Читать книгу Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen - Martin Löschmann - Страница 6

Den Berg haben die Polen abgetragen

Оглавление

Wer aus seiner Heimath scheidet,

ist sich selten bewußt, was er alles aufgiebt;

er merkt es vielleicht erst dann, wenn die Erinnerung

daran eine Freude seines späteren Lebens wird.

Gustav Freitag

Irgendwann kommt die Zeit, wo man es wissen will. Auf der Suche nach dem Woher bildet der Geburtsort in der Regel eine erste, quasi natürliche Verortung. Viele der Umsiedler haben im Lauf der Jahre ihre Geburtsstätten in Ostpreußen, Hinterpommern, Schlesien, im Sudentenland aufgesucht, um Erlebnissen in der Heimat nachzusinnen, sich zu erinnern, den Abstand zu messen zwischen dem Heute und dem Gestern, Verlorenem nachzutrauern, Zurückgebliebenen zu zeigen, wie herrlich weit man es gebracht, sofern man es zu etwas gebracht hat, Ansprüche anzumelden, Identitätsfindung zu betreiben.

In Michael Zellers Roman Die Reise nach Samosch (2003) sagt die Polin Bascha zu Stephan, dem jungen Schriftsteller, der erfahren möchte, wo sein Großvater als Wehrmachtssoldat Schreckliches sehen und erleben musste: ,,Die Deutschen kommen immer nur nach Polen, um nach ihrem Krieg zu schauen.“ Mein Grund war das nicht. Es war die Neugier, auf einen Ort zu treffen, den andere Heimat nannten, den ich fürwahr vergessen sollte und weitgehend verdrängt hatte. In der Schule bin ich niemals aufgefordert worden, meinen Heimatort zu beschreiben und hätte es gern getan – besonders dieses Stück Land am Wald, aus dem immer die Züge kamen, die Fahrten auf der Eisenbahndraisine, wann immer sie vorbeifuhr, und wir Jungs, erwartungsvoll an der Eisenbahnstrecke stehend, ein Stück mitgenommen wurden.

Um eine in derzeitigen Deutschlehrwerken beliebte Übung zu bemühen: Welches Wort passt nicht in diese Reihe?

Boykott, Litfaßsäule, Praline, Draisine.

Wer kennt heute ein Fahrzeug namens Draisine und weiß, dass Karl Drais es erfand.

Im Gegensatz zu meiner Mutter und meinen beiden älteren Schwestern hatte ich immer den Wunsch, mir Bernsdorf einmal anzusehen. August 1972 – eine Ferienadresse in Oliwa, einem historisch trächtigen Ort, nordwestlich von Gdańsk, hatte uns fast in die Nähe der alten Heimat gebracht, knapp 200 km trennten uns. Der Abstecher nach Bernsdorf war gesetzt. Wir nahmen den Weg über Lauenburg (Lębork), an diese Stadt konnte ich mich neben Bütow (Bytów) und Stolp (Słupsk) vom Namen her erinnern. Die drei Städte begrenzten meinen heimatlichen Horizont in einer höchst abstrakten Weise.

Von Bütow über Hügendorf (Udorpie) kommend, stellten wir unser Auto am Dorfeingang gegenüber der Schule ab. Es war ein russischer Moskwitsch (in der DDR nicht zu Unrecht oft Rostkwitsch genannt) – nicht gerade eine Empfehlung in Polen. Mich beschlich die bange Frage: Wie würden uns die Dorfbewohner entgegentreten? Immerhin war mein Vater Bürgermeister gewesen. Was man im Laufe der Zeit von Verwandten und Bekannten gehört hatte, musste nicht in jedem Fall verlässlich sein.

Bis zur Dorfmitte, bis zur Kreuzung. Auf einer leichten Erhebung steht mit ihrem eingelassenen verschalten Fachwerkturm die katholische Kirche, in die wir einen Blick werfen konnten: Hauptaltar im Stil des Rokoko, barocke Seitenaltäre, Tragaltäre aus dem 18. Jahrhundert. Angeeignetes Kulturwissen, in der Kinderzeit ein fremder Ort, der ‚naturgegeben‘ gemieden wurde, will sagen: Zwischen den beiden Konfessionen gab es Spannungen, gelegentlich abfällige Bemerkungen über Katholiken im Dorf. Sie lassen sich unter Bigotterie mit den Merkmalen Glaubenseiferei und Scheinheiligkeit zusammenfassen. Gefühlt war unser Dorf mehrheitlich evangelisch.

Die evangelische Kirche auf einer kleinen Anhöhe am südlichen Dorfausgang, die Kirche meiner Eltern, blieb uns verschlossen. Seit die letzten deutschen Bewohner das Dorf verlassen hatten, war sie funktionslos, entsprechend trostlos ihr Anblick. Der Eindruck verstärkt sich durch den völlig verwahrlosten Friedhof. Irla hatte von Bemühungen erzählt, für den Erhalt der Kirche unter ehemaligen Einwohnern zu sammeln. Wenngleich man die Initiative von Heinz von Mrozeck achten muss, mir stellt sich die Frage: Wozu? Gewiss, als Kirche ein Denkmal, aber für wen und wofür? Keiner braucht sie heute und die, die sie einst brauchten, werden immer weniger. Von Mroczek indes ist unermüdlich, scheint geradezu besessen von seiner Rettungsaufgabe, selbst weit über die achtzig bat er noch zum Jahreswechsel 2008/2009 meine Schwester um einen Obolus für anstehende Dachreparaturen.

Wir stehen an der Kreuzung, und ich bin mir ziemlich sicher, wir müssen nach links, geradeaus geht's nach Stüdnitz (Studnice), dort, wo der Pfaffensee beginnt. Wir werden unseren Bernsdorf-Besuch an diesem See beenden. „Den größten Findling Pod Zielonym Dworem (Zum Grünhof) müsst ihr euch unbedingt ansehen“, 2 km nördlich des Dorfes, sein Umfang beträgt nicht weniger als 15 m.

Plötzlich taucht der Briefträger auf – ich denke, die Zeit ist stehen geblieben – stoppt sein klappriges Fahrrad und fragt in bestem Deutsch:

Kann ich Ihnen helfen? Wohin wollen Sie?

Zum Hof von Löschmanns,

antworte ich so verhalten wie möglich.

Löschmann? Davon gab es im Dorf zwei,

schießt es aus ihm heraus, Stotter-Löschmann und Bürgermeister Löschmann.

Pause.

Wie heißt dein Vater?

Max.

Dann bist du der Martin.

Wie kann er meinen Vornamen wissen? Meine Mutter hatte von unserem Namensvetter im Dorf berichtet, eine Verwandtschaft gäbe es jedoch nicht. Er muss meine Vorsicht, durch Unsicherheit geprägt, schnell verarbeitet haben: „Du, Martin, dein Vater war anständig, kein übler Nazi wie der Ortsgruppenleiter Wedel.“ Ein Stein fällt mir vom Herzen, wusste ich tatsächlich nicht genau, wie sich mein Vater besonders den Kaschuben gegenüber verhalten hatte. Obwohl man sich seine Eltern nicht auswählen kann und Sippenhaft nicht erwartet wird, machten mich die Worte des Briefträgers ein wenig sicherer. „Geht die Dorfstraße hinunter, auf der rechten Seite ist euer Haus. Ich schau hernach gleich mal bei Flissakowkis vorbei.“

Ein paar Schritte nach links gewendet, konnte ich das Haus erkennen, ein Haus, wie man es überall im Norden Deutschlands kennt: Backstein, ein Giebel in der Mitte der zwei symmetrischen Haushälften, die gewissermaßen durch den Eingang mit Treppenaufgang markiert sind. Das ist es, wiewohl ich nicht begreifen wollte, wie klein, fast armselig es auf mich wirkte. Sah so das Haus eines Großbauernsohnes aus?

