Читать книгу Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte - Martin Luther - Страница 77

Der Prayer-man

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Inhaltsverzeichnis

Eine Reihe von Jahren war nach dem bisher Erzählten vergangen; das Leben hatte mich in seine strenge Schule genommen und aus dem unerfahrenen Knaben einen Mann gemacht. Aber die Härte, mit welcher es mich behandelte, war eine nur scheinbare, denn ich hatte mir ja meinen Weg selbst vorgezeichnet und neben all den Anstrengungen und Entbehrungen, welche mich trafen, auch Freuden und Genugthuungen gefunden, die mir bei einem andern, ruhigeren Lebensgange versagt geblieben wären. Hatte ich doch – und das war eine der reichsten Gaben, die mir geworden sind, – meinen herrlichen, unvergleichlichen Winnetou kennen gelernt und mit ihm eine Freundschaft geschlossen, welche ich fast als einzig dastehend bezeichnen möchte. Diese Freundschaft allein wäre schon eine vollwichtige Entschädigung für alle erlittenen Mühsale und Entsagungen gewesen, aber an dem rauhen Pfade, den ich wanderte, standen auch noch andere schöne Blüten und Früchte, welche ich mir pflücken durfte. Hierzu gehörte vor allen Dingen die Liebe, welche mir von allen meinen braven Bekannten entgegengebracht wurde, während diejenigen, welche kein reines Gewissen hatten, nichts so fürchteten wie die Namen Winnetou und Old Shatterhand.

Meinen letzten Ritt hatte ich mit diesem edelsten der Indianer vom Rio Pecos aus durch Texas und das Indianer-Territorium nach dem Missouri gemacht, von welchem aus er, während ich zurückblieb, nach den Bergen ritt, um Nuggets zu holen. Da ich von vielen meiner Leser über die zwischen Winnetou und mir herrschenden Geldverhältnisse gefragt worden bin, benutze ich die jetzige Gelegenheit eine Andeutung darüber zu geben.

Man sprach und spricht noch heute sehr oft davon, daß die Indianer große Goldlager gekannt haben oder noch kennen, welche sie weder selbst ausbeuten noch den Weißen verraten. Selbst der qualvollste Tod könne sie nicht bewegen, ein solches Geheimnis mitzuteilen. Nun haben zahlreiche Schriftsteller, welche nie über den Ocean gekommen sind und von den Indianern und deren Verhältnissen überhaupt keine blasse Ahnung besitzen, diese Sage aufgegriffen und unsere Litteratur mit einer Menge von Büchern – – ja nicht etwa bereichert, in denen regelmäßig von der Entdeckung solcher verborgener Goldlager erzählt wird. Die Herren Verfasser haben sogar sehr häufig die Güte, mir ihre Machwerke mit der Bitte einzusenden, ein Vorwort dazu zu schreiben oder ihnen in sonst irgend einer Weise in Beziehung auf den »wohlverdienten« Absatz beizuspringen. Mich ekelt sehr oft schon der Titel an, und wenn ich mich trotzdem überwinde und einen Blick auf den Inhalt werfe, so dauert es gewöhnlich nur kurze Zeit, bis ich das Dings zuklappe, um es dem Verfasser wieder zuzustellen. Eigentlich sollte man solche nichtsnutzige oder gar schädliche Schreibereien gleich verbrennen dürfen, zumal sie ja meist für die Jugend bestimmt sind, ohne daß der Verfasser zu wissen scheint, daß für diese das Beste eben nur grad gut genug ist.

