alterte. Seine Haare waren kurz, zerzaust und angegraut. Von der schlanken Statur konnte man schließen, dass er kein Krieger, wie ich und sein Bruder Aaron, war.

Endlich zeigte sein Gesicht Regung, was viele Falten rund um die Augenpartie erzeugte. »Du siehst deinem Onkel zum Verwechseln ähnlich«, meinte er lächelnd.

Da hatte er allerdings recht. Ich glich Aaron mehr als ihm. Aber man konnte nicht leugnen, dass ich mich in einigen seiner Züge wiederfand.

Das Lächeln meines Vaters fiel in sich zusammen, da ich ihn weiterhin mit Missbilligung strafte. Und da er keine Antwort auf seine Anspielung erhalten hatte, fuhr er weiter fort: »Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Aaron nur mein Halbbruder war.«

Diese Aussage versetzte mir einen heftigen Stich. Sie zeigte, wie wenig ich über den Mann wusste, der mich großgezogen hatte.

Ich löste die vor der Brust verschränkten Arme und starrte mein Gegenüber ungläubig an. »Onkel Aaron und du wart nur Halbgeschwister?«

Vater nickte und lächelte erneut. Es schien ihn zu freuen, dass ich Interesse zeigte und nicht mehr so streng dreinblickte. Auch er wurde zunehmend lockerer. Er drehte jetzt den Rest seines Körpers zu mir und antwortete: »Ja, wir hatten unterschiedliche Mütter. Jedoch von unserem Vater erbten wir beide das Blut, das uns mit den Weltenwanderern verbindet.« Er deutete auf den Phantomwolf, der sich daraufhin reckte und uns ansah.

Obwohl ich meinem Vater zu diesem Zeitpunkt nur wenig abgewann, verpuffte der Zorn allmählich. Die Essenz des Baums des Feuers in mir wandelte diese Emotion in reine Energie um. Ich fühlte mich besser.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragte mein Vater und klopfte mit der flachen Hand auf den Boden.

Ich nickte und nahm neben ihm Platz. Aiden hatte seinen Blick wieder dem Teich zugewandt. Ich spürte, wie ihn das beruhigte. Er gab sogar einen sehnsüchtigen Seufzer von sich. »Dir gibt diese Ruhe ja scheinbar sehr viel«, sagte ich ihn beobachtend.

Er nickte geistesabwesend. »Du musst wissen, Sohn«, bei diesem Wort breitete sich ein komisches Gefühl in meiner Magengegend aus, »dort, wo ich lebe, gibt es keinen ruhigen und friedlichen Moment.«

»Wo lebst du denn?«, hakte ich nach.

Mein Vater warf mir einen müden Blick zu und urplötzlich empfand ich Mitleid mit diesem Mann. Es lag Trauer und Einsamkeit darin – anders als bei Logi.

»Ich lebe in einer Welt, in der es nur Wind und Sturm gibt«, sagte er matt. »Aus diesem Grund genieße ich jeden stillen Moment, der sich so selten ergibt.«

Wind und Sturm, wiederholte ich in Gedanken. Ich brauchte einige Sekunden, um mir aus diesen Worten einen Reim zu machen. Dann fiel mir ein, mit wem mein Vater hierher gereist war – Logi. Daraus ergab sich mir nur eine Schlussfolgerung: »Du bist ein Wächter?«

Vater schmunzelte angesichts meiner Empörung. Jedoch starrte er sich schnell wieder am Teich fest. »Dein Verstand ist scharf, John, eine gute Eigenschaft. Ich bin in der Tat ein Wächter und diene dem Baum des Windes. Dieses Erbe habe ich meiner Mutter zu verdanken. Nachdem sie, die letzte Wächterin des Windes, starb, musste ich ihren Platz einnehmen.«

Vater ließ sich rücklings in die Wiese fallen und starrte gedankenverloren in den Himmel. Ich tat es ihm gleich. Es war ein eigenartiges Gefühl, mit ihm so dazuliegen und die Sterne zu beobachten. Als kleiner Junge hatte ich dies oft stundenlang mit Onkel Aaron getan. Er erklärte mir viele Sternbilder und wie man sich an ihnen orientierte. Doch gerade jetzt hatte ich das Gefühl, von meinem Pfad abgekommen zu sein. War es Schicksal, dass ich Vater zu genau dieser Zeit begegnete?