Marianne, die nach meinen und meiner Mutters Beschreibungen ein stattlicheres Haus erwartet hatte, hielt sich mit jeglichem Kommentar zurück. Erst als ich meinen Blick nach links schweifen ließ, er auf den Koppelberg traf und ich spontan und vorwurfsvoll ausrief: „Den haben die Polen abgetragen“, war es mit ihrer Zurückhaltung vorbei: „Vielleicht denkst du mal daran, wie klein du damals warst und wie groß dir Haus und Hügel vorgekommen sein müssen.“ Der Koppelberg – maximal 150 m hoch – hatte sich als stattlicher Berg in meinem Kopf festgesetzt, auch deshalb, weil meine Mutter gern erzählte, wie mein älterer Bruder Dietrich, kaum hatte er seine Schier zu Weihnachten bekommen, den Koppelberg erklommen habe und ohne hinzufallen heruntergefahren sei. Kein besonderes Kunststück angesichts der bescheidenen Höhe und des sanft abfallenden Abhangs.

Dietrich war der Stolz der Familie, sportlich, klug, erfolgreiches Notabitur, Leutnant, der eigentliche Erbe des Hofes, hätte nicht die Gesetzgebung unter Hitler den jüngsten Sohn zum Erbhofbauern bestimmt. Die älteren Brüder wurden für den Krieg gebraucht. Ich war der jüngste Sohn, dessen Geburt meine Mutter mit den im Dorf üblichen Abtreibungsmitteln gern verhindert hätte, wie sie mir erst in Zeitz gestand, und zwar an dem Tage, als ich ihr das mit sehr gut abgelegte Abitur vorlegte. Sie war froh, dass ich damals offensichtlich keinen größeren Schaden genommen hatte.

Es scheint mir so, als ob Dietrich, der leidenschaftlich gern Forstmeister geworden wäre und sich womöglich gern im Forsthaus Grünhof niederlassen hätte, das zu Bernsdorf gehörte, mich als kleinen Bruder gar nicht richtig wahrnahm. Der Altersunterschied war einfach zu groß. Er war immer unterwegs, ging aufs Bütower Gymnasium, traf sich mit seiner Gruppe der Hitlerjugend, hatte Freundinnen. Dass es ein Glück der späten Geburt gibt, war zu jener Zeit nicht von mir zu wissen. Zu jung selbst für das Jungvolk. Mir wird man keine Mitgliedschaft in einer Nazi-Organisation nachsagen können wie den Schriftstellern Günther Grass, Siegfried Lenz, Erich Loest, Erwin Strittmatter, Martin Walser, Dieter Wellershof, dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Ihnen hatte man in den neunziger Jahren, als sie schon „mit letzter Tinte“ schrieben, um mich eines Wortes von Grass zu bedienen, ihre Registrierung vorgehalten. Dass sie damals 17-, 18-, 19-jährig waren, wurde ihnen in den meisten Medien nicht nachgesehen. Was für ein Sturm aufgekratzter Entrüstung brach 2006 los, nachdem Grass im Roman Beim Häuten der Zwiebel seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS thematisiert hatte. Enthüllungen, wie die über Strittmatter, er habe im Zweiten Weltkrieg in einer zur SS gehörenden Polizeieinheit gedient und dies verschwiegen, lässt meine Biografie gar nicht zu. Geburtsjahr und Studium zur rechten Zeit machten mich in der DDR zum sog. weißen Jahrgang.

Mutter konnte stundenlang über ihren ältesten Sohn erzählen. Als die Ratten im Kuhstall, gegenüber dem Wohnhaus, überhandnahmen, hat er sich an mehreren Abenden in den Stall gesetzt, gewartet, bis sie in Rudeln vom Dachboden herunterkamen, um die Reste aus den Trögen zu fressen. Licht an und mit dem Luftgewehr losgeballert. Die nächtliche Beute wurde vor dem Stall aufgereiht und zur Bewunderung freigegeben: Hausratten, 16 bis 24 cm lang. Im Gegensatz zu den Wanderratten – liest man heute – nähme die Zahl der Hausratten ständig ab. Mein Rattenbild jedenfalls ist in der Kindheit geprägt worden: Ungeziefer, das man bekämpfen muss.

Wenn das Thema interkulturelle Kommunikation ansteht, fällt mir immer das indische Dorf Deshnok ein, in dem der Ratte ein Tempel gewidmet ist. Es wimmelt in allen Gängen, auf allen Stufen von den Nagern. Pilger reisen von weit her und bringen den Tieren Nahrung im Glauben, dass sie Glück brächten, vorausgesetzt, sie huschen einem über die nackten Füße. Und in China war 2008 das Jahr der Ratte. Ich kann dieses andere Kulturverständnis rational begreifen, meine Einstellung ändert sich deshalb nicht.

An Dietrichs Heimaturlaube erinnere ich mich. Aufregendes Ereignis in der Familie jedes Mal. Einmal berichtete er über den Einsatz an der Ostfront, über die erbitterten Kämpfe, den nicht erwarteten Widerstand der Russen und über den Partisanenkrieg. In einem solchen Krieg kämen selbst sie nicht ohne Grausamkeiten aus: Ein altes Mütterchen habe man in der Nähe von Kiew erschossen, einzig und allein, weil sie am Straßenrand an einem Feuer gesessen und damit angeblich den Partisanen Zeichen, Rauchzeichen gegeben habe. Der vage Verdacht genügte, um sie zu erschießen. Immer wenn ich in der Sowjetunion, später in Russland war – und das war nicht selten – und Babuschkas am Straßenrand hocken sah, wo sie irgendetwas, ein paar Äpfel oder Zwiebeln verkauften, musste ich an das Mütterchen von Kiew denken. Obwohl man genügend über die Gräueltaten der deutschen Soldateska erfahren hat, die von Dietrich geschilderte hat sich tief in mein Kinderherz eingegraben.

Er hatte unbedingt zu den Fliegern gewollt, doch eine kaum merkliche Kurzsichtigkeit des linken Auges verhinderte seinen Eintritt in die gefragte Waffengattung. Vetter Hans Gutzmer dagegen bestand das Aufnahmeverfahren und lief dem Infanteristen im Dorf den Rang ab – Fliegen und Siegen. Als er im Februar 1944, gut ein Jahr vor Kriegsende, als Staffelkapitän des Kampfgeschwaders 51 mit dem Ritterkreuz dekoriert wurde, trennten Welten die beiden Cousins. Mein Vater mochte das wohl nicht gern gesehen haben, jedenfalls hätten sich des Ritterkreuzträgers Eltern beim Bürgermeister beschwert, dass die hohe Auszeichnung im Dorf nicht angemessen gewürdigt wurde.

