Читать книгу Bischof Reinhold Stecher - Martin Kolozs - Страница 5

KAPITEL 1 ___ „Mein kleines Paradies der Kindheit“ 4 Aus den Wurzeln leben

Оглавление

Oft hat Bischof Reinhold Stecher den Baum als Sinnbild beschrieben und auf die entsprechenden Stellen in der Bibel verwiesen: „Eines hat der Herr vom Baum wie vom Weinstock betont: dass die Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit bildet, dass sich alles aus einem Stamm verzweigt, und sein Leben aus Wurzeln erhält, die in der Tiefe verborgen liegen.“5

Im Leben von Reinhold Stecher war mit Gewissheit die eigene Familie eine dieser kraftspendenden Wurzeln, welche ihm ebenso Halt und Sicherheit in seinen Kindheitstagen gab, wie sie auch eine Inspirationsquelle in den späteren Jahren seines vielfachen Wirkens geblieben ist.

Vor allem seine Mutter Rosa (geb. Harpf), eine Bäckerstochter aus Innsbruck-Wilten, wusste, wie mit dem manchmal recht ungestümen Reinhold umzugehen war, und hatte im richtigen Moment stets das passende Wort der Ermahnung parat – eine Notwendigkeit, war der kleine Bub doch der Zweitgeborene von insgesamt drei einander ziemlich ähnlichen Brüdern, die untereinander ebenso rauften wie mit den Kindern der Nachbarschaft und die wohl ihre Grenzen nach allen Richtungen hin ausgetestet haben. „Wenn ich den kleinen Zornbinggl in die Ecke gestellt und nach einiger Zeit gefragt hab, ob er wieder raus möchte“, erzählte Rosa Stecher bei mancher Gelegenheit, „war die dickschädlige Antwort meistens: ‚Noch nicht!‘“, womit nicht nur eine launige Anekdote aus Kindheitstagen wiedergegeben war, sondern auch ein markanter Charakterzug von Reinhold Stecher aufgezeigt wurde, den Freunde von ihm „als durchaus ernst zu nehmende Lebensenergie, fallweise wohl auch als Hindernis, wo sich Trotz dazumischt“,6 beschrieben haben.


Ansicht von Mühlau, 1920er-Jahre

Der Vater, Heinz Stecher, entstammte einer Südtiroler Bergbauernfamilie aus St. Valentin auf der Haide7 und war Landesschulinspektor mit einer Kanzlei in der Innsbrucker Hofburg geworden. Zudem galt er als ein leidenschaftlicher Germanist, der zu Hause eine große Bibliothek eingerichtet hatte und dadurch vor allem die musische Erziehung seiner Söhne vorantrieb: „So wurde das Lesen in meiner Kinder- und Gymnasialzeit zu einer wichtigen Beschäftigung“8, erinnerte Reinhold Stecher sich noch später. Auch gemeinsame Gesangsabende und Theateraufführungen fanden im Hause Engergasse 108 (heute: Anton-Rauch-Straße 33) in Mühlau9 /10 regelmäßig statt: „Das Haus hat mein Großvater 1908 gebaut, und wir haben ebenerdig gewohnt. Da vorne im Erker wurde ich am 22. Dezember 1921 geboren. Im ersten Stock war die Familie Diesner, und die Gerhild Diesner wurde die später berühmte Malerin. Wir haben miteinander gespielt.“11

In Mühlau, das erst 1938 im Zuge der Bildung von Großgemeinden unter der NS-Herrschaft der Stadt Innsbruck eingemeindet wurde, verbrachte Reinhold Stecher die ersten zwölf Lebensjahre – hier ging er in den Kindergarten und spielte auf dem Dorfplatz, der damals noch keinen modernen Umbau hatte: „Es war überall viel Natur, von den weiten Innauen hinauf über die Hügel zu den schlafenden Wäldern am Eingang der Mühlauer Klamm, wo wir als Kinder auf der Teufelskanzel, die dort herausragt, herumgeklettert sind.“12

