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KAPITEL 2 ___ „Nur apokalyptischer Schrecken“ 22 Nationalsozialismus in Tirol und der Zweite Weltkrieg
ОглавлениеDrei Tage nach seiner Matura wurde Reinhold Stecher zum „Reichsarbeitsdienst“ eingezogen, eine dem Wehrdienst vorangehende Arbeitspflicht, die im nationalsozialistischen Deutschen Reich seit Juni 1935 jeder junge Mann und ab Beginn des Zweiten Weltkrieges auch jede junge Frau zu absolvieren hatte: „Man nannte dieses erdbraune, mit blinkenden Spaten exerzierende Heer hochtrabend die ‚Schule der Nation‘. Ich war siebzehn Jahre alt und ging neun Monate23 durch diese Schule, die im Wesentlichen darin bestand, mit Schleiferei und Drill das Denken möglichst auszuschalten. Alles eigene Denken wurde mit ‚Stillgestanden!‘, ‚Marsch-Marsch!‘, Spatengriffen, Paradeschrittklopfen und Liedergebrüll, mit Bettenbau und Stiefelkult, mit Schinderei bei der Schwerarbeit der Entsumpfung [des Gebiets um Ehrenwald] und Herumjagen auf dem Exerzierplatz bis zum Todmüdewerden [abgetötet]. Man schluckt die Sprüche und die Propaganda wie die undefinierbaren Bestandteile des Eintopfs. Irgendetwas bleibt bei den meisten weit unter der Bewusstseinsschwelle hängen. Für uns gab es eine einzige Abwehrkraft gegen diesen Wahnsinn: den Glauben. Er hatte auf einmal einen ganz anderen Stellenwert als in der Kinder- und Jugendzeit, die auf einmal so weit weg war wie ein fernes Märchen.“24
Die Erfahrung, von einem zutiefst unmenschlichen System verpflichtet und auf eine gänzlich wesensfremde Ideologie eingeschworen zu werden,25 ließ in Reinhold Stecher, der eigentlich in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters treten und Germanistik studieren wollte, den Entschluss reifen, auf Theologie umzusteigen: „Da hat das Erlebnis des Nationalsozialismus mitgespielt.“ So trat er gleich nach seiner Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst im Jahr 1939 ins Priesterseminar in St. Michael am Brenner ein, wohin es der erst kurz zuvor eingesetzte Bischof Paulus Rusch verlegt hatte. An der ursprünglichen Heimstatt in Innsbruck war die theologische Ausbildung von den Nationalsozialisten erheblich behindert worden, wie auch schon unter ihrem Druck das erste Ausweichquartier in der Gemeinde Volders aufgegeben werden musste. Allerdings dauerte es nicht lange und die Gestapo vertrieb die jungen Theologen auch aus dem Wipptal, weswegen Reinhold Stecher und seine Kommilitonen schließlich ihr Studium in St. Georgen am Längsee in Kärnten fortsetzten.
Diese ständigen Repressionen gingen nachweislich auf einen Mann zurück, der es sich nicht nur in den Kopf gesetzt hatte, die Priesterausbildung in Tirol und Vorarlberg zu erschweren beziehungsweise zu verunmöglichen – „Ich dulde kein Priesterseminar in meinem Land!“ –, sondern ebenso das perverse Ziel verfolgte, Adolf Hitler zu dessen 50. Geburtstag am 20. April 1939 einen „klosterfreien Gau“ zu übergeben: Franz Hofer, der seit dem 24. Mai 1938 unnachgiebig und mit schier grenzenloser Brutalität als Gauleiter herrschte.
Mangels einer größeren Anzahl von Juden in der Bevölkerung sowie kaum vorhandener kommunistischer und marxistischer Gegner26 nahm der politisch ehrgeizige und äußerst selbstgefällige Hofer daher von Anbeginn die katholische Kirche ins Visier: „Man kann sich die Kirchenverfolgung nicht vorstellen, wie brutal diese in Tirol war.“27 Nach Auffassung der nationalsozialistischen Regierung waren die Orden und ihre Mitglieder nämlich der militante Arm der katholischen Kirche, die im Weltbild der neuen Herrscher keine Zukunft haben durfte und die es deshalb mit Stumpf und Stiel auszurotten galt.