Mein Bruder war auch als Infanterist begeistert in den Krieg gezogen. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Fürs Volk und Vaterland. Es gibt nichts Schöneres als vor dem Feind zu fallen.“ Spontan möchte man ihm mit Arno Schmidt entgegenschleudern: „Ehe du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir‘s erst mal genauer an!“ Bis heute ist mir der Satz vom schönen Heldentod unfassbar. Nichts gegen Sätze wie: Es gibt nichts Schöneres als lieben und geliebt zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als am Abend ein köstliches Bier zu trinken. Es gibt nichts Schöneres, als eine Arbeit, die einen ausfüllt. Es gibt nichts Schöneres als dem Schweigen eines Dummkopfs zuzuhören (wo hab‘ ich das bloß her?). Ja, ich begreife selbst Ilja Ehrenburgs Äußerung aus dem Jahre 1942: „Wenn du einen Deutschen getötet hast, bring den nächsten um – es gibt nichts Schöneres als deutsche Leichen.“

Auf der Straße vor dem Haus waren wir schnell von vier, fünf Dorfbewohnern umringt, die uns offensichtlich freundlich gesinnt waren, fragten, wie es den Löschmanns ergangen sei. Unter ihnen der Pole von gegenüber, bei dem ich fast zwei Jahre als Pferdejunge gearbeitet hatte. Der Teufel muss mich geritten oder die Verklärung der Kinderzeit mich überwältigt haben, als ich ihm gegenüber ein, mein krönendes Lebensresümee gebe: „Wissen Sie, meine schönste Zeit war eigentlich die nach dem Krieg bei Ihnen: keine Schule, Pferde füttern, striegeln, aus- und anspannen, reiten, pflügen und die herrlichen Ausfahrten am Wochenende. Erinnern Sie sich? Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Das war sein Lieblingslied, er sang es immer, sobald ich ihn, meistens eine Frau neben sich, von Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnissen nach Hause kutschierte. Ich geriet in Fahrt, wurde aber jäh gebremst, denn sein Gesicht versteinerte förmlich. Zu spät. Mit dem knappen Hinweis, er habe zu tun, verließ er abrupt die Runde. Offensichtlich hatte ihn ein Schuldgefühl den Perspektivwechsel nicht mit vollziehen lassen. Wie hätte ich mit zehn die Schule vermissen sollen? Mit Pferden selbstständig umzugehen war für einen Bauernjungen das größte Glück. Was scherte mich, wem Haus und Boden gehörten. Noch in Zeitz hätte ich davon geschwärmt, Bauer zu werden, schreibt Irla, „und sei es auf einem ganz kleinen Hof wie dem von Knuths in Bernsdorf.“ Von dieser Sehnsucht ist nichts übrig geblieben. Bernsdorf kein Sehnsuchtsort.

Ich glaube es manchmal fast selbst nicht, wenn ich von diesen Nachkriegsjahren in Polen erzähle. Ich soll mit meinen 11 Jahren eine Kutsche mit zwei Pferden über Stock und Stein gelenkt, einen Mann kutschiert haben, der Zuchthaus und KZ überlebte, nach dem Krieg zum Besitzer eines Hofes gemacht worden war und nur eines im Kopf hatte, nach all den Entbehrungen in vollen Zügen zu genießen. Unglaublich, hätte ich nicht in meinem 68. Lebensjahr in Myanmar mit eigenen Augen gesehen, was Kinder oft schon leisten müssen: harte Garten- und Feldarbeit, stundenlanges Sitzen beim Zigarrenwickeln, Teppichknüpfen, Krabbenpuhlen, Steine klopfen im Steinbruch. Kinderarbeit, die es nicht und nirgends geben dürfte.

Julika, die mit ihren 14 Jahren bis dahin keine nennenswerte körperliche Arbeit verrichtet hatte, konnte es nicht fassen und verdrehte die Augen ungläubig, als ich berichtete, wie ich als Achtjähriger allein Kühe hütete, dass wir Kinder bei vielen Tätigkeiten auf dem Hof zugreifen mussten. Im Frühjahr und Herbst sammelten wir Steine von den Feldern. Sie kamen in große Körbe, die möglichst gut gefüllt zum Wegesrand geschleppt wurden. Thomas Mann schrieb einmal an Arnold Schönberg: „Ich kann von meinem Stein nicht lassen.“ Er hatte ihn bei einem Strandspaziergang auf Usedom gefunden, schleppte ihn seither mit sich herum, wo immer sein Schreibtisch stand, in München, Los Angeles, Kilchberg bei Zürich. Für mich waren Steine lange Zeit etwas Bedrohliches im wahren Sinne des Wortes Belastendes. Erst im Alter habe ich mich am Sammeln beteiligt: Steine aus Algerien, Australien, Brasilien, England, Griechenland, Schottland, Schweden, Ungarn, von der Ostsee, vom Baikalsee, vom Flussufer des Ob, aus den Rocky Mountains, von der Halbinsel Sinai, aus Oman, von überall her liegen auf der kleinen Dachterrasse in Berlin. Steine als Metapher für Stärke, Steine, die zum Sprechen gebracht, aus dem Weg geräumt werden können, müssen, Steine als Gedächtnisstütze. Spur der Steine von Erik Neutsch, Skulpturen aus Stein gehauen, Werner Stötzers Sandsteingestalt an der Mole in Warnemünde, Penelope, auf Odysseus wartend, mit dem Blick nach Osten, ein gestalteter Stein für all jene Seemannsfrauen, deren Männer nicht mehr heimkehrten. Es dauerte Jahre, ehe die Rostocker Behörden die Aufstellung des Denkmals erlaubten. Man wollte nicht öffentlich wahrhaben, dass der Tod, der aus dem Meer kommt, die DDR nicht umschiffte und immer wieder Seeleute auf dem Meer blieben. Als ob es das Sterben im Arbeitsprozess nicht geben durfte. Grabstein, bloß keinen Grabstein.

Wenn irgend möglich, musste ich unsere Kühe auf Wiesen und Felder treiben, nicht selten ein, zwei Kilometer weit, und das zweimal am Tage. Die Tiere wurden nicht draußen auf der Weide gemolken, wie es heute üblich ist, sondern im Stall. In diesem Punkt gab es zumindest bei meinem Vater ein Erkenntnisdefizit: Kühe, die am Tage 4 bis 6 km laufen, geben weniger Milch als die, die im Sommer draußen, z.B. auf der Alm bleiben. Da es keine eingezäunten Weiden gab, bedurfte es eines Kuhjungen, eines Hirten. Der kleine Steppke, sein Schäferhund Rolf und die Kühe, ja, ich wurde bewundert und genoss die Bewunderung, bis mich eine meiner Schwarz-weiß-Gefleckten im wahrsten Sinne des Wortes überrannte. Es war an einem sehr heißen, schwülen Tag im Juli 1944, als eine Kuh, die gerade noch lethargisch herumgestanden hatte, ab und an Bremsen abwehrend, mit schnellem Antritt und hochgestrecktem Schwanz den Gipfel eines Hügels erstürmte, schnaufend innehielt und plötzlich, ehe ich mich versah, mit gesenktem Kopf herunterstürzte und an mir vorbei Reißaus nahm, die Bremsen hinter sich lassend, zwei Kühe folgten ihr stehenden Fußes. Ich war machtlos, weinte und musste die drei Kühe ziehen lassen. Rolf griff nicht in das Geschehen ein.

War das ein Grund, weshalb wir Jungen ihn manches Mal furchtbar quälten: Wir wussten, dass sich der hochempfindliche Schwellkörper des Penis in einer schützenden Hauttasche an der Bauchseite befindet. Den legten wir frei und rieben ihn mit Hagebutten ein. Das durch Mark und Bein gehende Gewinsel erlosch erst nach x Versuchen, sich von dem Juckreiz zu befreien. ‚Tierische‘ Freude kam bei uns Jungen vollends auf, wenn wir uns von hinten an die Mädchen heranschlichen und Nüsschen der Hagebutte mit ihren feinen, widerhakenbestückten Härchen zwischen Blüschen und Rücken bugsierten.

