Читать книгу Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte - Martin Luther - Страница 75

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»Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.«

»Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat, um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?«

»Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.«

»Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da auf dem Stuhle sitzt!«

»Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.«

»Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!«

»Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern wollen, das ist eine andere Frage.«

Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem Wirte und schluchzte:

»Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen, so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!«

»Nein, behalten Sie es nur; ich brauch’ es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger haben. Setzt euch dort an den Tisch!«

Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche. Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu:

»Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch nicht weisen.«

Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.

Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder.

»Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir wollen. Nun passen Sie einmal auf!«

Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:

»Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann dieser Frau geschrieben hat.«

»Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio.

Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen. Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es, den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden, daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz – – El Dorado! Zweiter Blitz – – Millionär! Dritter und hellster Blitz – – Universalerbe! Ob er diese Blitze auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt.

Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers »Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte. Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können.

Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte, war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde.

Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden Stimme:

»Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in mich hinein. Hier aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!«

Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt, als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl!

Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte, die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich!

Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann:

»Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!«

Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen, welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden erfüllten.

Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke Gulden, indem er sagte:

»Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!«

Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-, sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir:

»Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts – – und doch, doch, ich kann auch etwas geben, wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«

Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

»Ich verkünde große Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Euer Heiland Jesus Christ – –«

Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:

»Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester spricht!«

Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien:

»Und der Priester legt die Hände

Segnend auf des Toten Haupt:

›Selig, wer bis an das Ende

An die ewge Liebe glaubt!

Selig, wer aus Herzensgrunde

Nach der Lebensquelle strebt

Und noch in der letzten Stunde

Seinen Blick zum Himmel hebt!

Suchtest du noch im Verscheiden

Droben den Erlösungsstern,

Wird er dich zur Wahrheit leiten

Und zur Herrlichkeit des Herrn.

Darum gilt auch dir die Freude,

Die uns widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Auch dein Heiland Jesus Christ!‹« – –

Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück, schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise, doch so, daß wir sie hörten, die Worte:

»Darum gilt auch dir die Freude, – – die uns widerfahren ist, – – denn geboren wurde heute – – auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir – – mir – – – mir! Ich habe ihn gesucht – gesucht – gesucht – – und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«

Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:

»Herr, nun lässest du in Frieden

Deinen Diener zu dir sehn,

Denn sein Auge hat hienieden

Deinen Heiland noch gesehn!«

»Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

»Betend faltet er die Hände,

Hebt das Auge Himmel an:

›Vater, gieb ein selig Ende,

Daß ich ruhig sterben kann!

Blicke auf dein Kind hernieder,

Das sich sehnt nach deinem Licht;

Der Verlorne naht sich wieder;

Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –

»Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein, nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten – – und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«

Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

»Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

»Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

»Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

»Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

»Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!«

Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:

»Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute; ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen; ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

»Warum denkst du das?«

»Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«

»Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«

»Was?«

»Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«

»Verdienter Weise?«

»Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick, mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen. Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«

»Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«

Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:

»Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst recht noch nicht fort!«

»Aber Ihre Frau – –?« fragte ich.

»Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«

»Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«

»Nein.«

»So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«

»So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«

»Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«

»Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! – – Halt, halt, ich hab’s, ich hab’s! Sind Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«

»Nein.«

»Ich steck’ nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus, wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag ich Ihnen, Herr – – – Sa – – Saff – – – Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen gar nicht merken. Karb – – Karb – – und Saff – – Saff – –!«

Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen, und sagte:

»Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«

Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern Westentasche, dann in allen Rock-und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal verschwunden.

»Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«

»Sollte etwa wieder deine Schwester – –?« erkundigte ich mich zart andeutungsvoll.

»Die?« antwortete er, ohne meine arglistige Verworfenheit zu ahnen. »Diesesmal ist sie unschuldig, wirklich unschuldig, denn ich habe den Paß ja im Stiefel gehabt. Alle Wetter, sollte ich ihn etwa wieder hineingesteckt haben? Das wäre ja eine Zerstreutheit, und die kommt bei mir niemals vor. Der Schuster hat die Nagelspitze ja doch abgezwickt! Aber besser ist besser; ich werde nachsehen. Welcher Stiefel war es denn? Weißt du es, Sappho?«

»Nein,« antwortete ich, den ewigen Gesetzen der Wahrheit leider ganz zuwider.

»So muß ich in alle beide Stiefel gucken; dann ist der richtige auf alle Fälle dabei.«

Er zog sie einen nach dem andern aus; der Paß war nicht da. Er zog der Sicherheit wegen dann auch die Strümpfe aus, überzeugte sich aber, daß auch sie ihm keinen Unterschlupf geboten hatten. Nun war guter Rat teuer. Wir suchten schließlich unter dem Tische, an welchem wir vorhin gesessen hatten, und da sah ich die weggeworfenen Reste der Fidibus, mit denen er sich seine Cigarren so oft in Brand gesteckt hatte. Ich wickelte sie auf, und richtig – – –!