So setzte im ganzen Land bald die sukzessive Aufhebung und Beschlagnahmung der Klöster und sämtlicher anderer katholischer Einrichtungen ein, wie am Beispiel der Schließung der Theologischen Fakultät und des von den Jesuiten geführten Canisianums eindrücklich gezeigt werden kann:
Wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, am 12. März 1938, erfolgte die Aufhebung der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck und im August 1939 wurde über den gesamten Jesuitenorden das Gauverbot für Tirol verhängt. Dies wurde unter anderem mit der „Neuregelung des österreichischen Hochschulwesens“ beziehungsweise der „Angleichung des österreichischen Hochschulwesens an das Altreich anlässlich der Rückgliederung der Ostmark“ begründet und führte als erste Maßnahme am 20. Juli 1938 zur Schließung der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck durch das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten in Wien mit Zustellung folgenden Dokuments:
„Zl. 13543/Ia Wien, 20. Juli 1938
Auflassung der theologischen Fakultät Innsbruck
An das Dekanat der theologischen Fakultät,
zu Handen des Herrn Dekans oder
seines Stellvertreters, Innsbruck
Im Zuge der Neuregelung des österreichischen Hochschulwesens wird die theologische Fakultät der Universität Innsbruck mit dem Tage der Zustellung dieses Erlasses aufgelöst. Über die dienstrechtliche Behandlung der Professoren werden gesondert Weisungen ergehen.
Der Staatskommissar: Plattner (D fol 333)“
Hugo Rahner, der seit März 1938 das Amt des Vizerektors des Jesuitenkollegs bekleidete, weil sich dessen Rektor Florian Schlagenhaufen nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte, skizzierte die Geschehnisse von damals wie folgt: „Am gleichen Abend des 22. Juli wurden die Bestände der Seminarbibliotheken aufgenommen, die Fakultätsräume blieben unter Polizeiaufsicht, und am 4./5. August fand die Übergabe der ehemaligen Fakultät an die Leitung der Universität statt. Das schien das Ende zu sein.“
Ein symbolträchtiges – wenn letzten Endes auch hoffnungsloses – Ankämpfen gegen die neuen Umstände war ein Placet des Vatikans, welches erlaubte, im Konvikt Canisianum den Lehrbetrieb weiterzuführen, da es durch Papst Pius XI. zur „Pontificia Facultas Theologica“ mit dem Recht, akademische Grade zu erteilen, erhoben wurde. Dennoch wurde „das Internat für Weltpriestertheologen, das Canisianum, das wir geleitet haben, enteignet“. Aufgrund des „Gesetzes über die Unterbringung von öffentlichen Dienststellen“ exekutierte Gauleiter Franz Hofer die vom Reichsstatthalter in Österreich erlassene Order vom 22. November 1938, das Gebäude des Canisianums mit den dazugehörigen Grundstücken dem Oberfinanzpräsidenten von Tirol zur Nutzung auf unbestimmte Zeit zu übergeben. Bis Jahresende hatten die Innsbrucker Jesuiten sämtliche Zimmer des Konvikts zu räumen, und letztlich nützte ihnen auch aller Widerstand und alles kompromissbereite Taktieren nichts mehr; sie hatten lediglich etwas Zeit gewonnen. Bereits am 1. März 1939 erfolgte die Übergabe des gesamten Canisianums, in dem auch jeglicher Lehrbetrieb eingestellt wurde. Unterdessen hatten die neuen Machthaber die Maske von Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft fallengelassen, fanden offene politische Repressionen gegen die Societas Jesu und ihre Niederlassungen in ganz Österreich statt, und es wurde den Jesuiten generell verboten, an Schulen zu unterrichten.28
Derartiges und noch Schlimmeres stand an der Tagesordnung und provozierte aufseiten des katholischen Widerstandes unterschiedlichste Reaktionen: „Ich muss gestehen, dass ich als 18-Jähriger ein Feindbild hatte“, erinnerte sich Reinhold Stecher an diese Jahre, weil für ihn, wie für viele andere seiner Generation, Christentum und Nationalsozialismus fundamental unvereinbar waren. „Die Verfolgung hatte ein Schwarz-Weiß-Denken hervorgebracht: ‚Wer nicht für mich ist, ist wider mich.‘ Es gab so etwas wie eine Schlachtreihenmentalität. Es hat die Reife der späteren Jahre gebraucht, von diesem einseitigen Schema abzukommen, mildere Urteile zu fällen und Gemeinsamkeiten neu aufzubauen. Es gilt für jede Epoche die Bitte nach der heiligen Wandlung: Herr, lass deine Kirche wachsen in der Liebe!“29
Dieses Zitat ist menschlich umso beeindruckender zu lesen, führt man sich die weiteren Geschehnisse und das traumatisierende Durchlebenmüssen der folgenden Kriegsjahre vor Augen, die Reinhold Stecher folgendermaßen wiedergibt: „Meine Familie gehörte zu jenem Teil der österreichischen Bevölkerung, der dieses Regime von der ersten Stunde an als Schrecken erlebt hat.“30 So kamen alle drei Brüder hintereinander in Gestapo-Haft und wurden anschließend in den Kampfeinsatz geschickt.