Ich richtete mich wieder auf und studierte jeden seiner Gesichtszüge. »Du scheinst nicht sehr glücklich mit dem Erbe deiner Mutter zu sein.«

Aiden nickte langsam den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte widersprechen, aber das wäre gelogen. Du weißt von Logi, dass ein Wächter seinen Platz nur an jemanden übergeben kann, der seiner Blutlinie entspricht. Sie können spüren, wenn es allmählich Zeit wird, einen Nachfolger zu wählen. Meine Mutter tat dies ebenfalls. Sie reiste in diese Welt, um einen geeigneten Fortpflanzungspartner zu finden. Dann begegnete sie meinem Vater. Sie wollte unbedingt dessen Kind austragen, da sie von seiner Abstammung bezüglich der Weltenwanderer wusste.« Er neigte seinen Kopf, um seinen Seelenzwilling zu betrachten.

Ich folgte dem Blick. Der Phantomwolf hatte sich aufgerichtet und lauschte den Worten Aidens.

»Wieso wollte sie unbedingt dessen Kind als Nachfahren?«, fragte ich gierig, um mehr zu erfahren.

Mein Vater schloss die Augen und holte tief Luft. »Ist das nicht offensichtlich? Die Weltenwanderer sind mit den Bäumen der Elemente verbunden, ebenso wie die Wächter. Man müsste meinen, dass eine Vereinigung eine gute Sache wäre. Nur leider könnten Wächter und Hybridwesen, wie mein Vater einer war, nicht unterschiedlicher sein. Denn sowohl ein Weltenwanderer als auch dessen Seelenzwilling brauchen die Freiheit. Ein Wächter jedoch -«

»… ist in seiner Dimension eingesperrt und an den jeweiligen Baum gebunden«, beendete ich den Satz, was Vater mit einem Nicken bestätigte. Mein Mitgefühl für Aiden wuchs mit jeder Sekunde weiter. Der Gedanke einer solchen Gefangenschaft schnürte mir die Luft ab. Plötzlich wurde mir etwas schmerzlich bewusst. Wenn Vater ein Wächter war, stünde mir dann auch dieses Erbe bevor?

Aiden war meine Unruhe nicht entgangen. Er begab sich ebenfalls in eine sitzende Haltung und legte mir, wenngleich zögerlich, einen Arm um die Schultern. Seine Berührung erzeugte ein eigenartiges Kribbeln.

Zum ersten Mal sah ich ein aufrichtiges Lächeln in seinen Gesichtszügen. Ich erkannte darin sogar Onkel Aaron wider. »Sei unbesorgt, mein Sohn. Auf dir wird diese Verantwortung niemals lasten. Und, ob du es glaubst oder nicht, aber du bist das Ergebnis zweier Liebenden.« Er pfiff einmal kurz, woraufhin sich der riesige Phantomwolf zu uns begab. Seine bloße Anwesenheit wirbelte die Luft um uns herum auf. »Das ist Troj, mein Seelenzwilling«, erklärte mir Aiden. »Obwohl ich durch meine Pflicht als Wächter an den Baum des Windes gebunden bin, ermöglicht es mir mein Partner, in seltenen Fällen, diese Welt zu verlassen. Ein Privileg, welches kein anderer Wächter mit mir teilt. Darum habe ich auch Logi hierher gebracht. Er alleine ist dazu nicht imstande.«

Troj musterte mich jetzt eindringlich. Er besaß ähnliche Gesichtszüge wie mein Vater. Genau, wie es bei Nella und mir der Fall war.

»Immer wenn es die Situation erlaubt, reise ich mit Troj in den Welten umher. So konnte ich deinen Onkel ab und an besuchen. Ich genoss seine Gegenwart sehr, da er das verkörperte, wonach ich mich sehnte. Freiheit, Offenheit und Lebensfreude. Aaron hat mich immer wieder auf die schönen Dinge im Leben aufmerksam gemacht. So war auch er es, der mich deiner Mutter vorgestellt hat. Lilly!«

Vater gab mir einen Moment, um dies sacken zu lassen. Der Namen meiner Mutter entfachte ein Feuerwerk im Inneren. Warme Böen strömten aus allen Poren.