Zu Hause ging ein Donnerwetter los, warum ich mich dieser Kuh nicht in den Weg gestellt hätte. Hatte ich, bloß die Kuh beachtete mich nicht, und ehrlich gesagt, ich war in letzter Sekunde zur Seite gesprungen, es ging alles furchtbar schnell. „Du musst dich der Kuh entschlossen entgegenstellen. Beginnt sie mit dem Schwanz zu wedeln, hin zu ihr und sie mit dem Hund von ihrem Startplatz vertreiben.“ Einleuchtend, aber ich schien einfach zu klein zu sein, die Theorie erfolgreich umzusetzen. Jedenfalls ist diese Kuh noch mehrmals durchgebrannt.

An Arbeit gewöhnt, empfand ich es in meiner Pferdejungenzeit keineswegs als diskriminierend, dass ich nun zum Personal rechnete und in Vorräumen, in Küchen abgespeist wurde, das wiederum reichlich und gut. Nicht selten wurde mir ein Kuchenpaket zugesteckt oder Braten, falscher Hase, den ich besonders gern aß. Ich fühlte mich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Objektiv gesehen, verharmloste ich mit der positiven Erinnerung die für unsere Familie katastrophale Nachkriegszeit, indem ich sie sozusagen kindlich naiv schönfärbte. Das musste bei meinem Gegenüber zumindest zum Missverständnis führen. Ähnlich geht es mir, wenn ich an Stammtischen oder anderswo höre, wie ehemalige Kriegskameraden ihre Fronterlebnisse immer wieder aufs Neue austauschen und dabei ins Schwärmen geraten. Sie haben überlebt. Auffallend allerdings, dass derart verklärende Berichte über die Ostfront im Vergleich zu anderen Fronten weniger im Umlauf sind. Oder irre ich mich da?

Frau Flissakowski bittet uns ins Haus. Wir treten durch die Tür vom Hof her ein. Wie früher. Der eher repräsentative Eingang von der Dorfstraße wurde ausnahmslos bei feierlichen Anlässen geöffnet.

Irlas Kriegshochzeit war eine solche Gelegenheit, bei der trotz der furchtbaren Geschehnisse kräftig gefeiert wurde. Ein Kalb und ein Schwein waren extra geschlachtet worden, wozu man in den letzten Kriegsjahren eine Genehmigung brauchte. Eine Amtsperson wollte die im Nachgang sogar einsehen. Folgen hatte die hochnotpeinliche Befragung für den Bürgermeister Löschmann wohl keine. Dass mein Vater Bürgermeister war habe ich früher in allen Fragebögen verschwiegen. Großbauernsohn und Bürgermeistersohn – das hätte mich in der DDR zusätzlich belastet. Mir reichte ersteres völlig. Ich weiß nicht, wie mein Vater zu dem Amt gekommen war, für mich als Kind war eh Irla die Bürgermeisterin, da ich sie oft am Tisch schreiben sah und sie schließlich in Bütow die Mittelschule besucht hatte.

Zu einer Hochzeit gehörte jedenfalls, dass geschlachtet wurde. Der Schlachter kam ins Haus und wir Kinder wussten, was die Stunde schlägt. Ein besonderes Ereignis, ich würde es nicht Schlachtfest nennen, keine Bekränzung des Opfers, aber aus dem Alltag herausragende Tage waren es schon. Der Schlachtvorgang gehört zu den naturgemäßen Abläufen auf einem Bauernhof, die dem Städter zumeist zuwider sind; der ist froh, dass sich Tötung und Verarbeitung der Tiere möglichst weitab in einem Schlachthof vollziehen. Für uns Kinder war nicht das Töten der Graus, sondern die bei den Erwachsenen sehr beliebte süßsaure Blutsuppe ebenso wie die frisch hergestellte Hausmacherwurst. Was auf den Tisch kam, musste gegessen werden.

Vieles war wie früher. In der Wohnstube die schwarze Anrichte, in der Mitte der stabile Esstisch, sechs Stühle zählte ich, ein Sofa, an das ich mich nicht erinnern konnte. Und ein Bild der Maria hing nun zwischen den Fenstern im Wohnzimmer, dort, wo früher ein Ölgemälde hing. Mein Vater hatte es zur Zeit der Inflation mit einer Fuhre Korn erworben. Ja, das war derselbe große Tisch, an dem sich unsere Familie versammelte. Suppen werden sichtbar, die uns Kinder nicht behagten: Erbsensuppe, Kartoffelsuppe nun ja, Linseneintopf, wenn da nicht dieser Speck drin gewesen wäre, und dazu dieses Würgegericht aus Gänseklein, Backobst und Kartoffelklößen, die gerade erwähnte süßsaure Blutsuppe, die es buchstäblich immer gab, wurden Gänse geschlachtet, meistens acht bis zehn auf einen Schlag. Zugleich sehe ich Pellkartoffeln und Hering, kulinarische Höhepunkte: Plinsen, aus Buchweizenmehl und geriebenen Kartoffeln, Obstsuppe, Vanillepudding, rote Grütze, selbst gebackenen Kuchen, Hefe-, Streusel-, Johannisbeer-, Stachelbeerkuchen.

Es wird Kaffee gebracht, Käse- und Schmalzstullen aufgetischt. Tochter Theresa kommt mit ihren zwei Kindern herein, sie bewohnt offensichtlich die zwei Zimmer, die links vom Eingang liegen und das Altenteil unserer Oma waren. Sie lebte sehr zurückgezogen, schlief auf einem Strohsack, strickte und stopfte unsere Strümpfe, las in der Bibel, sang Kirchenlieder, oft Eine feste Burg ist unser Gott – von Heine als „Marseiller Hymne der Reformation“, von Friedrich Engels als „Marseillaise der Bauernkriege“ bezeichnet und von mir auf der Silvesterparty der Uni zum Lutherjahr 83, leicht alkoholisiert lautstark skandiert. Unsere Oma, Mutter von sieben Kindern, hat sich in Abständen bei meiner Mutter darüber beschwert, dass sowohl meine zwei Jahre ältere Schwester Gisela als auch ich die Tür zu ihrem Zimmer ohne Vorankündigung aufstießen und ohne ein Wort die zerrissenen Strümpfe in den Raum schmissen. Viel mehr weiß ich nicht über meine Großmutter. Bestimmt erinnerte ich, falls sie, wie man von anderen Großmüttern hörte, erzählt hätte, von der Wand sei wieder einmal ein Bild gefallen, ein sicheres Zeichen, dass ein Mitglied der Familie im Krieg gefallen wäre.

Die ohnehin etwas schwierige Unterhaltung – nicht der Sprache wegen, eher wegen der recht vertrackten Grundsituation – flacht ab, als Sohn Janucz das Wohnzimmer betritt, in stark verschmutzter Kleidung, mit blau unterlaufenen Augen, es war erst gegen elf und eine Alkoholfahne wehte ihm voran. Wir sahen dann, in welch schlechtem Zustand der Hof war, und wir wussten, warum. „Erinnerst du dich, wie wir zusammen die Kühe gehütet haben?“

Er blieb nicht lange, höchstwahrscheinlich schämte er sich. Dabei hätten wir beide uns am meisten zu erzählen gehabt.

Im sog. feinen Zimmer, das bei besonderen, vor allem festlichen Anlässen geöffnet wurde, stand tatsächlich noch das Klavier, auf dem meine Geschwister geübt hatten. Auf Bildung im weitesten Sinne haben meine Eltern, namentlich meine Mutter, größten Wert gelegt und keine Ausgaben gescheut. Ich bin sicher, dass meine Eltern angetan waren, als ein Lehrer um Irlas Hand anhielt. Unser Hof von knapp 50 ha warf ja nicht so viel ab, dass nicht gerechnet werden musste. Sollte er als Ganzes erhalten bleiben, mussten meine vier Geschwister ausgezahlt werden, ihren Anteil am Erbe in Geldwert bekommen. Beide Eltern schufteten von früh bis spät, selbst im Winter gönnten sie sich keine Ruhe. Aus den verschneiten Wäldern wurde in Fremdarbeit, d.h. gegen Bezahlung, Holz aus dem tiefen, finsteren Wald zum Bahnhof transportiert. Eine nicht ungefährliche Arbeit, ein Baumstamm konnte sich schnell lösen, und einmal löste sich einer, überrollte meinen Vater und verletzte ihn ziemlich schwer. Seine Narbe im Gesicht kam von dieser Verletzung.