Helmut Stecher, der Älteste, der 1938 als junger Franziskaner in Salzburg war und sich am sogenannten „Salzburger Fenstersturz“31 beteiligt hatte, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Der Salzburger Fenstersturz, der uns vier Wochen Exerzitien in der Polizeikaserne und im Landesgericht kostet, leitet diese bewegte Zeit ein. Trauer, Langeweile und andere Gefangenenhauspflanzen überwinden wir dank unserer Jugend und der erblichen Belastung franziskanischen Frohsinns.“ Später wird er nach Frankfurt an der Oder verlegt: „Zwei Wochen treibe ich in Sonderausbildung Bodenkultur. Dann tauche ich in der Masse der RAD-Männer unter, eine Nummer von den vielen. Manches wird mir am Anfang recht hart. Ausgang gibt es lange keinen und später einige Male am Sonntagabend. Zweimal gelingt es uns wenigen, einen Gottesdienst im kleinen Diasporakirchlein des Preußenstädtchens besuchen zu dürfen. Wir exerzieren mehr, als wir arbeiten … Ja, unsere Waffe ist weniger der Spaten, mehr die Hoffnung, dass es auch vorübergeht, ein guter Humor, wenn es nicht gar zu sinnlos, seelenlos und brutal zugeht und man mit dem Verbeißen und Hinunterschlucken nicht mehr nachkommt. … Am 2. November 1938 heißt es Einrücken zum Gebirgs-Pionier-Ersatzbataillon 82 in Salzburg, Lager Alpenstraße. Später ging es dann in die Steiermark, und dann kam der Einsatz an der Front in Finnland und im hohen Norden.“32
Adolf Hitler, vermutlich gezeichnet von Gottfried Stecher
Gottfried Stecher, der jüngere und kongeniale Bruder von Reinhold, der wie dieser künstlerisch begabt war und gerne zeichnete, wurde 1941 verhaftet: „Er ist noch nicht sechzehn. Aber er hat eine Führerstelle in der ‚Pflicht-HJ‘ aus weltanschaulichen Gründen abgelehnt, und er hat die Ministrantengruppe in Wilten geführt. Und außerdem fand die Gestapo einige seiner wenig schmeichelhaften Karikaturen von Adolf dem Großartigen … Und darum ist er jetzt im Gefängnis und wird von vier Gestapoleuten mit Stock auf dem Tisch die halbe Nacht verhört.“33
Am 4. April 1945 fällt Gottfried Stecher, erst zwanzigjährig, bei einem Gefecht „irgendwo in der Gegend zwischen Oberschlesien und der Tschechei“, kurz nachdem er seiner Mutter eine ermutigende Karte aus dem Kampfgebiet geschrieben hatte, die Reinhold Stecher über alle Jahre hinweg aufgehoben hat:
„2. April 1945. Liebe Mama, mach’ dir ja keine Sorgen um mich. Eben habe ich bei der heiligen Messe, die ein Divisionspfarrer feierte, ministriert und vorgebetet wie daheim. Ich war auch bei der heiligen Kommunion. Wir sind in Gottes Hand. Es kann kommen was will. Mit herzlichem Gruß, dein Gottfried … “34
Derselbe Geist erfüllte wohl auch den Seminaristen Reinhold Stecher, dessen Glaube damals ebenfalls einen eindeutigen Hang zur Eschatologie hatte: „Man hatte auf weiten Strecken kaum eine Hoffnung, dass sich das Blatt wenden würde. Wer in der Sache Jesu Christi stehen wollte, musste den Blick auf die Ewigkeit richten und darauf, dass Jesus der Herr der Geschichte ist … “35