»Hier, lieber Carpio, schau her!«

Als er die Rudera seiner polizeilichen Existenzberechtigung in Augenschein genommen hatte, wurde sein Gesicht länger und immer länger.

»Hier ist ein Viertel vom Direktorialstempel!« rief er aus. »Das stammt von meinem Passe! Wer hat die Fidibus gemacht?«

»Du selbst.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich kann beschwören, daß deine Schwester nicht hier gewesen ist.«

»Das kann ich auch. Aber mir ist ganz so, als ob du mir die Fidibus gegeben hättest!«

»Fällt mir nicht ein! Ich bin keine Schwester – eine Behauptung, welcher du wohl zustimmen wirst.«

»So bleibt freilich nichts anderes anzunehmen, als daß ich es selbst gewesen bin, der in meine Westentasche gegriffen hat. Unbegreiflich! Eine solche Gedankenlosigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Nun ist der Paß futsch, vollständig futsch! Wenn es nun der Polizei einmal einfällt, mich mit einem gesuchten Raubmörder oder durchgegangenen Bankdirektor zu verwechseln, so kann ich mich nur ruhig einsperren lassen, bis mich mein lieber Vater wieder holt!«

»Mach dir darüber keine Sorge! So lange ich bei dir bin, reicht mein Paß für uns beide aus, denn erstens habe ich keine Schwester, welche alle Dummheiten begeht, zweitens geht bei mir kein Nagel durch die Stiefelsohle, und drittens habe ich es auch noch nicht zum Fidibusfabrikanten en gros gebracht. Übrigens hast du weder mit einem Raubmörder noch mit einem Bankdirektor die geringste Ähnlichkeit.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil du für einen Bankdirektor viel zu jugend-und für einen Raubmörder viel zu tugendhaft aussiehst. Du wirst also einstweilen noch nicht eingesperrt werden.«

Diese Ausführungen waren von solcher Beweiskraft für ihn, daß er sich beruhigte.

Unser guter Franzl wurde durch die bekannte Association der Ideen von den Fidibus auf die Cigarren geleitet; er offerierte uns von neuem welche. Ich griff zu, warnte aber Carpio, dies auch zu thun, denn die Wirkung der mit dem Reisepaß genossenen war noch nicht vorüber. Er warf die Oberlippe verächtlich auf und würdigte mich keiner Antwort. Gegen den Wirt aber wurde er um so zutraulicher, was so weit ging, daß er ihm versprach, ihn zu den Osterferien, wo wir wiederkommen würden, mit gepaschten Cigarren zu versehen. Als Franzl dies hörte, machte er ein außerordentlich appetitliches Gesicht und fragte:

»Gepaschte? Hm! So etwas raucht man freilich lieber als diese hier; aber verstehen Sie sich denn auch auf dieses Geschäft?«

»Na, und ob!« antwortete Carpio, indem er eine Miene zog, als ob er schon Wagenladungen von Cigarren über die Grenze geschmuggelt hätte. »Wir sind ja diesmal auch nicht so ganz ohne gekommen!«

»Wie? Was? Wirklich? Wo haben Sie denn abgeladen?«

»Gleich hinter Eger. Am ersten Abend, nachdem wir über die Pfähle waren.«

»Bei wem denn?«

»Geschäftsgeheimnis!«

»Viel?«

»Will ich meinen!«

»Auf welche Art haben Sie denn das fertig gebracht?«

»Auf eine höchst – – höchst – –«

Da der Schmugglerhauptmann Carpio vor Verlegenheit ins Stocken kam, fuhr ich an seiner Stelle fort:

»Auf eine höchst lederne Art und Weise. Es hängt das mit dem vorübergehenden Domizile seines Passes eng zusammen.«

»War es bedeutend?«

»Vier.«

»Vier Tausend oder vier Centner?«

»Wir paschen nicht nach dem Tausend und auch nicht nach dem Centner, sondern nach der Qualität, und die war ausgezeichnet, so ungefähr wie ungarisches Weizenmehl Nummer Null. Wenn es uns auf unserer Osterreise in derselben Weise wieder glückt, werden Sie große Augen machen. Mehr kann ich jetzt nicht sagen!«