Aiden nahm seine Erzählung wieder auf. »Lilly und ich haben uns sofort ineinander verliebt. Aber ich wusste, dass in meinem Leben so etwas nicht vorgesehen war, und musste bald wieder abreisen. Doch jedes Mal, wenn es mich zurück verschlug, verbrachten wir unsere Zeit miteinander und ich genoss jeden Moment. Bei meinem vierten Besuch kündigte Lilly an, dass sie von mir schwanger sei und das Kind bald das Licht der Welt erblicken würde. Und dieses Kind war kein anderes als du, John.«

Im Nachhinein war ich froh, dass mir Onkel Aaron das verschwiegen hatte. Für mich war es wichtig, all dies von Aiden zu erfahren – meinem Vater. Er schaffte es, meine Meinung ihm gegenüber zu überdenken.

»Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr glücklich«, fuhr er fort. »Denn obwohl ich nicht für dich da sein könnte, hattest du eine liebevolle Mutter, die sich um dich kümmern würde. Doch als ich das nächste Mal zu Besuch kam, empfing mich nur Aaron. Er teilte mir mit, dass Lilly bei deiner Geburt verstorben war.«

Vaters Trauer spiegelte sich in seinen Augen wider. Vermutlich hatte er sie bis heute niemals vollständig überwunden. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sein Leben von Einsamkeit geprägt war. Dennoch erkannte ich hinter all der Traurigkeit Güte. Bei jedem Lächeln kam sie zum Vorschein. So auch jetzt: »Dein Onkel Aaron hat mir versichert, dass er sich um dich kümmern würde, und dies war mir ein ungeheurer Trost. Denn wenn jemand für dich da sein würde, dann er.«

Ich nicke verständnisvoll und umklammerte den Mondstein um meinen Hals. »Das war er, in der Tat. Onkel Aaron hat mich geliebt wie seinen eigenen Sohn.«

Vater beugte sich vor, um einen Blick auf das Amulett zu werfen. »Darf ich?«, bat er höflich.

Ich nahm es ab und legte es in seine geöffnete Hand.

Vater ließ es wie ein Pendel zwischen den Fingern baumeln. Sein Gesichtsausdruck war wie ausgetauscht. Als hätte er einen verlorenen Schatz wiedergefunden. Er musste ebenfalls die Energie seines Bruders darin erkennen.

Er gab mir das Amulett wieder zurück und strahlte mich jetzt regelrecht an und vertrieb dadurch sogar die Müdigkeit aus dem Gesicht. »Wusstest du, dass der Mondstein vom Wächter des Wassers erschaffen wurde?«

Ich sah ihn erstaunt an. »Nein, das wusste ich nicht.«

Aiden nickte. »Inspiriert von der Fähigkeit der Wächter, Energien in sich zu speichern, hat er zwei dieser Artefakte erschaffen. Den einen stellte er uns Wächtern zur Verfügung, den anderen überließ er seinem einstigen Volk, den Mondelfen.«

Vollkommen verblüfft legte ich mir den Mondstein wieder um. Ich hatte mir niemals Gedanken darüber gemacht, dass jemand diese mächtigen Gegenstände erschaffen haben musste. Da fiel mir auf, dass mein Vater von zwei Mondsteinen sprach. Und der andere war in Logis Besitz. Jener, der dafür gesorgt hatte, dass ich wieder geheilt worden war. Mein Onkel hatte in einer Vision erwähnt, dass er von seinem Bruder lernte, wie man den Mondstein mit der eigenen Energie versiegelt. Folglich war der Stein in Logis Höhle mit der Energie meines Vaters aufgeladen.

Es war der Punkt erreicht, an dem ich Aiden in den Arm nehmen musste. Nach all den Jahren erfuhr ich jetzt, dass Vater die ganze Zeit für mich da gewesen war – ein schönes Gefühl.

Nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten, erkannte ich, dass Aiden einen Teil seiner Trauer überwunden hatte. Für ihn war es bestimmt nicht leicht gewesen, seine Vaterrolle Aaron zu überlassen. Jetzt von mir akzeptiert zu werden, war für ihn bedeutsam.