Ich habe eben jetzt so eine Lehrjungenarbeit zugeschickt bekommen, welche den Titel »Der König der Illoris« führt und drüben in den Felsengebirgen spielt. Nun frage ich, wo es einen Stamm dieses Namens giebt. Der Herr Verfasser, von welchem leider, leider schon mehrere Indianergeschichten für die Jugend, und noch dazu von einer hervorragenden Verlagsbuchhandlung, veröffentlicht worden sind, weiß nicht einmal, daß die Indianer nicht von Königen regiert werden, sondern sich selbst ihre Häuptlinge wählen, die sie ebenso gut wieder absetzen können. Und das ist bloß der Titel! Der Inhalt bringt ein fortwährendes Blutvergießen; jede Person, mit welcher der Verfasser nichts mehr anzufangen weiß, läßt er ermorden; da ist er sie doch los. Die Namen sollen indianische sein, kommen aber in keiner einzigen Sprache der Erde vor, weil er sie alle erfunden hat. Was von dieser Erzählung verdaulich ist, hat er mir nachgemacht. Er bringt genau eine so innige Freundschaft, wie zwischen Winnetou und mir herrschte, ferner meinen Jagdhieb, meinen Henrystutzen, meinen Hengst, natürlich aber unter anderen Namen; ebenso kommen Doppelgänger von Old Firehand, Sam Hawkens, Dick Stone, Bill Bulcher, den beiden Toasts u.s.w. vor; aber alles, was er von ihnen erzählt, hat oder hätte da drüben in den Felsenbergen ganz unmöglich geschehen können. Er besitzt auch nicht eine Spur von Kenntnis der dortigen Verhältnisse und spricht von ihnen in der Weise, in welcher ein Kaffer etwa über das Parallelogramm der Kräfte oder die Absorption des Sternenlichtes sprechen würde, falls er gezwungen wäre, zu verschweigen, daß er überhaupt nichts davon weiß. Daß ein solches Buch keinen Nutzen sondern nur Schaden bringen kann, versteht sich ganz von selbst, dennoch kann ich nur meine Empfehlung verweigern, habe aber keine Macht, den Druck desselben zu verhindern. Der Verleger ist zwar in Beziehung seiner Kenntnisse über die Indianer ebenso ein Idiot wie der Verfasser, aber ein gewandter Geschäftsmann und wird Tausende von Exemplaren verkaufen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, daß er den wohlberechtigten Wissensdurst der Jugend benutzt hat, sein ungesundes Mischmasch zu teurem Preise an den Mann zu bringen.

Natürlich behandelt auch dieses Werk einen armen Indianer, welcher ein ungeheures Goldlager kennt und dem man mit geradezu scheußlichen Martern so lange zusetzt, bis er sein Geheimnis verrät. Ich sage, wenn derartige Kenntnisse so häufig wären, wie solche Erzählungen es den Lesern weismachen wollen, so würde es nicht Tausende und Abertausende von armen, roten Männern geben, welche, hungernd und frierend, ihre Blöße kaum bedecken können und als körperlich und moralisch heruntergekommene Bettler und Vagabunden vor den Thüren derer herumstreichen, von denen sie um alles, was sie früher besaßen, gebracht worden sind.

Damit soll freilich nicht gesagt werden, daß die Kunde von Indianern, welche solche Geheimnisse gekannt haben, in allen Fällen eine Unwahrheit gewesen ist. Oh nein; ich selbst habe ja auch Rote gekannt, und zu diesen gehörte mein Winnetou, welche, wenn sie Gold brauchten, genau wußten, wo sie es zu holen hatten; aber das waren nicht gewöhnliche Männer, sondern sie gehörten alten, hervorragenden Familien an, in denen derartige Geheimnisse vom Vater auf den Sohn vererbten und niemals einem andern Familien-oder Stammesmitgliede, am allerwenigsten aber einem Weißen mitgeteilt wurden. Man muß nämlich wissen, daß der Sinn für Familienangehörigkeit, also der Stolz auf eine ungewöhnliche Abkunft, dem Indianer nicht etwa etwas Unbekanntes ist. Dieser Sinn wird ihnen allerdings sehr häufig abgesprochen; aber wer das thut, verrät dadurch nur seine Unkenntnis und plappert gedankenlos Behauptungen nach, welche von den Unterdrückern der roten Rasse vorgebracht worden sind, um ihr grausames Vergehen in einem weniger verwerflichen Lichte erscheinen zu lassen. Es giebt unter den roten Stämmen berühmte Familien, denen anzugehören eine große Ehre ist. Daran kann der Umstand, daß die Indianer sonst keine Familiennamen besitzen, gar nichts ändern. Es ist da bei ihnen genau so wie z. B. bei gewissen Völkern des Altertumes und des heutigen Orientes, die auch keine Familiennamen kannten oder kennen und doch Familien aufzuweisen haben, welche sogar weltgeschichtlich berühmt geworden sind.