Der jetzige Gesprächsgegenstand hätte auch ohnedies nicht weitergeführt werden können, weil wir unterbrochen wurden. Die fremde Frau kam wieder zu uns. Sie brachte ihren Knaben mit und sagte, da ihr Vater nun eingeschlafen sei, würde es sie glücklich machen, hier im warmen Zimmer noch ein Weilchen bei uns sitzen zu dürfen. Es wurde ihr natürlich gern erlaubt. Franzl gab ihr noch ein Glas Wein und beschloß, um den Knaben zu erfreuen, die gegen seine Frau geplante Kriegslist schon jetzt gleich in Ausführung zu bringen. Er holte neue Lichter, welche aufgesteckt und angezündet wurden. Dann saß die Frau, ihr Kind zärtlich an sich gedrückt, im Glanze des Weihnachtsbaumes mit wehmütigem Lächeln da, ohne an unserem Gespräch teilzunehmen.

Carpio war infolge des ungewohnten Weines außerordentlich mitteilsam geworden; er erzählte seinen ganzen Lebenslauf oder vielmehr alles nach seiner Ansicht Merkwürdige, was sich auf demselben zugetragen hatte. Diese Merkwürdigkeiten bestanden meist darin, daß ihm durch die unbegreifliche Zerstreutheit anderer Leute die mannigfaltigsten Drangsale bereitet worden waren; besonders spielten seine Schwestern dabei eine große, für ihn verhängnisvolle Rolle, und wenn seine Erlebnisse wirklich so geschehen waren, wie er sie berichtete, so hatte er seine ganze Zeit und alle seine Geisteskräfte nur dazu anzuwenden gehabt, die Gedankenlosigkeit dieser jungen Damen für sich unschädlich zu machen. Als er dann auch auf unsere innige Freundschaft zu sprechen kam, hatte er die freundliche Gewogenheit, meine jungen Vorzüge mit einigen gütigen Streiflichtern zu berühren. Er erwähnte dabei, daß ich auch ein nur mit Sappho zu vergleichender Dichter sei, und daß das vorhin deklamierte Weihnachtsgedicht aus meiner berühmten Stahlfeder stamme. Als die Frau dieses hörte, fragte sie mich:

»Ist das wahr, wirklich wahr? Sind Sie wirklich der Verfasser dieses Gedichtes, Sie junger Mann?«

Ich bejahte diese Frage mit dem bekannten, sanften Erröten, welches ein Zeichen jener verdienstvollen Bescheidenheit ist, die jeden zeitgenössischen deutschen Dichter ziert.

»Wie mich das freut! Denn eigentlich bin ich dieses Gedichtes wegen noch einmal heruntergekommen. Es hat auf mich und ganz besonders auf meinen Vater einen tiefen Eindruck gemacht; ja, es schien, als ob es gerade nur für uns und für keinen andern Menschen gedichtet worden sei. Ich möchte es darum gern, ja gar so gern besitzen, und wollte Sie, der Sie es deklamiert haben, fragen, ob Sie mir es wohl diktieren möchten, falls ein Papier vorhanden wäre.«

Diese letzteren Worte waren an Carpio gerichtet, welcher Busenfreund sofort aufsprang und sein Notizbuch hervorzog. Ich habe bereits erwähnt, daß es eine Zeit gab, in welcher jeder Mitschüler mein Gedicht bei sich trug; Carpio war diesem Brauche treu geblieben. Dieser Busenfreund nahm es aus dem Buche und reichte es der Frau mit jener wundervoll abgerundeten, gentlemanliken Armbewegung hin, welche nur jungen Gymnasiasten eigen ist, wobei er sagte:

»Ich besitze es zweimal, nämlich im Kopfe und hier auf dem Papiere. Nehmen Sie, bitte, die Abschrift, und lassen Sie mir den Kopf, so ist uns beiden geholfen.«

Der gute Mensch schien diesen Worten nach zu fühlen, daß ihr mit seinem Kopfe wahrscheinlich sehr wenig geholfen sei. Sie zögerte nicht, sein Geschenk anzunehmen, und die Art und Weise, wie sie dies that und sich bei ihm und mir bedankte, bestätigte aufs neue unsere Ansicht, daß sie früher nicht das gewesen sei, was sie jetzt war. Dies brachte auf meinen Freund eine so gute Wirkung hervor, daß er ihr in geheimnisvoller Weise andeutete, es sei ihm auch außerhalb dieses Gedichtes möglich, ihr einen vielleicht noch größeren Dienst zu erweisen.