Vielleicht wurde dieser endzeitliche Eindruck auch durch den gewaltsamen Tod des Pfarrers von Götzens, Otto Neururer, am 30. Mai 1940 im KZ Buchenwald verstärkt, der seiner priesterlichen Pflicht gehorchend das Martyrium unter der Nazidiktatur erlitten hatte – wie nach seinem christlichen Vorbild die Tiroler Priester Jakob Gapp und Franz Reinisch sowie der Provikar der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, Carl Lampert – und unmittelbar danach bereits in der Heimat als Seliger verehrt wurde. Reinhold Stecher, der die Beisetzung der Asche seines ehemaligen Volksschulkatecheten in Götzens, unter der Beteiligung von zahlreichen Beamten der Geheimen Staatspolizei, mitverfolgt hat36 und der sich unter anderem später für dessen Seligsprechung bei Papst Johannes Paul II. verwendete, verspürte dabei sehr wahrscheinlich das Anwachsen seines eigenen inneren Widerstandes, der ihn dazu drängte, selbst ein Zeichen nach außen hin zu setzen, auch wenn er von sich nie behauptete, ein Held gewesen zu sein: „In Wirklichkeit [kann man sich] nicht vorstellen, in welcher Lage ein ‚Dissident‘ in einem tödlich totalitären Staat ist. Man kann sich nicht vorstellen, mit welcher Urgewalt der Nationalsozialismus über die Menschen hereingebrochen ist, zum Teil mit imponierenden Veränderungen für das Elend der Arbeitslosen, mit neuen Machtgefühlen, ja Großmachtgefühlen in der Erinnerung an die dümmlichen Friedensdiktate von Versailles und St. Germain, die letztlich dem nationalen Fanatismus nur auf die Beine geholfen haben. Man kann sich nicht vorstellen, wie allein man in der Rolle des Nicht-Mitlaufens, des Menschen im Untergrund ist. Nur wenigen kann man trauen – und selbst denen, denen man trauen kann, darf man manches nicht sagen, damit sie nicht in den brutalen Verhörmethoden der Gestapo sich das herausholen lassen. Mein kleiner Bruder, der auch gefallen ist, war in der Gruppe der Prof. [Franz] Mayr [sic!], der bei Kriegsende vor dem Landhaus noch erschossen wurde. Mein Bruder hat davon weder uns Brüdern noch der Mutter etwas gesagt, weil wir alle schon in den Händen der Gestapo gewesen waren und darum sofort ins KZ gekommen wären. Die da heute ihre Vorwürfe an die Nicht-Nazis von damals schreiben, haben keine Ahnung, wie die Situation war. Polittyrannen muss man Widerstand leisten, bevor sie im Sattel sitzen. Und das war damals schon vorbei. Es gab nur noch eine einzige Macht, die effizient hätte auftreten können: die Wehrmacht. Und wir haben gesehen, dass das auch schiefgegangen ist. Sonst gibt es nur den moralischen Widerstand – und den mit hohem Einsatz: Verlust von Existenz, Laufbahn, Zukunft, Rechtsschutz, Freiheit, bis zum Leben.“37
Dennoch nahm Reinhold Stecher die Gefahr auf sich und beteiligte sich an der Organisation einer verbotenen Wallfahrt nach Maria Waldrast: „In Zusammenhang mit der Aufhebung des Klosters Maria Waldrast und der Sperre der beliebten Wallfahrtskirche schlägt auch unsere Stunde, meine und die meiner Freunde im Priesterseminar. Es findet eine Protestwallfahrt mit mehreren hundert Personen aus dem Wipp- und Stubaital statt, die demonstrativ vor der verschlossenen Kirche den Rosenkranz betet. Das war noch nie dagewesen. Am nächsten Tag schlägt die Gestapo zu: Etwa sechzig werden verhaftet, einen Kern behält man. … Wir sind wochenlang in Einzelhaft, die einzige Unterbrechung sind die stundenlangen Verhöre.“38 /39