Winnetou konnte eine ganze, lange Reihe berühmter Vorfahren aufzählen, welche alle Häuptlinge gewesen waren. Er kannte ihre Wirksamkeit und jede einzelne ihrer Thaten und hatte von ihnen die Kunde von Placers überkommen, über welche ihn selbst die ausgesuchtesten Martern nicht hätten zum Reden bringen können. Ich war der einzige Mensch, dem er, aber auch nur höchst selten und dann ganz, ganz von weitem, eine leise Andeutung darüber machte. Dazu kam, daß sein überhaupt so unvergleichlich scharfes und geübtes Auge einen ungewöhnlichen Blick für Fundorte edlen Metalles besaß. Ich wußte, daß er auf seinen vielen Wanderungen von einem Stamme zum andern selbst auch Stellen entdeckt hatte, wo Gold oder Silber zu finden war. Er hatte dann oft tage-, ja wochenlang zugebracht, diese Orte unzugänglich zu machen oder wenigstens so zu verbergen, daß ein anderer sich lange Zeit in unmittelbarer Nähe befinden konnte, ohne zu ahnen, daß er an einer Quelle großen Reichtums sitze.

Solche Stellen waren es, die er aufsuchte, wenn er einmal in die Lage kam, Geld zu brauchen. Im wilden Westen war dies nie der Fall, denn da schoß er sich unterwegs das Fleisch, welches er zur Nahrung brauchte, und konnte darauf rechnen, in jedem befreundeten Lager oder Zelte mit Freuden als Gast aufgenommen zu werden. Aber wenn er ein Fort oder eine sonstige Niederlassung aufsuchen mußte, um Munition zu kaufen, oder wenn er eine weitere Reise nach den »civilisierten« Gegenden unternahm, dann brauchte er Geld, und da versah er sich vorher stets mit einem Vorrate von Nuggets, welche er gegen geprägte Münze oder »mit Zahlen versehenes Papier« umtauschte.

Daß dann seine Kasse, wenn ich bei ihm war, auch für mich offen stand, brauche ich eigentlich nicht erst zu sagen; aber es kam das nicht sehr häufig vor, denn ich gehöre nicht zu der Art von Menschen, für welche es eine Freundschaft nur giebt, um angezapft zu werden. In der Not um Geld würde ich mich nur an Fremde, nie aber an einen Freund wenden, denn ich weiß aus Erfahrung, welche ich an andern, sonst ganz guten Menschen machte, daß das Borgen ein wahrer Freundschaftsmörder ist. Man sage mir dagegen, was man will, ich behaupte doch: Es sei mir jemand noch so wohlgesinnt, er fühle eine noch so große Hochachtung für mich und er sei von meiner Zahlungsfähigkeit auch noch so felsenfest überzeugt, sobald ich mir hundert oder fünfzig oder auch nur zwanzig Mark von ihm borge, fällt ein wenn auch noch so kleiner Tropfen auf die schönen Schwingen unserer Freundschaft und nimmt, wenn auch nur einige der glänzenden Schuppen weg – – der Schmetterling ist von jetzt an lädiert. Die wahre Freundschaft ist zum größten Opfer, die zwischen Winnetou und mir war sogar zum Opfer des Lebens bereit; diese Opferbereitschaft ist etwas Hohes, Heiliges, das Borgen aber etwas so Alltägliches, Niedriges, trivial Materielles, daß es zwischen Freunden vermieden werden und nur – – zwischen zwei blutarmen Gymnasiasten und dem lieben Franzl in Falkenau vorkommen sollte!

Zwar, wenn Winnetou für mich bezahlte, war das kein Borgen zu nennen, und er hatte die Nuggets umsonst; aber auch dieses Wort »bezahlen« hat, wenn es für einen andern, und sei dieser der beste Freund, geschieht, einen andern Klang als wenn man für sich selbst bezahlt. Hätte er mich mit an das Placer genommen und mir erlaubt, soviel Nuggets, wie ich brauchte, einzustecken, dann ja, gut! Aber was er in seiner Tasche hatte, das waren für mich nicht mehr herrenlose Nuggets, sondern das war sein Gold, sein Geld, und wenn er das für mich ausgab, so hatte ich immer das Gefühl, als dürfe ich nicht mit dabei sein, als müsse ich hinausgehen, um es nicht zu sehen. Und dieses Gefühl war es, welches mich dafür sorgen ließ, von seinen Nuggets möglichst unabhängig zu sein.