Unser Hof war niemals verschuldet. Das gesparte Geld kam in eine verschließbare Zigarrenkiste und wurde am Spartag auf die Bank gebracht. Jeder Groschen wurde dreimal umgedreht, ehe er ausgegeben wurde. Was sein muss, muss sein. Meine Mutter ließ sich immerhin ihre Festkleider von einer bekannten Schneiderin in Bütow anfertigen. Irla erinnert sich an ein blaues Seidenkleid mit Perlen bestickter Schärpe im Charlestonstil. Die hin und wieder nach Bütow unternommenen Fahrten waren immer Einkaufsfahrten.

Mir ist mein Vater letztlich fremd geblieben, an seine Geburtstage am 30. Dezember erinnere ich mich jedoch gut. Denn einen Tag danach, zu Silvester, gab es immer Pfannkuchen, sie wurden den Honoratioren des Dorfes angeboten. Sie, nicht die Verwandten, wurden eingeladen: der Förster Borchert, der Lehrer Brosowski, der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts Kosin, Ortsgruppenleiter Wedel. Berge von Pfannkuchen errichten sich vor meinen Augen, an deren Abtragung wir Kinder beteiligt wurden. Handarbeit: Unsere Mutter riss von einem großen Teigklumpen nach Gefühl eine Handvoll Teig ab, formte sie zu einem ballförmigen Gebilde, meine Schwester hatte einen Löffel selbstgekochter Marmelade oder Pflaumenmus hinein zu bugsieren und die Bällchen auf einem Blech geordnet abzulegen. Das voll belegte Blech kam zum Gehen oben auf den Kachelofen in der Wohnstube. Sobald sie aufgegangen waren, verschwanden die Pfannkuchen in einem großen Spezialtopf mit siedendem Öl und erhielten die duftende Bräune, wurden mit Zuckerguss überzogen oder mit Puderzucker bestreut. Wenn irgend möglich, hat unsere Mutter viele Jahre nach dem Krieg in Zeitz und darauf in Halle-Neustadt Pfannkuchen für den Rest der Familie gebacken. Irrläufer mit Senf kamen erst in dieser Zeit hinzu.

Als die Tür zum feinen Zimmer geöffnet wird, bestimmt nicht das schwarze Klavier meine Assoziationen, sondern die Bescherung am Heiligabend. Die Tür ging auf, der große Tannenbaum erstrahlte im Lichterglanz und die Geschenke lagen unterm Weihnachtsbaum. Stille Nacht, heilige Nacht. Ich bekam die lang gewünschten Schlittschuhe.

Man will uns die oberen Räume zeigen, aber ich glaube, unsere Führerin durchs Haus ist froh, dass wir darauf verzichten. Sie war ja auf unseren Besuch nicht vorbereitet. Und was hätte die Besichtigung zusätzlich gebracht? Die Bestätigung, dass die Kammern, in denen meine Geschwister schliefen, klein waren und es in den Räumen keine Öfen gab. Im Winter war es da oben bitter kalt, das Wasser gefror in der Waschschüssel. Damit die Katzenwäsche früh am Morgen überhaupt erledigt werden konnte, goss die Mutter heißes Wasser auf das Eis. Das Zischen klingt in meinem Ohr.

Das elterliche Schlafzimmer, an dessen linker Seite mein Kinderbett stand, war etwas größer. Es gab eine Zeit, wo ich aus mir heute unerfindlichen Gründen nicht ins Töpfchen pinkelte, sondern hinters Bett. Eigenartigerweise gab es dafür keine Schläge. Nach Entdeckung der vor sich hin stinkenden Angelegenheit wurde ich über Wochen und Monate, bevor sich meine Eltern zur Nachtruhe begaben, von meiner Mutter vorsorglich wachgerüttelt und auf den Pott aus Emaille gesetzt, bis sich etwas tat. Das konnte allerdings dauern. Schläge gab es dagegen, als ich mich einmal eingeschlossen hatte und meine Eltern über das offene Fenster mit Hilfe einer Leiter einsteigen mussten. Gisela und Renate hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mich als Gespenster in meinem Kinderbett zu erschrecken. Wie konnte ich mich besser wehren? Pech für mich, ich vergaß, vor dem Einschlafen die Tür wieder aufzuschließen.

Vom Eheleben habe ich wenig mitbekommen, anders, wenn mein Vater aus dem Gasthof kam und etwas über den Durst getrunken hatte, was zwei-, dreimal im Jahr passieren konnte. Er konnte in solchen Nächten recht aggressiv werden. Zumindest die Freudianer unter meinen Lesern werden es deuten können, sobald ich an dieser Stelle bekenne, nach reichlichem Alkoholgenuss werde ich eher sanft wie ein Lamm. In einem ersten Versuch über meinen Vater hatte ich ihn zum Entsetzen von Irla als Quartalssäufer charakterisiert. Ich wollte es mir mit ihm zu einfach machen, eine der üblichen Stanzen bedienen, die Söhne über viele Generationen geformt und bereitgestellt haben.

Und das Bild über dem elterlichen Bett habe ich auch nicht vergessen. Geht es in einem Gespräch, in einer Diskussion um Kitsch, habe ich es vor Augen: nächtliche Waldesstimmung, eine gut ausgeleuchtete Lichtung, Rehe im Hintergrund, links im Bild junge Männer oder waren es irgendwelche Satyrn, trunksüchtige, lüsterne Begleiter des Dionysos, die Blicke auf herannahende Elfen gerichtet, deren nackte Körper leicht verhüllt.

Ich fragte, ob wir uns auf dem Hof und im Garten umsehen dürften. Wir durften natürlich, ich hatte wohlbedacht gefragt, um klarzumachen, wir kommen nicht mit irgendwelchen Ansprüchen. Wir nahmen den Weg an der Pumpe vorbei, die tatsächlich funktionierte, der Schwengel musste einfach bewegt werden, ließen rechts den kleinen Obstgarten liegen, der zum Altenteil gehörte und aus dem wir der Oma gern mal die gut schmeckenden Gravensteiner gestohlen hatten, und standen vor dem eigentlichen Hof.

Können Sie erklären, warum der Protagonist dieses Buches am Samstag, dem 17. Januar 2009 gegen 14 Uhr bei REWE in der Kulturbrauerei (Prenzelberg) Gravensteiner Apfel-Gelee/Aus reinem Gravensteiner Apfelsaft kaufte?

Auf dem Hof prangte die große Dunggrube nebst Jauchengrube. Die war nun wirklich riesig, sie wirkte überdimensional, ein kleiner zerzauster Haufen Mist darin. Flissakowskis besaßen lediglich einen Teil des Bodens, waren Kleinbauern geworden, wie man sie aus Polen kennt: drei, vier Kühe, ein Pferd, ein paar Schafe. Wo sollte der Mist herkommen? Bei sechs Pferden, fast zwanzig Kühen und mehreren Kälbern, Färsen, einem Bulle war das etwas anderes gewesen.