In der letzten halben Stunde hatte ich mehr über mich selbst erfahren, als ich erhoffen konnte. Und doch würde das Kommende alles in den Schatten stellen.

»Es gibt noch etwas, was du wissen solltest«, sagte Aiden zögerlich. »Und ich finde es wichtig, dass du es von mir erfährst.« Er holte tief Luft. »Du hast eine Schwester!«

Ich dachte, mich verhört zu haben, und prüfte die Umgebung. Vielleicht sprach er ja zu jemand anderem, was natürlich unsinnig war. Aber ich konnte es nicht glauben und starrte ihn völlig verdattert an.

»Du hast schon richtig gehört, mein Sohn. Genau genommen ist es eine Halbschwester, der du laut Troj«, er sah kurz zu seinem Phantomwolf, »bereits begegnet bist. Du hast sie in die Welt der Weltenwanderer mitgebracht.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Denn jetzt war mir absolut klar, von wem er sprach. Außer Amalia gab es nur eine Person, die ich in jene Welt mitnahm. »Du sprichst von Sue? Der kleinen Sue?«, wiederholte ich mit Nachdruck. »Sie ist meine Halbschwester?«

Vater blickte jetzt ein wenig verlegen drein. »Ist es denn so abwegig, dass ich außer deiner Mutter noch anderen Frauen begegnete?«

Da hatte er natürlich vollkommen recht. Bei genauerer Überlegung war es töricht, zu glauben, er hätte in siebzig Jahren nie Kontakt zu anderen Frauen gehabt. Die Tatsache, dass ich sie kannte, ließ mich allerdings stutzen.

Meine Gedanken schweiften zu Charlotta, Sues Mutter. Was hat sie an sich, dass Vater sie auswählte?, ging es mir durch den Kopf. Ohne Zweifel, sie war hübsch, das konnte ich nicht leugnen. Allerdings war sie auch sehr schüchtern und lebte in Einsamkeit. Vielleicht war das der entscheidende Punkt, warum sie sich zueinander hingezogen fühlten.

Während ich so darüber nachdachte, kam mir plötzlich in den Sinn, dass mir Charlotta einst einen Rucksack schenkte, der laut ihrer Aussage Sues Vater gehört hatte. Folglich war die ganze Zeit ein Gegenstand von ihm in meinem Besitz. Na ja, zumindest so lange, bis ich in das Portal des Ahrmonen gesogen worden war. Dies hatte er leider nicht überstanden.

Jetzt schweiften meine Gedanken zu Sue und ich bekam Sorgen: »Wenn ich nicht dafür bestimmt bin, dein Erbe als Wächter anzutreten, fällt diese Verantwortung auf Sue?«

Offensichtlich hatte Aiden mit dieser Frage gerechnet. Er sah mich gütig an und sagte beruhigend: »Ich kann dir versichern, dass auch Sue nicht dieses Schicksal haben wird. Selbst wenn ich es wollen würde, könnte es weder sie noch dich treffen. Denn dein Weltenwanderer dient dem Baum des Feuers und Sues dem Baum der Erde. Es ist also ausgeschlossen, unter diesen Umstände ein Wächter des Windes zu werden. Wenn es irgendwann soweit ist, mein Erbe abzugeben, dann an ein Kind, das das Blut der Weltenwanderer nicht in sich trägt. Es ist durchaus möglich, dass es nicht weitervererbt wird.«

Tatsächlich beruhigte mich das enorm. Dieses Schicksal hätte ich niemandem gewünscht. Schon gar nicht der kleinen Sue, die mir inzwischen ans Herz gewachsen war.

Die Linien, die meinen Körper zierten, begannen sanft zu knistern. Anfangs dachte ich, dass etwas nicht stimmte. Jedoch kündigte es lediglich Logi an. Durch den Baum des Feuers waren wir miteinander verbunden und mein Gespür für dieses Element wurde immer feiner.