Bereits mit fünf Jahren kam Reinhold Stecher in die Volksschule in der Fallmerayerstraße 7 nach Innsbruck, deren Besuch ihn auf wenigstens zwei Arten nachhaltig prägte: „Als der erste Schulbesuch näher rückte, kam es zu folgender kleinen Episode, an die ich mich noch so oft erinnern sollte. … Die Mutter sagte zu mir: ‚Du kommst jetzt in die Schule. Und du wirst in deiner Klasse eine Menge Schulkameraden haben, die einen etwas anderen Glauben haben als wir. Aber merk dir eines: Man darf nie etwas sagen, was den anderen wehtut. …‘ Wenn man mich heute fragen wollte, welche Erfahrungen in meinem Leben am meisten Einfluss zu Gunsten einer Haltung der Toleranz gehabt hätten, käme mir vieles in den Sinn: Persönlichkeiten mit einer Weite des Geistes, Bücher und theologische Vorlesungen, abstoßende Negativbeispiele von Intoleranz, primitive Vorurteile mit historisch verheerenden Folgen, die leuchtende Gestalt eines gütigen Papstes wie Johannes XXIII. – aber ich glaube, dass nichts so wichtig war wie dieses kleine Wort an einen Fünfjährigen. … Für mich ist dieses unvergessliche Wort meiner Mutter ein Hinweis, dass jede echte Toleranz (und jede echte Gläubigkeit) eigentlich mit dem beginnt, was man Herzensbildung nennt, mit einem Fühlen für andere, einem Gespür für Rücksichtsvolles und Verletzendes. Wenn diese emotionale Grundlegung nicht da ist, nützt unter Umständen ein noch so intensiver intellektueller Überbau nicht viel.“13

Einen zumindest ebenso tiefen Eindruck machte die dortige Begegnung mit dem später seliggesprochenen Märtyrerpfarrer Otto Neururer, der Anton Müller, den man seinerzeit besser als Schriftsteller Bruder Willram kannte, als Katechet an der Volksschule nachgefolgt war: „Er hatte mich als Sechsjähriger zur Erstkommunion geführt“, erzählte Reinhold Stecher immer wieder in seinen Büchern. „Ich hatte ihn im Religionsunterricht zur Vorbereitung auf die Erstkommunion. Mir ist vom damaligen Religionsunterricht nicht viel in Erinnerung geblieben. Aber eines vergesse ich nie mehr. Er hat uns die heilige Wandlung in der Messe erklärt. Man hat einfach gespürt, dass er selbst ganz ergriffen war. ‚Kinder‘, hat er gesagt, ‚vor der heiligen Wandlung wird alles still, ganz still. Da singt niemand mehr und die Orgel hört auf zu spielen, nur im Turm droben beginnt eine einsame Glocke zu läuten. Und in dieses Schweigen hinein kommt Jesus. …‘“14

Diese lebendige Begeisterung für die Gestalt Jesus Christus ist auf Reinhold Stecher wie ein Funke übergesprungen und hat über die folgenden Jahrzehnte an Kraft und Gestalt zugenommen: Beginnend mit dem schlichten Kirchenlied „Jesus, dir leb’ ich/​Jesus, dir sterb’ ich/​Jesus, dein bin ich/​im Leben und im Tod … “, das Otto Neururer ihm als Volksschüler beigebracht hatte, über seine frühe Verehrung des heiligen Franz von Assisi, der selbst nach dem Vorbild Jesu lebte und mit dem Stecher zeitlebens die Verbundenheit zur Natur teilte, sowie seine spätere Faszination für die jesuitische Tradition, die ihn als Student erstmals gefangen nahm und deren tragende Christozentrik ihm im Collegium Canisianum vorgelebt worden war, bis zu seinem eigenen Bekenntnissen in Büchern und zahllosen Predigten. „Man kann sich als Christ nie genug mit Christus befassen. … Ein Christ sein – das heißt, von Christus erfasst sein, an Ihn glauben, nach ihm sich entscheiden und mit ihm im Leben stehen, von Ihm begeistert sein, allerdings ohne große Phrase. … Er hat gesagt, dass Er der Weg sei. Das heißt, dass wir auf ihn persönlich angewiesen sind. Wir müssen auf Ihn vertrauen, auf Ihn schauen, mit ihm verbunden sein. Christ sein heißt, nicht nur eine Lehre annehmen, Gebote und Gesetze für richtig und weise halten, Christ sein heißt, mit Christus verbunden sein – natürlich, ihn auch zum Vor bild nehmen. Er muss mich am Seil haben, ich muss mich ihm anvertrauen, auch wenn es hinauf ins Unbekannte geht. [Wir] wissen, wie sich das persönliche Vertrauen zu Ihm ausdrückt: im tiefen gläubigen Gebet. [Wir] wissen, wo [wir] auf Ihn schauen: in der Schrift, im Wort Gottes. [Wir] wissen, wie wir mit Ihm verbunden bleiben: im Sakrament.“15

Überhaupt waren der christliche Glaube und dessen Ausübung zwei wesentliche Bestandteile des alltäglichen Lebens von Familie Stecher. So gehörte in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft bei der „Katholischen Jugend“ ebenso selbstverständlich dazu wie das gemeinsame Tischgebet oder der Ministrantendienst der drei Brüder Helmut, Reinhold und Gottfried in der Innsbrucker Altstadt: „Wir haben jeden Wochentag um 6 Uhr morgens und sonntags um 7 Uhr in der Hofkirche ministriert, aber alles freiwillig.“16