Zuerst kam Reinhold Stecher nach Innsbruck in die Gestapozentrale in der Herrengasse 1, wo er als „politischer Gefangener“ wieder und wieder verhört wurde: „Wenn man hier hereingekommen ist, hat man jede Spur von Recht verloren. Es gab für dich keinen Rechtsanwalt, es gab für dich keine Vertretung, es gab für dich kein Beschwerderecht, es gab meistens nicht einmal eine Gerichtsverhandlung. Das heißt, du warst vollständig der Willkür ausgeliefert. Du stehst im Sträflingsgewand, halb verhungert, ungepflegt vor den Verhörern, von denen du weißt, dass sie vor keinem Mord zurückschrecken. Ich habe es selbst erlebt, dass man sich bei dieser Bearbeitung und diesen Methoden auf einmal wie ein Verbrecher fühlt. Erst in der Einsamkeit der Zelle kommt man wieder zu sich und sagt sich: Nein, die Verbrecher sind schon die anderen – du hast ja nichts Böses getan. Aber eines kann ich versichern, man hat keine heroischen Gefühle.“40
Diese Erfahrung der völligen Ausgeliefertheit und der persönlichen Grenzen in der Gefangenschaft lassen Reinhold Stecher in späteren Jahren wohl auch immer wieder Partei für die sogenannten „Mitläufer“ einnehmen und gegen die Vorwürfe der Nachgeborenen einschreiten, die unter anderem das Hinnehmen der Nazi-Gräuel durch große Teile der Zivilbevölkerung kritisieren: „Ich denke mir heute oft, wenn sie heute gescheit reden über die Nazizeit, man hätte damals mehr Widerstand leisten müssen: Die haben keine Ahnung, was es heißt, in einem solchen System Widerstand zu leisten. Das ist jedes Mal der Tod. Bei den Verhören wird einem gedroht: ‚Wenn Sie nicht sofort alles sagen, alle Namen, gehen Sie morgen ins KZ.‘ Einer von uns Verhafteten hat die Nerven verloren, als sie ihm die Uhr vorlegten und sagten, wenn er nicht in zwei Minuten alles sage, gehe es ab ins Lager. Ich habe ihm nie den leisesten Vorwurf gemacht. Wenn jemand meint, man habe da durchgehend heroische Gefühle – das ist nicht der Fall. Man hat Angst. Hie und da, in der Stille der Einzelzelle, kommt der Trost auf, dass man für die Sache Jesu steht und ein gutes Gewissen haben kann. Aber wenn man dann wieder Stiefel dröhnen hört und die Schlüssel rasseln zum nächsten Verhör, dann hat man Angst.“41
Und vielleicht hat in diesem Zusammenhang auch das Wissen darüber entscheidend mitgespielt, dass etwa drei Jahre zuvor Otto Neururer dieselben Stationen dieser Tortur mitgemacht hatte, bevor er in Buchenwald sein Leben lassen musste, dass Reinhold Stecher erkannte, dass nicht jeder dazu bestimmt war, ein „Held“ zu sein. Lange nach dem Krieg sollte er unter anderem einem ehemaligen SS-Mann wiederbegegnen, der ihn während seiner Gefangenschaft bewacht hatte, und mit ihm ein Gespräch über die Lebensumstände dieser gemeinsamen Vergangenheit beginnen: „Wenn man einen Menschen mehr kennt, werden die Urteile alle anders. Und da der liebe Gott von uns viel mehr weiß, hoffe ich auch, dass seine Urteile milder ausfallen.“42
Später wurde Reinhold Stecher dann aus dem Landesgerichtlichen Gefangenenhaus in der Schmerlinggasse in das Polizeigefängnis – dem ehemaligen Hotel „Goldene Sonne“ – in der Adamgasse überstellt, nur wenige Hundert Meter von der Wohnung seiner Mutter Rosa entfernt. Von hier aus wurden an jedem Freitag die Transporte in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald organisiert, und auch dem „politischen Gefangenen“ Reinhold Stecher wurde alsbald mitgeteilt, dass er auf einer der Sammellisten stünde: „Wir haben gewusst, was ein KZ ist. Normalerweise eine Reise ohne Wiederkehr. Vor allem dann, wenn ein Häftling mit dem Vermerk ‚RU‘ dorthin eingeliefert wurde. ‚RU‘ heißt ‚Rückkehr unerwünscht‘.“43