Als sie ihn hierauf stumm fragend anblickte, brannte er sich eine neue Cigarre an und begann dann, von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci zu erzählen. Er durchflog die Zeit vom Ende des fünfzehnten bis zum Beginn der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit feierlicher Gründlichkeit, überging nichts von allem, was während dieser Zeit in Amerika geschehen war, brachte dann seinen geheimnisvollen Verwandten zur Sprache und ließ dann endlich, worauf ich längst gewartet hatte, die drei bekannten Blitze los – El Dorado, Millionär und Universalerbe. Als er glaubte, sie nun gehörig vorbereitet zu haben, machte er ihr das Anerbieten, ihr ein Empfehlungsschreiben an diesen Verwandten mitzugeben.

Ich war fast starr vor Erstaunen! Mir, seinem Busenfreunde, hatte er ein solches Empfehlungsschreiben noch niemals offeriert, was er doch ganz gefahrlos hätte thun können, weil er mein Ideal, ein Globetrotter zu werden, nicht kannte und also annehmen mußte, daß ich während meines ganzen Lebens nicht in die Lage kommen würde, dieses Schreiben abzugeben. Und hier, wo er hundert gegen eins wetten konnte, daß man es abgeben werde, bot er es einer ganz fremden Person an, deren Busenfreund er nie gewesen war und auch niemals werden konnte!

Und die Frau? Sie ging auf seinen Vorschlag ein, vielleicht nur, um ihn nicht zu beleidigen, denn auf das Empfehlungsschreiben eines jungen Schülers war wohl nur wenig Wert zu legen. Er bat den Wirt um Schreibzeug und Papier und erklärte, als er dies bekommen hatte, der Frau, daß er nun freilich ihren Namen wissen müsse. Sie nannte ihm denselben, und so erfuhr ich, daß sie Elise Wagner hieß. Indem er schrieb, setzte er sich so, daß mein Blick das Papier nicht erreichen konnte. Also eine Fremde durfte die Adresse seines einstigen Erblassers wissen, ich aber nicht! Ich fühlte mich dadurch nicht beleidigt, denn ich war gewohnt, allen seinen Eigenheiten Rechnung zu tragen, und wendete mich ganz von ihm ab, damit er ganz sicher sei, daß ich ihm nicht ins Geheimnis schaue. Er vollendete, während ich mich mit dem Wirte unterhielt, den Brief, welchen er dann der Frau mit der bescheidenen Andeutung überreichte, daß ihr dieses Schreiben von ungeheurem Nutzen sein werde.

Grad als er dies that, wurde die Thür geöffnet, und die Wirtin trat herein. Der liebe Franzl mochte darüber wohl ein wenig erschrecken, beherrschte sich aber unsertwegen so, daß ihm nichts anzumerken war. Mein Busenfreund duckte sich zusammen, als ob er der Schuldige sei. Die fremde Frau sah dem Kommenden mit sichtlicher Bangigkeit entgegen. Franzl brannte sich, um sich für den Kampf zu stärken, eine neue Cigarre an.

Die Wirtin blieb erst ganz verwundert an der Thür stehen; dann kam sie langsam näher, bis sie vor ihrem Manne stehen blieb.

»Was brennst du denn da, Franzl?« fragte sie ihn in einem eigentümlich freundlichen Ton, dessen Bedeutung ich damals noch nicht kannte.

»Den Baum,« antwortete er mit ganz derselben Liebenswürdigkeit.

»Warum?«

»Weil’s Weihnacht ist.«

»Für wen?«

»Für mich.«

»Seit wann?«

»Seit kurzer Zeit.«

»So, so, schau, schau! Seit kurzer Zeit! Da sind die Lichte ein Viertel abgebrannt und vorher waren sie schon halb abgebrannt. Woher mag das wohl kommen?«

»Weil es wahrscheinlich eine Sorte ist, die vom Verbrennen länger wird.«

»So eine gute Sorte kenne ich nicht; die möchte ich mir auch gleich kaufen! Es wird aber wohl so sein, daß du erst die halben verbrannt und dann noch neue angezündet hast, damit ich nichts merken soll. Du hast gedacht, daß ich wie gewöhnlich nicht wieder hereinkommen werde. Ist es so, oder ist es nicht so, Franzl?«

»Es ist schon so.«

»Höre, ich will dir sagen: Es ist gut, daß du es wenigstens zusiehst! Also für dich brennst du den Baum?«

»Ja.«

»Nur für dich?«

»Für mich und diese Herren Studenten.«

»Dagegen hätte ich nichts, wirklich nichts, denn du bist auch einer gewesen, worüber wir beide noch heute unsere Freude haben. Also du brennst ihn für sonst weiter gar niemand?«

»Nein.«

»Schön! Jetzt sagst du mir die Wahrheit nicht. Du magst für dich und die Herren Studenten anbrennen, was und wann du willst, Wein trinken und Cigarren rauchen, so viel du willst, aber – aber –« und jetzt stieg ihre Stimme plötzlich um eine Septime höher, und sie stemmte die Hände in die Hüften – – »für wen, frag ich, hat er denn vorhin gebrannt, als die Wurst und der Kuchen und die Kleider und das Geld darunterlagen und dieser Herr Student ein so schönes Gedicht geredet hat, von dem ich jedes Wort verstanden hab’?«

Jetzt sprang Franzl auf.