Kaum war der Wächter hinter einer Biegung hervorgetreten, meinte mein Vater: »Wie es aussieht, müssen wir allmählich wieder aufbrechen. Logi kann seine Welt nämlich nicht sehr lange verlassen. Das Feuer bedarf von allen Elementen die meiste Kontrolle.«

Ich nahm ihn ein letztes Mal in den Arm. Es war ein befreiendes Gefühl, denn endlich konnte ich meinem Vater verzeihen. Mehr noch, ich empfand eine tiefe Verbundenheit und würde ihn vermissen. »Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Vater. Ich bin dankbar, all diese Dinge von dir erfahren zu haben.«

Logi gewährte uns Raum für den Abschied und wartete bei Troj. Überraschenderweise lächelte er, als wir uns zu ihm gesellten. »Wie ich sehe, hatte euer Treffen eine reinigende Wirkung. Das ist gut, es wird dir bei deiner weiteren Entwicklung helfen. Der Magier hat alle notwendigen Informationen. Nun ist es an euch, die Ahrmonen aufzuhalten.« Mit einer Agilität, die ich ihm nicht zugetraut hätte, schwang sich Logi auf Troj.

Mein Vater tat es ihm gleich. Kurz darauf spannten sich die Oberschenkel des Phantomwolfs an, woraufhin sich die Windböen um ihn verstärkten.

Bevor die drei verschwanden, rief ich Vater zu: »Irgendwann komme ich dich mit Nella und Sue besuchen!«

Troj setzte sich in Bewegung. Und im Gegensatz zu Nella, die eine Feuersäule erzeugte, entstand ein Orkan. Eine Sekunde später war alles vorbei und ich stand alleine vor dem aufgewühlten Teich.

Fünf Minuten später erreichte ich die Terrasse. Dort herrschte bitterernste Stimmung zwischen meinen Gefährten. Ich hatte natürlich nichts anderes erwartet, unsere Ausgangslage war nicht vielversprechend. Und trotzdem fühlte ich mich beflügelt und schien hier fehl am Platz.

Amalia schenkte mir ein Lächeln. Dieses verstärkte meine gute Laune. Ich hätte gerne etwas Zeit mit ihr alleine verbracht – ihr alles über das Erlebnis mit Vater erzählt. Aber das würde warten müssen, denn die anderen bemerkten mich. Mit Ausnahme von Nicolae, hatten sie an einem Tisch Platz genommen. Der Vampir lehnte lässig etwas abseits an einer Säule und beobachtete das Geschehen.

Will verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und meinte vorwurfsvoll: »Du hast ja vielleicht Nerven, John! Dich so ohne weiteres abzuseilen, während wir die wichtigste Diskussion unseres Lebens hatten. Uns einfach mit diesen verrückten Wächter alleine lassen, pft!« Die letzte Bemerkung sprach er mehr zu sich selbst.

Ich konnte nicht umher, mir ein Grinsen zu verkneifen. Wills Neigung zur Dramatik sorgte oftmals für allgemeine Belustigung. Ich setzte mich zwischen ihn und Amalia.

Mir gegenüber saß Fynn. Der Magier musste meine Gedanken gelesen haben. Er lächelte mit derselben Tiefe, die ich immer so bewunderte, und sagte zwinkernd: »Ich denke, John tat dies aus gutem Grund, und der war ebenso wichtig, Will. Wenngleich auf einer anderen Ebene.«

Will sah verwirrt aus, tat dies aber dann mit einem Achselzucken ab. Er schob mir einen Teller zu. »Iss etwas, John. Du kannst eine anständige Mahlzeit vertragen.«

Dem war nichts entgegenzusetzen. Ich stürzte mich auf das Essen. Obwohl es ein recht einfaches Mahl war, breitete sich ein wohliges Gefühl in meinem Inneren aus. Ich war vollkommen ausgehungert.

Während ich das Essen gierig in mich hineinschlang, ergriff Fynn wieder das Wort: »Es gibt einige Dinge zu besprechen. Doch vorher sollten wir Euch, John, auf den aktuellen Stand bringen. Laut der Aussage von Logi wurde der dunkle Magier Ragun noch nicht wiederbelebt.«

Ich verschluckte mich an einer Dattel, woraufhin Will mir hysterisch auf den Rücken klopfte. Das waren gute Nachrichten, mit denen ich nicht gerechnet hatte. So, wie Logi über uns hergefallen war, hätte man meinen können, dass die Welt bereits von Ragun vernichtet wurde.