Diese Freiwilligkeit war wohl auch ein Grund dafür, dass sich der Glaube bei Reinhold Stecher und seinen beiden Brüdern in Kindheit und Jugend voll entfalten und entwickeln konnte und dadurch an Weite der Einsicht und Tiefe der Frömmigkeit gewann, wodurch sich ganz natürlich Werte der Menschlichkeit verfestigten und damit ein Rucksack geschnürt werden konnte, der für den langen Lebensweg die Nahrung für Geist und Seele barg. Wie gefestigt und ehrlich dieser Glaube schon in frühen Jahren gewesen sein muss, zeigte sich vor allem während des ersten schweren Schicksalsschlags, welchen der kleine Reinhold zu verwinden hatte, als sein Vater 1928 plötzlich starb und seine Familie in erheblicher finanzieller Enge zurückließ, da er es verabsäumt hatte, seine eigene Gehaltserhöhung als Schulinspektor zu beantragen, weswegen auch die Witwenpension sehr klein ausfiel. Zudem hatte Rosa Stecher, eine als äußerst friedliebend geltende Frau, auf den Großteil ihres eigenen Familienerbteils verzichtet,17 was die Situation noch zusätzlich verschärfte und 1933 wahrscheinlich den Umzug aus dem Haus in Mühlau nach Innsbruck, in die Adamgasse 17, in eine kleinere Wohnung unausweichlich machte.


Die Brüder Gottfried, Reinhold und Helmut Stecher (von links nach rechts), um 1939

Reinhold Stecher seinerseits tat als junger Gymnasiast damals sein Möglichstes, um die erschwerten Umstände erträglicher zu gestalten: „Ich war in der Schule ziemlich brav, einschließlich guter Noten. Aber das hatte weniger mit hoch entwickelten Tugenden zu tun als mit unserer Situation, das heißt der Situation meiner Mutter. Sie war mit 37 Jahren [sic!] Witwe geworden und bezog für sich und uns drei Kinder eine sehr kleine Pension. Da ich schon der Zweite war, der aufs Gymnasium ging, hieß es sparen. Ich musste unbedingt ein Stipendium zu ergattern versuchen. Es gelang auch. Es betrug ganze 50 Schilling pro Jahr. Für dieses Stipendium, das im Herbst bei den Anschaffungen viel bedeutete, musste man in der Betragensnote eine Eins und ein Vorzugszeugnis haben. Dasselbe galt unter denselben Voraussetzungen für die Schulgeldermäßigung, die pro Semester von 56 Schilling auf 5 Schilling herunterging.“18 Schließlich besuchte er von 1931 bis 1938 das Innsbrucker Gymnasium in der Angerzellgasse 14, wo sich heute das Akademische Gymnasium befindet, und legte dort am 23. März 1938 seine Matura ab – nur zehn Tage nach der De-facto-Annexion Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich.

Noch bis an sein Lebensende sollte sich Reinhold Stecher an die Worte seines ehemaligen Geschichtelehrers Dr. Alois Böhm erinnern, der den bevorstehenden Zusammenbruch Österreichs und dessen Aufgehen im „Altreich“ am Ende einer Unterrichtsstunde kritisch kommentierte: „In diesen Tagen entscheidet sich, ob Österreich unabhängig bleibt oder nicht. Wenn es nicht unabhängig bleibt, prophezeie ich Folgendes: Dann gibt es in Mitteleuropa eine Machtzusammenballung, die sich die anderen auf Dauer nicht gefallen lassen werden. Wir werden innerhalb von zwei Jahren einen zweiten Weltkrieg haben. Den werden wir genauso verlieren wie den ersten.“19

Wie recht der Historiker damit behalten sollte und wie schrecklich die Konsequenzen daraus für Abermillionen unschuldiger Menschen auf der ganzen Welt sein würden, konnte Reinhold Stecher damals freilich nur erahnen. In einem konnte er sich hingegen von Haus aus völlig sicher sein: „Mit dem 13. März 1938 wurde jeder, der nicht mitmarschierte, ein Staatsbürger dritter Klasse. Und wir konnten, im Glauben von Elternhaus und Jugendbewegung geprägt, nicht mitmarschieren. Wir haben auch nie daran geglaubt, dass es zwischen Christentum und Nationalsozialismus je einen Kompromiss geben konnte.“20 /21

Bischof Reinhold Stecher

Подняться наверх