Sobald wir nämlich in eine bewohnte Gegend kamen, welche Postverbindung hatte, verwandelte ich mich aus dem Westmanne in den Schriftsteller. Meine Arbeiten wurden von jeder Zeitung gern aufgenommen und meist sofort und gut bezahlt. Diese Honorare waren es, welche mir meine Unabhängigkeit ermöglichten, und diese Zeitungsbeiträge sind es, welche den Reiseerzählungen zu Grunde liegen, mit denen ich seit einiger Zeit vor meine Leser getreten bin. Winnetou fühlte genau wie ich. Es ist ihm nie eingefallen, mir auch nur die geringste Andeutung darüber zu machen, daß dieses Schreiben für Honorar doch ganz überflüssig sei. Er hat sogar oft, wenn die Bezahlung nicht gleich eintreffen wollte, mit mir obgleich wir eigentlich keine Zeit dazu hatten, geduldig gewartet, bis sie kam, und sich dann ebenso darüber gefreut, als ob er selbst der Verfasser, und zwar ein mittelloser Verfasser sei. Ich erinnere mich noch heut mit Vergnügen einer Zurechtweisung, die ein reicher Pflanzer, dessen Knaben ich aus dem Missisippi gezogen hatte, von ihm erfuhr. Dieser Mann wollte, weil er mich wegen meines abgetragenen Prairieanzuges für einen armen Teufel hielt, mich mit einer Geldsumme belohnen; Winnetou aber trat sofort zwischen ihn und mich, blitzte ihn mit seinen Augen zornig an und sagte:

»Kann man das Leben eines Menschen mit Geld bezahlen? Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen, und dieser Gentleman ist Old Shatterhand, mein Freund. Er könnte Millionen besitzen, wenn er sie von mir annähme; er mag sie aber nicht. Und du willst ihm diese armseligen Dollars schenken? Stecke sie ein; du brauchst sie selbst!« –

Also ich war mit Winnetou an den Missouri gekommen, und zwar nach St. Joseph, wo es damals fünf Zeitungen, darunter eine deutsche, gab und die Verbindung mit St. Louis, respektive den Redakteuren der dortigen Zeitungen, eine so gute war, daß ich auf Erfüllung meiner schriftstellerischen Wünsche nicht lange zu warten brauchte. Winnetou hatte sich da von mir getrennt, um, wie bereits gesagt, Nuggets zu holen, denn wir hatten die Absicht, über den Missisippi nach dem Osten zu gehen, wozu wir natürlich Geld brauchten. Das Ziel des Häuptlings kannte ich nicht; er hatte nur gesagt, daß er sich nach Verlauf von zwei Wochen wieder bei mir einstellen werde.

St. Joseph war damals der westliche Endpunkt der Hannibal-St. Joseph-Eisenbahn und hatte unter seinen 7ooo Einwohnern ungefähr 2ooo Deutsche. Es bedurfte nur der kurzen Benachrichtigung, daß Old Shatterhand da sei, so kamen die Besitzer der Newspapers, um Beiträge von mir zu verlangen. Ich befriedigte sie alle binnen drei Tagen und konnte mir von dem erhaltenen Honorare einen feinen Anzug und Wäsche für unsere Reise nach dem Osten kaufen. Diesen Anzug nahm ich natürlich sogleich in Gebrauch, denn mein Habit aus Elkleder war mir während des Schreibens zu schwer und unbequem. Dann schrieb ich für St. Louis und erbat mir die Honorare nach Weston, wohin ich fahren wollte, um mir dort bis zu Winnetous Rückkehr auch etwas zu verdienen.

Diese Stadt, deren Einwohner zum dritten Teile Deutsche waren, liegt in einer kulturell sehr reichen Gegend und hatte sich durch die Emigrantenzüge sehr gehoben. Sie besaß damals, glaube ich, fünf Kirchen, darunter zwei deutsche. Die Deutschen befanden sich in den besten Verhältnissen und hatten mehrere Vereine, sogar eine Jägerkompagnie gegründet.

In St. Joseph war ich keine Viertelstunde lang mein eigener Herr. Es regnete förmlich Einladungen, und da ich diesen, um lieber zu arbeiten, nicht folgte, so kamen die Leute zu mir, um mich zur Schilderung unsers Lebens im Wildwest aufzufordern. Das paßte mir natürlich nicht, und damit es mir in Weston nicht ebenso ergehen möge, nahm ich mir vor, dort meinen Namen zu verschweigen. Und weil mein Pferd, dessen Beschreibung überall bekannt war, mich hätte verraten können, gab ich es einem Farmer in Pflege und fuhr mit einem Missouriboote von St. Joseph ab, nachdem ich nur meinen Wirt ins Vertrauen gezogen und ihm gesagt hatte, wo ich vorkommenden Falls zu finden sei.