Die Zeit bis zum drohenden Abtransport wurde offiziell vor allem beim bewachten Im-Kreis-Gehen verbracht, aber bedingt durch einen bürokratischen Fehler war tröstlicherweise auch das geheime Abhalten der Eucharistiefeier möglich: „Durch einen offensichtlichen Irrtum der Gestapo werde ich mit meinem priesterlichen Freund Georg Schuchter in eine Zelle gesperrt. Ein äußerst mutiger Polizeibeamter namens Huber, der alles für uns wagt, schmuggelt uns Hostien und Messwein in die Zelle. Wir trainieren lange, bis wir alles blitzschnell verräumen können. Als Altar dient der winzige Klapptisch, darüber ein Taschentuch, als Kelch der Verschluss des Rasierseifenbehälters. Ich muss mich mit dem Hinterkopf vors Guckloch stellen, damit wir von dort nicht überrascht werden können. Dann wird die heilige Messe gefeiert.“44
Es kann nicht eindeutig geklärt werden, was letztlich dazu geführt hat, dass Reinhold Stecher unerwartet von der Transportliste in eines der Konzentrationslager gestrichen und schlussendlich nach zweieinhalb Monaten Gefangenschaft freigelassen wurde. Als am wahrscheinlichsten anzunehmen ist eine geglückte Intervention durch den früheren Innsbrucker Bischof Paulus Rusch, der von Rosa Stecher sofort nach der Verhaftung über das Schicksal ihres Sohnes informiert worden war. Reinhold Stecher selbst sagte hingegen in etlichen Stellungnahmen darüber aus, dass er nicht wisse, was dieses „Wunder“ bewirkt habe, gab aber auch wiederholte Male unmissverständlich an, dass er fest daran glaubte, es sei ein Werk des Märtyrerpfarrers Otto Neururer, den er seinerseits – nach dessen Seligsprechung im Jahre 1996 – als Patron für die Familie ebenso anrief wie als Fürsprecher für die Priester.45
Um der Gestapo und ihren willkürlichen Zugriffen zwischenzeitlich zu entkommen, schickte Bischof Rusch die verbliebenen Seminaristen auf einen Choralkurs nach Beuron in Deutschland. „Es ist der Tausch mit einer wunderbaren, fast unwirklichen Welt.“ Allerdings muss Reinhold Stecher davor noch einen Revers unterschreiben, „dass ich bei der geringsten politischen Beanstandung mit dem KZ zu rechnen hätte“, und wird bald danach einberufen. „Nun kam ich nach einigen Wochen von dort nicht ins KZ, sondern an die Front. Ich war erst achtzehn, und da war ich als Kanonenfutter geeigneter.“46
Im Herbst 1941 rückte Reinhold Stecher nach Landeck zur Winterausbildung in die 7. Gebirgsdivision „Bergschuh“ ein, welche dazu bestimmt war, über Schweden abzuspringen – dieser Plan wurde jedoch fallengelassen, als in Schweden die Generalmobilisierung startete: „Als Theologe und ehemaliger Häftling werde ich nicht befördert. Es reicht nur bis zum Obergefreiten. Aber als Funker muss ich wenigstens nie schießen.“47
Das neue Vorgehen der Machthaber sah demnach vor, am Krieg gegen die Sowjetunion teilzunehmen, der sich jedoch nicht wie geplant entwickelte, weswegen sich die Gewaltspirale ab Mitte 1941 in Russland stetig nach oben schraubte: „Ich habe die heulenden Sirenen und herunterjagenden Bomben heute noch im Ohr – und die gewaltigen Explosionen im gefrorenen Boden. Ich habe dem Wahnsinn gedient. Die Kälte, das Elend und der tausendfache Tod rundherum hatten uns gleichsam in Trance erstarren lassen. Ich erinnere mich noch gut daran. Man konnte und durfte keine Gefühle aufkommen lassen. Das Leben war ein böser Traum geworden. Es war, als wollte man die Wirklichkeit nicht recht zur Kenntnis nehmen. Und doch war sie da, mit ihrer ganzen Sinnlosigkeit und Angst. Und ich gebe eines ganz offen zu: Wenn Gott es nicht selbst gesagt hätte, dass er die Liebe ist – aus dem täglichen Lauf der Welt allein würde ich es nicht glauben.“48