»Weib,« rief er, »du hast gehorcht!«

»Ja, gehorcht hab ich,« nickte sie triumphierend.

»Wo?«

»Dort am Fensterladen.«

»Grad dort am Fenster, wo der Baum auf dem Tische steht?«

»Ja, grad dort am Fenster, wo der Laden ein großes Astloch hat!«

»Du, das machst du mir nicht wieder!«

»Nicht? Warum sollte ichs nicht wieder machen? Das Haus ist mein; der Laden ist mein, und das Astloch ist also auch mein; ich kann hindurchgucken, wann es mir beliebt. Von dem ganzen Hause ist nicht einmal dieses Astloch dein, und du verschenkst mein Geld und meine Sachen und willst mir auch noch zu befehlen haben?«

»Höre, beleidige mich nicht in Gegenwart von Studenten, sonst zeige ich dir, was Sapienti pauca heißt!«

Er wußte höchst wahrscheinlich ebenso wenig wie sie, was diese beiden Wörter bedeuteten, dennoch verfehlten sie den Zweck, ihr zu imponieren, nicht. Er wollte ihr durch sein Latein nur zeigen, daß er ihr geistig überlegen sei; mochte sie nun dies anerkennen oder dem Worte pauca einen etwas gewaltthätigen Sinn beilegen, kurz und gut, sie antwortete:

»Einverstanden! Pauke deine Sapienti jetzt, aber morgen früh sehen wir uns wieder!«

Sie drehte sich um und ging hinaus.

»Bei allen Heiligen,« seufzte er, indem er sich wieder niedersetzte, »sie hat gelauscht; sie hat alles gesehen und gehört! Dieses Astloch, das verteufelte! Na, morgen nagle ich es zu; ich nehme das dickste Brett und schlage es drauf!«

Die Wirtin aber hatte die Thür nicht zugemacht, sondern nur angelehnt; sie war draußen stehen geblieben und hatte seine Worte gehört. Jetzt kam sie wieder herein, ging auf ihn zu, legte ihm die Hand vertraulich auf die Achsel und sagte lachend:

»Franzl, ich weiß ein Brett, das so dick wie kein anderes ist; du hasts vor deinem Kopf. Nimm das und nagle es vor das Loch; dann geht nicht nur kein Blick, sondern sogar auch keine Kanonenkugel durch! Kennt dieser Mann seine Frau noch nicht! Sollte man das für möglich halten? Bin ich etwa eine Geizkatze, he? Sehe ich dir auf die Finger, wenn du Geld ausgiebst? Ist nicht alles, was wir verdienen, ebenso gut dein wie mein? Aber es ist mir nicht gleichgültig, wer in meinem Hause wohnt, und wenn du eine Christbescherung machst und meine Kleidungsstücke verschenkst, so will ich auch dabei sein und vorher erst gefragt werden! Den Kuchen, den du verschenkt hast, habe ich gebacken, und die Wurst habe ich mir langsam und mit saurer Mühe, weil das Schwein partout nicht fett werden wollte, heranfüttern müssen; da will ichs wenigstens wissen, wenn du etwas davon verschenkst! Also so etwas nicht wieder hinter meinem Rücken machen! Verstanden? Man muß nicht nur geben, sondern auch sparsam sein können! Und nun komm her, du alter überguter, offenhändiger Studente du! Da will ich dir nun auch etwas schenken, wenn es auch keine Speckwurst ist. Hier! Und damit gute Nacht!«

Sie nahm ihn beim Kopfe und gab ihm einen Kuß von solcher Resonanz, daß er eigentlich eine volkstümlichere Bezeichnung verdiente. Dann ging sie wieder fort und machte die Thür nun wirklich hinter sich zu. Franzl sah ihr schmunzelnd nach, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab, schlug dann mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Hab ich’s nicht immer gesagt, was für eine kreuzbrave Frau ich hab’? Wer eine andere Meinung von ihr hat, der mag nur herkommen; ich haue ihn zusammen, daß er sich selber nicht mehr finden kann! Das ist eine Frau, die sich gewaschen hat! Verstanden? Es giebt ihresgleichen nicht im ganzen, weiten Böhmerland! Wie hat sie mich geheißen? Du alter, überguter Studente du! Ja, die weiß, was für einen Mann sie an mir hat! Nicht so einen, der den Schnitt eines Buches nicht vom Rücken unterscheiden kann, sondern einen hochgebildeten und studierten Mann, der sein Latein versteht. Qui tangit picem, contaminabitur; so ist die Sache. Was sagen Sie dazu, meine lieben, hochgeehrten, jungen Freunde?«