Ich muß sagen, daß ich seit langer Zeit nicht so anständig ausgesehen hatte wie jetzt in meinem neuen Habitus. Das Pferd hatte ich zurückgelassen, die Waffen, den Patronengürtel und alle andern Ausrüstungsgegenstände gut verpackt, und so konnte man mich wohl eher für alles andere als für einen Westmann halten, der sich soeben erst mit Lebensgefahr durch das Gebiet der feindlichen Komantschen und Kiowas geschlichen hatte.

Als ich mich, in Weston angekommen, nach einer guten Logiergelegenheit erkundigte, wurde ich in ein Hotel gewiesen, welches zwar nur nach westlichen Anschauungen diese Bezeichnung verdiente, aber für mich, den anspruchslosen Mann, ganz genügend war. Ich verlangte vor allen Dingen Sauberkeit, und die fand ich hier, so daß ich beschloß, so lange da zu wohnen, wie ich überhaupt in Weston blieb.

Der Wirt war ein Deutscher, die Wirtin eine freundliche, vor Reinlichkeit glänzende Frau, und auch der Oberkellner redete mich, als ich in das Gastzimmer trat, in deutscher Sprache an; er wurde Oberkellner genannt, obgleich es keinen Unterkellner gab.

Dieser junge, vielleicht achtundzwanzigjährige Mann war ein außerordentlich schmächtiger und fast zu kleiner Mensch, denn er reichte mir nur bis an die Schulter, befand sich aber im Besitze eines desto größeren und außerordentlichen Schnurrbartes, auf den er große Stücke zu halten schien, weil er, wenn er nichts anderes zu thun hatte, ihn keinen Augenblick aus den Händen ließ. Nachdem ich von ihm bedient worden war, kehrte er zu der Zeitung zurück, bei der er vorher gesessen hatte, und während er las, hörte er nicht auf, den Bart nach rechts und links zu streichen. Plötzlich stieß er einen lauten Ruf der Überraschung aus, sprang auf und sagte zu dem Wirte, welcher rauchend und mich still beobachtend in meiner Nähe saß:

»Mylord, ich muß Sie sofort für heut und morgen um Urlaub bitten!«

Daß ein Kellner seinen Prinzipal mit Mylord antituliert, das hatte ich noch nicht gehört. War das hier im Hause so gebräuchlich, oder geschah es von dem kleinen Manne aus gewohnter, übertriebener Höflichkeit?

»Urlaub heut?« fragte der Wirt. »Sind Sie des Teufels? Urlaub, wo die Jäger heut ihr Stiftungsfest feiern und bei uns große Festtafel mit Ball ist!«

»Thut mir leid, Mylord,« äußerte sich der Kleine mit einer tiefen, bedauernden Verbeugung. »Ich bin bereit, Ihnen, hochverehrtester Herr, jedes Opfer zu bringen, nur dieses nicht. Ich muß nämlich mit ihm sprechen!«

»Mit wem?«

»Mit Old Shatterhand.«

»Was? Wie?« rief der Wirt. »Old Shatterhand? Ist er etwa hier in Weston?«

»Nein, aber in St. Joseph oben.«

»Wissen Sie das?«

»Ja. Hier steht es in der Zeitung zu lesen. Er ist vor einigen Tagen dort angekommen und hat sogleich einen Beitrag geliefert, welcher morgen erscheinen wird.«

Ah, der pfiffige Herausgeber des Blattes machte das Publikum auf meinen Aufsatz aufmerksam, um möglichst viele Exemplare zu verkaufen! Die amerikanischen Zeitungen sind bekanntlich weniger auf die Abonnenten als vielmehr auf den Verkauf angewiesen.

»Und da wollen Sie nach St. Joseph fahren?« fragte der Wirt.