Reinhold Stecher nahm an einem der wahrscheinlich blutigsten Gefechte des Zweiten Weltkriegs, der Schlacht am Ilmensee im Kessel von Demjansk, teil, wo seit Anfang 1942 rund 100.000 deutsche Soldaten von der Roten Armee eingeschlossen um ihr Leben kämpften. Am Karfreitag desselben Jahres durchschlug die Kugel eines sibirischen Scharfschützen seinen linken Unterarm,49 und er wurde nach Kaunas in Litauen ins Lazarett eingeliefert, wo er sich mit dem Wolhynischen Fieber (Schützengrabenfieber), einer malariaartigen akuten Infektionskrankheit, ansteckte, was ihn wiederum für einige weitere Wochen von der Front fernhielt. „Zunächst ließ sich also Kaunas gut an. Die große, für damalige Begriffe sehr moderne Klinik barg eine vierstellige Zahl von Verwundeten. Man war gut betreut und genoss den Traum eines weißen Bettes und eines von keinen Stalinorgeln und Panzergranaten gestörten Schlafes.“50
Zwei Erlebnisse dieser Zeit hinterließen neben der körperlichen Verwundung und den viel schmerzlicheren seelischen Verletzungen ebenfalls Spuren, die Reinhold Stecher sein Lebtag nicht vergessen würde: Zum einen besuchte der Reichsleiter der besetzten Ostgebiete und Verfasser verschiedener rassenideologischer Schriften, wie des Buches „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, Alfred Rosenberg, die Krankeneinrichtung. In ihm erkannte Reinhold Stecher nicht nur einen geistigen Wegbereiter der NS-Diktatur und ihrer maßlosen Verbrechen, sondern auch einen der Hauptverantwortlichen für dieses unsagbare Leid: „Ich kann nicht sagen, dass ich Rosenberg gleichgültig entgegengesehen habe. Da war nun einer von jenen, hinter denen die ganze Welt des Schreckens stand, all das, was Juden und bekennende Christen, rassistisch ‚Minderwertige‘ und ‚Lebensunwerte‘ bedrängte – der organisierte Hass, die Propagandalüge, die absolute Rechtlosigkeit, die Willkür in den Gefängnissen, die Konzentrationslager, die Verhaftungen, die Bespitzelung, die Verhöre, die langsam verrinnenden Stunden in der Isolationshaft, die immer näher kommenden Stiefel, die hart durch den Gang hallen, die knirschenden Schlüssel, der Ruf: ‚Raus zum Verhör!‘ Da ist er nun – Alfred Rosenberg, einer von denen, die dieses ganze Elend zu verantworten haben.“
Zum anderen war eine Begegnung mit einem jüdischen Häftling maßgeblich für viele Entscheidungen, die Reinhold Stecher in seinem weiteren Leben und vor allem als Bischof von Innsbruck treffen musste, und es lässt sich ebenfalls darin – neben dem gewachsenen Toleranzgedanken, den ihm bereits seine Mutter als Kleinkind eingepflanzt hatte – sein vehementes Eintreten für die brüderliche Aussöhnung des Christentums mit dem Judentum verstehen. „Wenige Tage später streifte ich im Schlafrock des Patienten durch das Haus und gerate ins Souterrain, wo die Versorgungseinrichtungen und Magazine untergebracht sind. Ich wandere durch schlecht beleuchtete Gänge und alle möglichen Gerüche. Und dann komme ich zu einer schweren Schwingtür. Ich reiße sie auf – und vor mir steht ein jüdischer Häftling, im Drillich mit dem Judenstern, abgehärmt, die Arme über der Brust verkrampft … er ist zu Tode erschrocken. Er muss natürlich trotz meines