Ich lehnte mich seufzend zurück und legte die Hände auf den Bauch. »Wie kommt Logi zu dieser Behauptung?«, fragte ich den Magier. »Woher hat er diese Information?«

Fynn musterte mich mit nachdenklichen Blick. Dennoch spiegelte sich Zuversicht in seinen Augen. Er hatte seine Trauer beiseitegelegt und strahlte wieder diese beeindruckende Ruhe aus, die ich so bewunderte.

»Nun«, begann der Magier mit bedachten Worten, »Logis Aussage beruht mehr auf einer Vermutung. Aber diese klang äußerst schlüssig. Wir dachten, dass die Ahrmonen die ganze Aktion schon lange geplant hatten und somit das Ritual vorbereiten konnten. Doch Logi versicherte uns, dass Abby sich nur einmal mit dem Baum des Feuers verbunden hatte. Und dies geschah kurz bevor der Angriff gegen Quellbrunn inszeniert wurde. Die Ahrmonen konnten vor diesem Zeitpunkt gar nichts von Abby wissen. Sie haben lediglich schnell gehandelt und uns überrumpelt.«

Das überzeugte auch mich. Logi hatte mit Abstand das beste Gespür für den Baum des Feuers. Dennoch gab es eine Frage, die mir den Kopf zerbrach: »Wie viel Zeit wird es die Ahrmonen kosten, dieses Ritual vorzubereiten?«

Fynns freundliche Miene fiel in sich zusammen. Auch er schien sich diese Frage gestellt zu haben. Er verschränkte nachdenklich seine Arme. »So genau kann ich das leider nicht sagen. Rituale gehörten noch nie zu meinen Stärken. Doch ich bin mir sicher, dass die Ahrmonen ein paar Tage mit der Vorbereitung beschäftigt sein werden. Wiederbelebungen sind die aufwändigsten Rituale und man darf keinen einzigen Fehler dabei machen.«

»Das ist ja großartig!«, jubelte Will. »Zeit genug, um diese Bastarde an ihrem Vorhaben zu hindern.« Daraufhin erntete er einen Schlag gegen den Hinterkopf. Der Zwerg wandte sich hastig um und sah Nicolae hinter sich. »Hast du sie noch alle, Spitzzahn?«

Der Vampir verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein paar Tage sind nichts, wenn wir keine Ahnung haben, wo die Ahrmonen das Ritual durchführen wollen, du Trottel!«

Will grummelte und fixierte den Vampir bitterböse. Er wollte darauf etwas erwidern, doch Fynn ging dazwischen. »Nun ja, so ganz stimmt das nicht«, teilte er uns mit. »Ich bin mir sogar ziemlich sicher, wo sie das Ritual durchführen werden. Genauer gesagt kommt für sie nur ein Ort infrage.«

Voller Neugierde fixierten wir den Magier. Selbst Will hatte vergessen, wütend auf Nicolae zu sein.

»Das Ritual kann nur an jenem Ort durchgeführt werden, wo der dunkle Magier begraben wurde. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wo genau sich diese Ruhestätte befindet. Lediglich, dass es irgendwo auf dem westlichen Kontinent versteckt liegt.«

Mir entfuhr es einen Seufzer. Wie sollen wir sie jemals rechtzeitig finden, ging es mir durch den Kopf. Den gesamten westlichen Kontinent in nur ein paar Tagen abzusuchen war unmöglich.

»Kann man die Suche wenigstens eingrenzen?«, fragte Amalia hoffnungsvoll.

Fynn verschränkte nachdenklich seine Arme. In dieser Haltung verharrte er eine ganze Weile. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen. Denn er tippte nervös mit dem Finger gegen seinen Oberarm. Endlich besann er sich wieder und brach das Schweigen: »Im Magiertempel gab es Aufzeichnungen über den Kampf gegen Ragun.«

»Na, dann nichts wie hin!«, forderte uns Will auf und war bereits aufgesprungen.