Der Bulle war im Kuhstall von den Kühen getrennt. Er hatte seinen Platz am Übergang zu dem Teil, wo die Kühe standen. Es konnte passieren, dass er mit den Hinterbeinen auf diesem Gang stand. Eines Sonntags, ich war für den Kirchgang in einen adretten Matrosenanzug gesteckt worden, marschierte ich, als die Aufbruchsstimmung auf ihrem Höhepunkt angelangt war und sich keiner um mich kümmerte, in den Stall und forderte den Bullen mit der mir zur Verfügung stehenden Stimmgewalt auf, den Übergang freizugeben: Bulle rum! Dieser hebt stattdessen das rechte Bein, das in der eigenen Scheiße gestanden hatte, und schüttelte den Brei – das Bein leicht nach hinten gestreckt, wo ich auf die Befolgung meines Kommandos erwartungsfroh wartete – voll in mein Gesicht und auf den neuen Anzug. Ach, wie habe ich geschrien. Ganz offensichtlich hatte ich einen falschen Standort für mein Kommando gewählt. Gott sei Dank, Irla war zur Stelle, beruhigte meine Eltern, nahm mich ans Händchen, tröstete mich, „ein Junge weint doch nicht“, befreite mich von dem Übel und fand eine Ersatzkleidung.

Die älteste Schwester musste sich um uns kümmern, und sie tat es mit allem Nachdruck liebevoll. Dass wir Hochdeutsch sprachen, war gesetzt und wurde mit aller elterlichen Strenge durchgesetzt, unterstützt von unserer stellvertretenden Mutter. Ich war der Junge mit den x-Beinen und musste noch vor der Schulzeit über einen längeren Zeitraum hinweg täglich eine bestimmte Zeit im Schneidersitz verbringen. Ein fachmännisch zu belegender Rat steckte wohl nicht dahinter, aber meinen Beinen ist die vom Schwesterchen beaufsichtigte Übung gut bekommen.

Meine Güte war die Scheune verfallen. Man sah ihr gleich an, dass sie nicht mehr im vollen Umfange gebraucht wurde. Von Quantität und Qualität der eingefahrenen Ernte hing viel ab. Im späten Herbst und im Winter wurde gedroschen: Roggen, kaum Weizen, Hafer, Gerste. Mein Vater legte die Garben oben auf der Dreschmaschine selbst ein. Wir Kinder mussten die Garben, die aus dem jeweiligen Scheunenfach auf die dafür vorgesehene Fläche der Maschine geworfen wurden, zunächst einzeln auf den Garbentisch legen und aufschneiden, bevor der Einleger sie behutsam herunternahm. Oh, diese Tätigkeit war gefürchtet. Exaktheit, Koordination, Augenmaß waren verlangt. Die Ähren immer rechts von einem auf den Tisch, niemals zwei Garben, im richtigen Moment aufschneiden, auf keinen Fall mit der Garbe dem Vater vor dem Gesicht herumfuchteln, geschweige denn ihn treffen. Da konnte er saugrob werden. Einmal habe ich meinem Vater die grantigen Ähren ins Gesicht gewischt. Obschon ich mich für meine Unachtsamkeit sofort entschuldigte, musste ich auf der Stelle die Dreschmaschine verlassen. Gisela hat mich an diesem Tag ersetzt. Ich war geächtet, ein Kind, ein Junge gar, der nicht einmal das richtig konnte.

Die Scheune war von Hause aus ein Abenteuerspielplatz der besonderen Güte. Von den Versteckmöglichkeiten können Stadtkinder bestenfalls träumen. Damit das Versteckspiel nicht missriet, wurde der Raum begrenzt. Solange das Korn nicht gedroschen war, durften wir ohnehin nicht überall in der Scheune herumtoben. Ängstlichkeit war verpönt, die besten Chancen hatten die guten Kletterer. Meine zwei Jahre ältere Schwester war unerreicht. Doch einmal hat es sie voll erwischt, mit vorgebeugtem Kopf war sie gegen eine Wagendeichsel gerannt, die auf der Tenne stand, die Platzwunde musste genäht werden. Ein anderes Mal war Harald, Sohn des Stellmachers und Ortsgruppenleiters, an einem Balken tief ins gedroschene Stroh gerutscht, sodass er sich nicht ohne des Polen Adam Hilfe heraushieven konnte. In der Scheune fanden übrigens die Doktorspiele statt, bei denen die Älteren, Harald und Gisela, die Hauptakteure waren, er der Doktor, sie die Patientin, die sich auf den mit Stroh bedeckten Boden legte, nachdem sie sich ausgezogen hatte. Sie wurde gründlich untersucht. Wir Kleinen waren aufgeregt staunende Zuschauer. Doktorspiele finden, wird behauptet, zwischen 3 und 6 Jahren statt. Wieso war ich da passiver Zuschauer?

An der Stirnseite der Scheune vorbei gelangt man zum Obst- und zum Gemüsegarten, am Ende befand sich ein Teich, in dem sich Enten und Gänse tummelten. Eigentlich schon zu unserer Zeit verschmutzt und unappetitlich, jetzt war er vollends versumpft. Die paar Entchen und Gänschen konnten uns den Blick nicht verstellen.

Heio Popeio, was raschelt im Stroh?/Das Gänschen läuft barfuß und hat keine Schuh/Der Schuster hat Leder, keine Leisten dazu/ drum kann er auch machen dem Gänschen keine Schuh.

Der Obstgarten mit seinen riesigen Apfel- und Birnenbäumen wird zum Gemüsegarten hin von Pflaumenbäumen abgeschlossen: die deutsche Hauspflaume, würzig und knackig. Bis es nicht mehr ging, habe ich die reifen Pflaumen in mich hineingestopft und frischer Pflaumenkuchen war ein unbeschreiblicher Genuss. Nirgendwo auf der Welt habe ich unsere Pflaumen wiedergefunden. Diese großen Pflaumen aus Kalifornien, mit Chemie durchtränkt, sind mir ein Gräuel. Erst als ich 2001 zu einem vom DAAD geförderten Seminar für kasachische Universitätslektorinnen und -lektoren in Astana war, habe ich sie wiedergefunden. Das Klima ist ähnlich, kontinental, mit harten Wintern. Während meines vierzehntägigen Aufenthalts verdrückte ich Tag für Tag ein Pfund, manchmal gleich ein ganzes Kilo. Falls mich meine Geschmacksnerven und mein Erinnerungsvermögen nicht täuschten, schmeckten sie jedenfalls wie die von Zuhause. Hätte meine Mutter zu der Zeit noch gelebt, sie wäre gewiss in der Lage gewesen, die Wiederentdeckung der Pflaume meiner Kindheit zu bekräftigen. Vielleicht war ich nach den vielen Jahren reif für die Relativierung eines Verlustes.

Das ist der Daumen/der schüttelt die Pflaumen/der hebt sie auf/der trägt sie nach Haus/und der Kleine, der isst sie ganz alleine.

Wie lebte unsere Mutter auf, als wir ihr einmal aus Polen Schweinebohnen mitbrachten. Sie wurden in unserem großen Garten angebaut und gehörten zu ihren Lieblingsessen. In der DDR waren sie kaum zu finden. Wir erinnerten uns gemeinsam, wie unsere Großmutter die Bohnen, vor dem Garten sitzend, auspuhlte, wie sie in einen großen Kochtopf mit Salzwasser geschüttet, gekocht, abgegossen, in Butter geschwenkt und mit viel Petersilie auf den Tisch kamen. Mehlsuppe gab es dazu, die nach Ansicht meiner Mutter nicht besonders gut zu dem Schweinebohnen-Gericht passte, sie trank deshalb lieber Buttermilch dazu.