Schlafrocks annehmen, dass ich ein deutscher Soldat bin. So erschrocken er ist, so betroffen bin ich. Wie soll ich ihm sagen, dass er von mir keine Angst zu haben braucht? Und dass ich ein Jahr vorher die gleiche Sträflingskleidung getragen habe und weiß, was es heißt, der SS ausgeliefert zu sein. Wir sind beide stumm. Wahrscheinlich hat er als Angehöriger irgendeines Trupps für Schutzarbeiten etwas Essbares in den Kellern erbeutet und hat nun tödliche Angst, ertappt zu werden. Ich versuche ihm zuzulächeln und halte ihm die schwere Schwingtür auf, damit er seine armselige Beute rasch in Sicherheit bringen kann.“51
Bald nach seiner Genesung kehrte Reinhold Stecher zu seiner Einheit zurück, die sich zu dieser Zeit in der Nähe des Weißen Meeres aufhielt. Von hier aus begann ein 3600 Kilometer langer Marsch über Finnland, Lappland und Norwegen, währenddessen noch diverse Abwehrkämpfe gegen die sowjetische Armee geführt wurden, bevor Deutschland und alle seine Streitmächte am 9. Mai 1945 endgültig kapitulierten: „Pausenlos [marschieren wir] durch die Nächte, von Karelien über Finnland und Lappland bis zur Küste Norwegens, und die Nächte wurden immer länger, wir nur noch durch die Polarnacht zogen, durch Nordlicht und Schneestürme, und nie eine andere Rast als das lausige Zelt ohne Boden, auf dem blanken Schnee, und manchmal bei 40 Grad unter Null. Dazwischen waren Einsätze, und danach waren wir weniger, und die weißen Birkenkreuze blieben zurück. Plötzlich tauchte hinter den höher werdenden Hügeln Lapplands das norwegische Hochgebirge auf. Und wir standen in einer klaren Sternennacht endlich auf dem Pass, von dem aus dann die Straße hinunterführte zum Nordmeer. Da ich das Funkgerät hatte, wusste ich, wie wichtig dieser Pass war. Auf der anderen Seite drohte nicht mehr die russische Gefangenschaft. Wir waren im westlichen Sektor der Alliierten. Am Trondheim-Fjord kommen wir in englische Kriegsgefangenschaft. Die Engländer, die kaum sichtbar sind, behandeln uns mit größter Zuvorkommenheit. Ich bin ein Gefangener und habe mich seit Jahren nicht so frei gefühlt wie jetzt. Mit der Kapitulation Deutschlands hat mein Leben begonnen, und ich lasse mich von diesem Gefühl des Davongekommenseins und des Neuanfangendürfens überwältigen.“52
Dabei fand dieser für Reinhold Stecher unvergessliche Aufbruch in eine neue Welt im an sich bedrückenden Milieu der Nachkriegszeit statt, das gezeichnet war von Bombenschutt und dem gravierenden Mangel an allem Lebensnotwendigen. Seine Heimatstadt Innsbruck, in die er nach der Kriegsgefangenschaft 1945 zurückgekehrt war, hatte eine Welle von Luftangriffen zu verschmerzen gehabt, die über die Hälfte aller Gebäude und nahezu zwei Drittel der Wohnungen in Mitleidenschaft gezogen hatte.53 Dennoch war der Wille zum Neuanfang weitgehend vorhanden und stark genug, dass das Leben letztlich in seine geordneten Bahnen zurückfinden konnte und ein Anknüpfen an Früheres ebenfalls wieder möglich wurde: „Ich hatte meinen Berufswunsch [Priester zu werden] durch die ganze Zeit hindurch getragen – ich weiß nicht, warum das ganze Chaos rundherum diese Absicht nie in Frage stellen konnte. Das entscheidendste Gewicht hatte wohl eine gewisse Ergriffenheit vom Heiligen und das Bedürfnis, dem Menschen zu dienen – und das alles auf dem Hintergrund eines unmenschlichen Staates und der Schrecken des Krieges.“54