Doch Fynn gebot dem Zwerg mit einer Geste, sich wieder zu setzen. »Der Tempel ist nur noch eine Ruine. Vermutlich sind auch die Aufzeichnungen vernichtet. Außerdem«, er holte tief Luft, »seit der Tempel von den Ahrmonen zerstört wurde, bin ich dorthin nie mehr zurückgekehrt. Es fällt mir schwer, meine einstige Heimat erneut in Trümmern stehen zu sehen.«

Die Stimmung war gekippt. Und das zurecht – Amalia und Will hatten ein ähnliches Schicksal erlebt. Ihre Heimaten waren ebenfalls zerstört worden. Auch Nicolae und ich verloren geliebte Menschen – das Werk der Ahrmonen.

Fynn erhob sich vom Stuhl und sah abwesend in die Ferne. »Die Chancen sind gering, doch einen Versuch ist es wert. Mit etwas Glück sind nicht alle Aufzeichnungen zerstört. Ansonsten steht es schlecht um Abby und die Welt.«

»Na fein«, sagte Nicolae wenig euphorisch. »Und wo ist dieser Magiertempel?«

Fynn wandte seinen Blick zum Vampir. »Er befindet sich ebenfalls auf dem westlichen Kontinent.«

»Wie bitte?«, stöhnte Amalia auf. »Eine Reise dorthin würde Wochen dauern. Selbst mit einem Pferd kämen wir nur etwas schneller voran.«

Zum ersten Mal zeichnete sich auf Fynns Gesicht wieder ein Lächeln ab. Er erhob demonstrativ den Arm und ließ seine Magie zwischen den Fingern knistern. »Wenn wir ein Portal benutzen, sind wir im Bruchteil einer Sekunde dort.«

Das beruhigte die Elfe keinesfalls. Sie fürchtete Portale, seit sie durch ein Missgeschick in die Welt der Ahrmonen geschickt wurde. Doch nicht nur sie hielt diesen Vorschlag für riskant. Will fröstelte ebenfalls bei der Vorstellung. Er beäugte Magie stets skeptisch. Auch Nicolae verzog grimmig sein Gesicht.

Fynn schien sich keiner Gefahr bewusst. Dennoch zeigte er Verständnis für unsere Reaktionen. »Natürlich sind eure Sorgen durchaus begründet«, meinte er nachvollziehend, »doch ich kann euch versichern, dass uns das Portal sicher zum Magiertempel bringen wird.«

»Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?«, fragte Amalie.

Fynn verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und schloss die Augen, als versuche er, sich zu konzentrieren. »Im Tempel gibt es noch immer einen kleinen Rest an Magie. Es ist eine reine Energiequelle, die ich nutzen kann, um ein stabiles Portal zu erschaffen.« Nachdem Amalia noch immer nicht überzeugt aussah, fügte er hinzu: »Glaubt mir, ich würde diese Option nicht in Betracht ziehen, wenn ich mir nicht sicher wäre.«

Jetzt, da wir ein Ziel vor Augen hatten, bestand wieder Hoffnung. Will war erneut aufgesprungen und richtete seine Axt gen Westen. »Worauf warten wir noch, lasst uns aufbrechen.«

Nicolae schüttelte nur spöttisch den Kopf, erwiderte jedoch nichts.

Fynn wandte sich jetzt seinem Garten zu. »Ich beginne gleich, mich auf die Energie der Magie des Tempels zu konzentrieren. Es wird eine knappe Stunde dauern, um ein stabiles Portal in dieser Distanz zu schaffen. Ihr könnt derweil unsere Vorräte auffüllen. Wer weiß, wie lange wir fort sein werden.«

»Wir?«, fragte ich an den Magier gewandt. »Soll das etwa heißen, dass Ihr uns begleiten werdet?«

Fynn nickte. »Ich sehe keinen Grund, noch länger über den Flüsterwald zu wachen. Außerdem bin ich mir sicher, dass die Ahrmonen den Ritualplatz mit starken Bannen belegen werden, die es zu neutralisieren gilt. Da kann die Hilfe eines Magiers durchaus von Vorteil sein, bei aller Bescheidenheit«, fügte er lächelnd hinzu. »Und da ich mich Eurer Gemeinschaft anschließe, finde ich, dass wir die höfliche Anrede nun beiseite lassen können. Wir ziehen alle am selben Strang!«

John Armis

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