Ehe einer von uns beiden antworten konnte, stand Frau Wagner von ihrem Stuhle auf und sagte, indem sie sich mit der Hand über das schmerzlich verzogene Gesicht strich:

»Auch ich habe gehört, was für eine brave Frau Sie haben und es thut mir leid, daß Sie sich meinetwegen beinahe mit ihr überworfen hätten. Müßte ich nicht Rücksicht auf meinen armen Vater nehmen, so würde ich noch diese Nacht, gleich jetzt, Ihr Haus verlassen; aber er muß und muß heut schlafen, wenn er morgen nicht im Schnee liegenbleiben und erfrieren soll. Dann werden wir Sie keinen Augenblick länger belästigen. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank, und leben Sie wohl, meine Herren!«

»Aber, was fällt Ihnen ein?« versuchte Franzl, sie zu halten. »Sie haben ja gehört, daß meine Frau gar nichts dagegen hat, daß Sie hier bei uns bleiben. Sie dürfen sich den Kuchen und die Wurst nicht so zu Herzen nehmen; das hat sie nicht so schlimm gemeint, wie Sie es nehmen, und – – Da ist sie fort, hinaus mit ihrem Knaben! Klang das, was sie sagte, nicht etwas stolzer, als so ein nicht bezahlender Gast eigentlich sein darf, meine Herren?«

»Sie thut mir leid, außerordentlich leid« antwortete ich.

»Ich wollte, ich wäre reich, wenigstens wohlhabend genug, ihr helfen zu können. Sie wird früh, wenn wir aufstehen, mit ihrem Vater und mit ihrem Kinde verschwunden sein.«

»Verschwunden? Fällt ihr nicht ein!«

»O doch!«

»Nein. Sie wird ausschlafen und dann Kaffee trinken; hernach werden wir sehen, ob der Alte fortkann oder nicht.«

»Haben Sie nicht gehört, daß sie Lebewohl und nicht Gutenacht gesagt hat?«

»Das ist nicht so wörtlich zu nehmen, wie Sie denken.

Aber, Herr Capp – Carp – Carpio, was ist denn mit Ihnen? Was machen Sie für ein Gesicht?«

Mein Busenfreund hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und das Gesicht in die Hände vergraben. Als er auf die Frage des Wirtes die Hände entfernte, sahen wir, daß seine Wangen bleifarben und seine Augen matt geworden waren. Die Unterlippe hing ihm weit herab.

»Ihre – – Ihre – – Frau – – Frau!« seufzte er.

»Was ist mit meiner Frau?«

»Die ist schuld!«

»Woran?«

»Mir ist, als – – als – – als ob ich – – sterben müßte!«

»Unsinn! Da ist die Cigarre schuld; die Virginias sind für Sie zu schwer gewesen.«

»Nein – nein – – nein! Über Ihre Frau bin ich – – – so sehr erschrocken – – – aber nicht über die Virginias.«

»Erschrocken? Warum denn eigentlich?«

»Sie kam – – herein wie eine – – eine Furie!«

»Ach was Furie! Meine Frau ist eine Seele von einer Frau und keine Furie. Da, nehmen Sie ein volles Glas, und trinken Sie es aus! Das ist das beste Mittel, wenn einen der Cigarrenteufel in den Magen beißt.«

»Nein, nicht beißt, sondern hebt – hebt – – hebt und sogar um – – um – – umwenden will!«

»Trinken Sie nur! Es hilft; ich weiß es genau.«

Ich wußte nicht, ob das empfohlene Mittel wirklich anzuraten sei, denn meine Bekanntschaft mit dem Weine und seinen Wirkungen war damals genau so tief und umfassend, wie die Kenntnisse eines Eskimo über Datteln und Bananen; aber weil Franzl mit solcher Überzeugung zuredete, unterstützte ich seinen Rat, worauf mein Busenfreund das Glas leerte und dann wie ein Seekranker nach dem Kanapee wankte, um sich auf demselben auszustrecken. Ich bat den Wirt, uns schlafen gehen zu lassen; er aber erklärte lachend:

»Fällt mir gar nicht ein! Wir bleiben noch recht hübsch beisammen. Ich muß die Gelegenheit ausnützen, denn an Ihr Wiederkommen darf ich doch nicht glauben, denn das mit dem Paschen war doch bloß Phantasie?«