Sauerkirschen dagegen habe ich seit der Neuansiedlung in Mitteldeutschland nie vermisst, sie wurden durch die verschiedenen Süßkirscharten ersetzt, die hatte es in Bernsdorf nicht gegeben. Ich lernte sie zuerst in Zeitz beim Öbster Urban kennen, bei dem wir nach der Umsiedlung einquartiert worden waren und dem ich als Schüler beim Pflücken von roten, schwarzen und gelben Knorpel- und Herzkirschen half.

Am Garten entlang führte ein Weg durch die Felder, in Umrissen zu erkennen, ein kaum merklicher Anstieg und man hat einen Blick bis zum Wald, Eichen und Buchen – Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen, blitzt und donnert es. Der Wald, der uns mit seinen vielen Früchten lockte, hat sich mit der Zeit dem Dorf genähert. Sein Rand hob sich sichtbar ab. Der Wald als Ort voller Geheimnisse, beängstigend und undurchdringlich. Ich habe im Studium die romantische Naturauffassung leicht nachvollziehen können, wonach der Wald für eine Natur steht, in der sich Wunderbares und Beängstigendes ereignet.

Die Annäherung an das Dorf war keine Einbildung wie beim Koppelberg, sondern wurde mehrmals im Dorf bestätigt. Reizvoll ist der Blick von hier aus insofern, als er zwei Seen einschließt. Zwar erhascht man nur ein paar blaugraue Flecken, die Wasser vermuten lassen, doch machen sie die Landschaft abwechslungsreich. Schulwissen aktiviert sich: Du hast deine Kindheit zwischen Moränenhügeln, Wäldern und Seen verbracht. Glaziale Serie. War das obendrein ein Grund aus der Leipziger Tieflandsbucht auf den Prenzlauer Berg zu ziehen?

Auf dem Rückweg fällt mein Blick zwischen Obst- und Gemüsegarten auf den verfallenen, grün überwucherten Backofen. Wie konnte ich ihn übersehen, am Weg ins freie Feld. Eine Art Hexenhäuschen mit einem kleinen Satteldach, das den riesigen Ofen vor Wind und Wetter schützte. Mehr als 20 Brote auf einmal konnte man darin backen und diverse Kuchen auf großen Blechen.

Alle 14 Tage war Backtag. Das Heizen mit Holz war Großmutters Aufgabe. Die Aussicht auf frisches Brot, frischen Kuchen machte den Tag zum Festtag. Für die Mutter war es eine Plackerei: Der Teig musste in einem Holztrog fast eine Stunde lang geknetet, der Ofen auf Backhitze gebracht werden. War das Feuer erloschen, wurden Asche und verkohlte Holzreste fein säuberlich entfernt und Brote und Kuchen hineingeschoben. Ein Schieber stand nach wie vor in einer Ecke. Im Herbst nutzte man die Restwärme zum Trocknen von Obst, Äpfeln und Birnen, Pflaumen. Wann immer gebacken wurde, wir Kinder waren dabei. Aus dem fertigen Teig etwas formen zu dürfen, machte uns glücklich, zu Künstlern, die beim Anblick des bereitgestellten Materials kaum ihren Schaffensdrang zu bändigen vermögen. Nach allem das fertige Produkt in den Händen halten und ohne Skrupel hineinbeißen. Kaum waren die Brote und Brötchen im Ofen, quälten wir die Mutter mit der Frage, wann unsere Brötchen denn endlich fertig seien. Der Backprozess musste ständig beobachtet werden. Unsere Mutter zum Backofen eilen sehen, hingen wir schon an ihrem Rockschoß. Backen in einem freistehenden Backhäuschen ließ Mutter den Wechsel der Jahreszeiten intensiv miterleben: Sommerhitze und Eiseskälte, herbstliche Stürme und Frühjahrsschauer. Und welche Freude, kam man im Sommer ins angenehm kühle und im Winter ins wohlig warme Wohnhaus zurück.

Auf dem Rückweg kommen wir direkt an dem Örtchen vorbei, windschief nun, irgendwie verloren, zwei Türen: die linke für die Magd, den Knecht, die Saisonarbeiter. Bei 30 Grad minus konnte einem in der rechten Hälfte ebenso kalt um den nackten Po werden wie in der linken.

Wenn der Bauer an den Waldesrand hetzt,

war das Plumpsklo schon besetzt.

Ich denke, 30 Meter waren vom wärmenden Haus aus zu überwinden, das im Winter an der Kellerseite zum Hof hin mit einer mannshohen und einen Meter dicken Wärmedämmung aus Mist bepackt wurde, die den Ratten behagte. Die Toilette auf halber Treppe in der Posaer Straße in Zeitz, der ersten eigenen Wohnung nach der Umsiedlung, wurde dagegen bei größter Kälte als eine wohltuende Einrichtung empfunden. Eigenartigerweise habe ich das Klo, in dem Edgar Wibeau, Held des Romans Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, zufällig ein altes Exemplar von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther findet, immer mit dem Plumpsklo in Berndorf verbunden. Das angedachte Familien-Projekt Toiletten in aller Welt, das leider nicht das Licht der Welt erblickte, sollte mit dem Häuschen in Berndorf beginnen. Weitere Höhepunkte das Café 89 in New York, die Toiletten eine Treppe höher, die Kabinen durchsichtig, sodass man Klarsicht der draußen Stehenden befürchtet, doch kaum schließt man die Tür von innen, wird glücklicherweise die Einsicht vermilchglast. Jörg hatte das Café entdeckt, und wir wiederum führten Enkelin Hanna auf der New York-Reise, unserem Geschenk zu ihrer Jugendweihe, in diesen Toilettenwitz ein. Und der Hinweis auf der Herrentoilette im größten Supermarkt von Quingdao (Tsingtao) in China: Step Forward to Get Closer to Civilization.

An dem Holzhäuschen vorbei verlief ein schmaler Weg zur Stellmacherei; sie gehörte uns, war jedoch verpachtet. Da entlang mussten wir zwangsläufig auf die Dorfstraße zum Bahnhof stoßen. Und etwa 200 m weiter sehe ich das Deputatshaus. Da wohnten fünf Familien, die die Miete in Form von saisonbedingter Arbeit auf unserem Hof abzahlten: Kartoffeln und Rüben pflanzen, hacken und aus der Erde holen, Getreide ernten. Weder die Stellmacherei noch das recht bescheidene Deputatshaus habe ich je als Eigentum meiner Eltern angegeben. Man hätte mich womöglich gleich zum Sohn eines Rittergutsbesitzers erhoben.

An unserem ehemaligen Besitz wieder angekommen, bedanken wir uns artig bei Frau Flissakowski für die freundliche Aufnahme und versprechen wiederzukommen. Und wir kamen schneller als gedacht wieder. Ein Jahr darauf machten wir uns gleich mit zwei Autos auf den Weg, mit Schwester Gisela und ihrem Mann Wolfgang, also Familie Fuhrmann mit Tochter Britta, Löschmanns mit Sohn Jörg und Nabil, unserem syrischen Familienmitglied, ehemals Student am Herder-Institut, einer der besten im Jahrgang 1967/68. Sein Volkswagen war das zweite Auto. Der Reiz der Fahrt bestand für mich vor allem darin, dass ich den anderen das zeigen konnten, was sie bisher nur aus Erzählungen kannten, außer mir hatte lediglich Gisela eigene Erinnerungen daran.