»Ja; es versteht sich doch ganz von selbst, daß wir keine Schmuggler sind. Wir haben pro Person zwei Cigarren in die Stiefel gesteckt, obwohl ich wußte, daß man mehr mitnehmen darf. Ich wollte Carpio nicht um das Vergnügen bringen, sich für einen staatsgefährlichen Menschen zu halten.«

Da richtete sich der Genannte kerzengerade vom Kanapee auf und sprach mich mit hohler, drohender Grabesstimme an:

»Ich staatsgefährlich? Ja! Wenn es mir so bleibt, wie es mir jetzt ist, so – – so – – kann es schrecklich werden, denn da – da – da falle ich gleich wieder um!«

Er that, was er gesagt hatte. Franzl lachte lustig auf; ich aber hatte Sorge um den Freund und drang so lange in den unermüdlichen Wirt, bis er, allerdings gegen das Versprechen, morgen noch bei ihm zu bleiben, darauf einging, uns unser Zimmer zu zeigen. Ich zog Carpio vom Sofa auf und umfaßte ihn, um ihn zu führen; er aber riß sich los und sagte:

»Ich brauche keine Stütze. Ich bin nur drehend von den starken Cigarren, die – – die – – ich habe ja nichts, gar nichts gegessen!«

»Ich glaube, der Wein ist auch mit schuld.«

»Möglich! Doch darüber später, wenn wir allein sind. Komm!«

Er nahm mich bei der Hand und wankte, während Franzl uns leuchtete, an derselben hinaus und die Treppe hinauf, wo unsere »gute Stube« lag. Als uns der Wirt in diese geführt hatte, sagte er uns Gutenacht und ging, indem er das Licht zurückließ. Wir sahen uns um.

»Gute Stube!« Jawohl, das war sie allerdings, und zwar eine sehr gute, eine außerordentlich gute Stube! Man weiß, was für einen Raum der Bürgersmann mit diesem Ausdrucke zu bezeichnen pflegt, nämlich eine Stube, in welcher alle möglichen und unmöglichen sogenannten »besseren« Möbeln und sonstige Herrlichkeiten vom Urgroßvater her aufgestellt und zusammengeschachtelt werden, wobei natürlich auch der obligate Glasschrank nicht fehlen darf. Dieses Raritätenkabinett wird selten betreten, noch seltener gelüftet, gilt als Familienheiligtum und darf nur alle Jahrhunderte einmal einem Gaste, den man besonders ehren will, als Schlafzimmer dienen.

Auch die besser situierten Stände haben gute Stuben, allerdings »Salons« genannt. An ihre Einrichtung ist mehr Geld verschwendet worden, als die Mittel eigentlich erlauben; diese teuren Sachen müssen geschont werden; darum sind sie nicht zum Gebrauche sondern zum Prunk, zum Anstaunen da, und selbst wenn der Hausherr es einmal wagen wollte, sich auf einen solchen Stuhl zu setzen oder den Teppich mit seinen Stiefeln zu berühren, würde er von der Dame des Hauses einfach und ohne Anwendung übermäßiger Höflichkeit zur Thür hinauskomplimentiert.

Das Zimmer, in welchem wir schlafen sollten, war nicht gebrauchsunfähig und dennoch, zumal nach unserer persönlichen Ansicht, eine gute Stube im wahrsten Sinne des Wortes. Es standen da zwei breite Betten, so breit, daß jedes von ihnen drei Personen genügend Platz geboten hätte, der schon erwähnte Glasschrank, ein Tisch, ein Kanapee und zwei Stühle. Mehr als diese Möbel aber interessierte uns ein dreibeiniger hölzerner Schragen, welcher wohl ein Dutzend Äpfel-, Käse-, Quark-und andere Kuchen trug. Noch entzückender war der Anblick des Himmels über uns. In diesen, nämlich in die hölzerne Zimmerdecke, waren zahlreiche Haken eingeschraubt, an denen Schinken, Räucherspeck, sonstiges Fleisch und alle möglichen Sorten von Würsten hingen. Diese Herrlichkeiten erfüllten die gute Stube mit einem kräftigen Dufte, dessen Wirkung sich nicht nur auf die Geruchs-, sondern auch auf alle übrigen Nerven zu erstrecken schien, denn Carpio, der eben noch so hinfällige, richtete sich zu seiner vollen Länge empor, sog den Geruch mit Wohlbehagen ein und sagte:

»Freund Sappho, ein gütiges Geschick hat uns in das Elysium geführt; Franzl ist das Geschick, und wo sich das Elysium befindet, das brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Es weht ein Odem überirdischen Behagens hier, dem jede Krankheit weichen muß. Ich werde die letzten zwei Stunden in meinem ganzen Leben nicht vergessen; es war mir unbeschreiblich schauderhaft zu Mute. Ich fühlte mich nicht mehr als Mensch, sondern ich kam mir wie ein großer, dicker Sack voll Jammer und Elend vor. Ich habe alle zehntausend Niederträchtigkeiten des Erdenlebens in diesen beiden Stunden durchgemacht und bin davon so vollständig befriedigt worden, daß ich satt genug für immer bin. Das Nikotin ist ein Drache, der mich niemals wieder in seine Krallen bekommen soll, und das Alkohol eine Schlange, die ich zähmen werde, weil man doch nicht für immer von ihr loskommen kann, denn sie taucht in hunderterlei Arten auf, die oft gefährlich, zuweilen aber auch nützlich sind. In meiner höchsten Qual und Not nahm ich mir vor, dir, meinem Freunde, an Eides statt ein heiliges Versprechen abzulegen, nur wußte ich noch nicht in welcher Form. Nun ich aber hier in dieser guten Stube die verloren gegangene Lebensfreude wieder finde und auch fast wieder logisch denken kann, verspreche ich dir bei diesen Schinken und Würsten, welche die erlaubten, die wahren Genüsse des Lebens repräsentieren, daß ich mich niemals wieder von einem heuchlerischen, hinterlistigen Genusse verlocken lassen werde, auf meine Menschenwürde, wenn auch nur für eine Stunde, zu verzichten. Es ist nicht Scherz, sondern mein vollster, wahrster Ernst. Nie wieder soll der Tabak meine Lippen berühren, und jedes Getränk, welches Alkohol enthält, sei mir fortan nur als Arznei erlaubt. Ich habe mein Versprechen bei diesen ehrlichen Schinken und hochachtbaren Würsten abgelegt; du bist dessen Zeuge und sollst mich vor jedermann für einen ehrlosen Menschen erklären, wenn du mich jemals rauchend oder gar berauscht zu sehen bekommst. Hier, meine rechte Hand darauf!«

Der sonst so wortkarge Freund pflegte nur gegen mich, zumal während unsrer Wanderungen, aus seiner Schweigsamkeit herauszutreten; jetzt hatte er gar eine Rede gehalten, was mir als unumstößlicher Beweis dafür diente, daß es ihm völliger Ernst mit seinem Versprechen war. Ich will übrigens gleich jetzt und im voraus bemerken, daß, wie meine lieben Leser später auch selbst noch sehen werden, er dieses Versprechen stets gehalten hat.

Ich nahm die mir dargereichte Hand, schüttelte sie ihm herzlich und sagte:

»Es freut mich, daß du die Lehre, welche du erhalten hast, beherzigen willst. Die Virginias wachsen nicht für Knaben, sondern nur für erwachsene Männer auf den Tabaksbäumen Österreichs.«

»Du nennst mich, deinen Busenfreund, einen Knaben?!«

»Ja.«

»Und denkst wohl aber, du selbst seist ein Mann?«

»Ja.«

»Wohl etwa nur darum, weil die Cigarren dich nicht elend gemacht haben wie mich?«

»Ja, denn es war eine höchst männliche Selbstbeherrschung von mir, daß ich dieses Kraut des Teufels mäßig genossen habe, während du grad wie ein kölner Funke geräuchert und gestopfholzt hast.«

»Dafür hast du aber mehr Wein getrunken als ich!«

»Weil ich merkte, daß ich ihn vertragen konnte!«

»Ja, leider bist du in dem glücklichen Besitze eines Magens, dem es ganz gleichgültig ist, ob er jetzt drei volle Tage hungern und gleich darauf einen ganzen Berg voll Kieselsteine, Beißzangen und Ofengabeln verdauen muß! Das ist aber gar kein Beweis der Männlichkeit, mit welcher du dich brüstest. Wer einen Knaben seinen Busenfreund nennt, ist selbst noch ein Knabe; das merke dir. Nicht du selbst bist mir über, sondern nur dein Magen ist besser als der meinige; das ist die ganze, bevorzugte Stellung, welche du in der heutigen Weltgeschichte einnimmst.«

»Mein Sohn, ich habe dich vor den Folgen des Tabaks gewarnt, und wer einen andern Menschen warnt, der beweist damit, daß er ihm über ist. Ich habe sogar jetzt wieder eine Warnung, eine sehr ernste, eindringliche und berechtigte Warnung auf den Lippen.«

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