Große Ernüchterung überkam mich als Fremdenführer. Beim ersten Besuch hatte ich spontan erklärt: Der nächste Sommerurlaub wird in Ugoszcz verbracht, ich werde Janucs bei der Ernte helfen. Es muss überzeugend geklungen haben, sonst hätte Marianne nicht dermaßen vehement reagiert: „Ohne mich.“ Im Moment des Aussprechens dieser Ferienaussicht war an deren Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln. Heute weiß ich, der unterdrückte und fast völlig vergessene Bauernsohn in mir hatte sich in vertrauter Umgebung ein Ventil gesucht. Ganz und gar klar war mir schon damals, es führt kein Weg zurück, auch nicht nach erfrischender Abkühlung im Pfaffensee, dem Badesee im Gegensatz zum Dorfteich, auf halber Strecke nach Studnice.

Am Pfaffensee hatten wir einst im nahe gelegenen Erbsenfeld bei schönstem Sonnenschein Aale überrascht und zwei, drei mit Knüppeln erschlagen, nachdem Harald uns versichert hatte, es seien keine Schlangen. Oder waren es tatsächlich welche? Jedenfalls zeichnet Aale ein extrem zähes Wanderverhalten aus, das sie zu Landgängen befähigt. Du suchst wohl ein Gegenstück zu Günter Grass’ verwestem Pferdekopf. Nein, ich will keine Legenden stiften. Wie bestechend die Szene in der Blechtrommel literarisch sein mag, Aale sind keine Aasfresser, sie verstecken sich bestenfalls in einem Kadaver, was früher durch das Auslegen von Tierschädeln zum Fang genutzt wurde. Ob es nun Aale waren oder nicht, Krebse gab es auf jeden Fall. Im Bach, der sich durch das Dorf schlängelte, fingen wir im Sommer Flusskrebse. Da sie dämmerungs- und nachtaktiv sind, mussten wir sie in ihren Verstecken unter Steinen und Geröll, in das Flüsschen ragenden Baumwurzeln aufstöbern, von hinten packen und in den Eimer werfen. In der Küche wurden sie in kochendes Wasser geworfen, nicht länger als fünf Minuten und die leuchtend rot erstrahlenden Krebse waren zum Essen bereit, durch geschickte Drehbewegungen die Schwänze und Scheren vom Körper gelöst, um an das zarte Fleisch heranzukommen. Bei uns zu Hause war Krebsessen nichts Besonderes, ein Angebot der heilen Natur.

Ich bin dann doch noch einmal nach Bernsdorf gekommen, und zwar 2006 mit meiner damals 83jährigen Schwester, die sich im Juni in Bad Polzin an der Ostsee zusammen mit ihrem Mann Christian einer Kur unterzog. Wir besuchten sie dort und verwirklichten an einem recht kühlen Tag einen Plan, der mehrmals geschmiedet, bislang aus den verschiedensten Gründen nicht erfüllt worden war – zwei Jahre nach dem EU-Beitritt Polens.

Als wir uns auf den Weg nach Bernsdorf machten, hatte sie längst erkennbar mit unserem Heimatort abgeschlossen. Sie hatte vieles von mir und anderen gehört bzw. gelesen, war zu Treffen der Pommerschen Landsmannschaft gereist, doch in die Jahre gekommen, fiel es ihr nicht schwer, sich von dem Erinnerungsband Spatzen Pellkartoffeln. Als Kind auf der Flucht aus Hinterpommern von Eckehard Oldenburg, ein Jahr jünger als ich, zu trennen. Der Autor, Sohn ihres Biologie- und Englischlehrers an der Mittelschule in Bütow, war bei seinem Onkel August von Mroczek in Bernsdorf, kurz bevor der Krieg in unser Dorf kam, und ist zusammen mit uns auf die Flucht gegangen. Im Gegensatz zu mir konnte er sich auf Aufzeichnungen seines Großvaters stützen und Flucht, Rückkehr und Vertreibung aus des Großvaters und seiner eigenen Perspektive erzählen.

Woran Irla sich nicht alles erinnerte, während wir durch die gefällige Endmoränen-Landschaft mit den vielen kleinen und großen Seen fuhren. Welch ein Enttäuschung für sie, als wir vor dem Hof standen, die Ställe, die Scheune, der Speicher und der riesengroße Misthaufen in der Mitte verschwunden, alles plattgemacht, eine saftige Grasnarbe bedeckte den für uns historischen Grund. Das Haus angemessen rekonstruiert. Es wirkte viel einladender als unser ehemaliges Haus, der Vorgarten gleichermaßen. Wertsteigerung allemal. Andererseits hatte das alles nichts mehr mit uns zu tun. Im wahren Sinne des Wortes: Gras war darüber gewachsen. Leider waren die jungen Leute unterwegs, die sich auf unserem ehemaligen Anwesen eingerichtet hatten, wie uns ein Dorfbewohner berichtete. Ich denke, es war gut so, denn keine Frage, im Haus wurde ebenfalls vieles verändert. Von Flissakowskis war niemand mehr da, Janusc auf dem Friedhof, mein damaliger Arbeitgeber auch. Der Bahnhof stillgelegt.

„Mit unserem Besuch in Bernsdorf/Bütow habe ich noch lange zu tun gehabt“, schrieb Irla in ihrem Brief vom 26. Juli 2006, „innerlich muss es mich doch sehr bewegt haben. Vielleicht hätte ich doch lieber die alten verfallenen Gebäude an ihrem alten Platz plus Plumsklo und Backhaus mit den alten Bäumen gesehen, weil die Umgebung des Wohnhauses eben fremd war. Aber ich habe gestaunt, was noch alles in meinem Gehirn geruht hat. Viele Namen von Bernsdorfer Einwohnern kamen zum Vorschein. Fast allen konnte ich ein Haus zuordnen, neben uns vor der katholischen Kirche wohnten Dargatz, Lüdtke und Stangohr. Martin, sind Dir die Namen noch ein Begriff?“ Nein, sind sie nicht. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf: Sprechen wir von Heimat, ist immer Verlust mit im Spiel. Eine zweite Heimat gibt es eigentlich nicht.

Hier und jetzt wird endgültig ein Schlussstrich gezogen. Ich werde meinen Geburtsort nun nie wieder besuchen. Es gibt kein Erbe mehr. Der Erbhofbauernsohn wurde nach dem Umschwung mit 4.000 DM von der Kohl-Regierung abgespeist. Erstaunlich, dass gerade diese Regierung die Vertriebenen völlig gleichstellte. Unabhängig von dem, was sie besessen und verloren hatten, bekamen alle DDR-Bürger und -Bürgerinnen aus den ehemaligen Ostgebieten des deutschen Reiches die einmalige pauschale Abfindung. Jenny Neumann, eine ehemalige Kollegin – wohl aus Schlesien kommend – hat das Almosen mit der Begründung abgelehnt: Mit der Empfangsbestätigung würde man sich seiner Ansprüche begeben. Ich erhebe keinen Anspruch auf mein Erbe in Hinterpommern, das sei an dieser Stelle besonders all den 61,5 Prozent Polen versichert, die sich nach mehr als 60 Jahren Kriegsende weiterhin vor deutschen Besitzansprüchen fürchten.

Ich fahre mit meinem Neffe Gernot zu dem Restaurant, wo das festliche Essen anlässlich des 80. Geburtstages meiner Schwester stattfindet, durch eine prächtige Villengegend Hamburgs: „Onkel Martin, siehst du dort drüben diese Jugendstilvilla? Da wohnt ein Kollege von mir, hat die Villa von seinen Eltern geerbt.“ Ich habe das Fazit einer statistischen Untersuchung parat und biete sie Gernot verschmitzt lapidar, quasi als Trost an: „Die Werte, die in den neuen Bundesländern nach dem Tod weitergegeben werden, sind vielfach geringer als in den alten.“


Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen

Подняться наверх