»Ja.«

»Wissen Sie denn, wo er logiert?«

»Nein, aber ich werde es sehr leicht erfahren.«

»Sie werden es nicht erfahren!«

»Warum?«

»Weil Sie sich gar nicht danach erkundigen werden, denn ich kann Ihnen die Erlaubnis zu der Reise nach St. Joseph heut nicht geben.«

Da machte der Kellner dieselbe tiefe Verbeugung wieder und antwortete:

»Ich kenne nicht nur meine Pflicht, Mylord, sondern ich widme Ihnen auch die größte Hochachtung, deren mein Herz fähig ist, aber dennoch muß ich Ihnen durch die Mitteilung leid thun, daß ich diese Reise unbedingt machen muß.«

»Aber doch nicht gleich heute!«

»Allerdings gleich heute, denn morgen könnte Old Shatterhand nicht mehr zu haben sein.«

»Aber Sie müssen doch einsehen, daß Sie mich in die größte Verlegenheit bringen, wenn Sie grad heut fortgehen.«

»Das weiß ich freilich, kann es aber beim besten Willen nicht ändern. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nach dem Westen muß, und Sie darauf vorbereitet, daß mir jede Gelegenheit, diesen Vorsatz auszuführen, höher steht, als der Dienst in Ihrem Hotel.«

»Aber was hat das mit Old Shatterhand zu thun?«

»Bitte gehorsamst, diese Frage doch lieber nicht zu thun, weil sie sich ganz von selbst beantwortet. Ich werde Old Shatterhand bitten, mich mit nach dem Westen zu nehmen.«

»Wissen Sie denn, daß er dorthin will?«

»Ja. Wohin sollte er sonst wollen? Ein Westmann wie er gehört doch nach dem Westen!«

»Er kann doch auch von dort kommen!«

»Nein. Gestatten Sie, daß eine innere Stimme mir sagt, daß er nicht aus dem Westen kommt, sondern im Begriff steht, dorthin zu gehen! Eine bessere, eine vortrefflichere Gelegenheit, meinen Vorsatz auszuführen, kann ich ja niemals finden!«

»Aber eine bessere Gelegenheit, sich hier bei mir nützlich zu machen und Geld zu verdienen, haben Sie auch noch nicht gehabt!«

»Meine Absicht steht mir höher als alles Geld!«

»Und Sie denken, daß Old Shatterhand Sie mitnehmen werde?«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Mann, bilden Sie sich das nicht ein!«

»Warum?«

»Old Shatterhand wird sich hüten, sich mit Ihnen abzugeben. Man weiß ja, daß er am liebsten mit Winnetou allein ist und es so viel wie möglich vermeidet, daß sich andere an ihn hängen. Er pflegt da nur mit Leuten von Ruf eine Ausnahme zu machen.«

»Er wird sie auch mit mir machen.«

»Mit Ihnen, der Sie gar kein Westmann sind?!«

»Ja.«

»Das bezweifle ich.«

»Gestatten Sie, daß mir meine innere Stimme sagt, daß er diese Ausnahme mit mir machen wird!«

»Wird sich hüten! Ich sage Ihnen im voraus, daß Ihre Reise nach St. Joseph vollständig umsonst sein wird. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie auf den Westen so versessen sind. Sie haben es doch bei mir so gut, wie Sie es sich nur wünschen können, und verdienen genug, um in absehbarer Zeit daran denken zu können, sich selbständig zu machen!«

Der Kellner verbeugte sich jetzt zweimal anstatt einmal und antwortete:

»Ich habe allerdings die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich meinen Platz für einen so vorzüglichen halte, daß ich ihn nicht aufgeben würde, wenn mich mein Beruf nicht geradezu zwänge, den Westen aufzusuchen.«

»Ach was, Beruf!« sagte der Wirt, jetzt unwillig. »Der Teufel hat den Beruf, nach den ›finstern und blutigen Gründen‹ zu gehen, um sich dort langsam abmorxen zu lassen, aber nicht Sie!«

»Ich bitte inständigst, Mylord, haben Sie doch die Gewogenheit, diese Ansicht ja nicht festzuhalten. Wenn ein Mensch den Beruf in sich fühlt, diese Richtung einzuschlagen, so bin ich es. Das habe ich die Ehre gehabt, Ihnen schon des öfteren auseinander zu setzen, leider aber immer ohne den gewünschten Erfolg.«

»Sie werden diesen Erfolg auch niemals bei mir haben! Wie oft sagte ich Ihnen doch schon, daß Ihnen hier in Weston eine Zukunft offen steht. Sie sind ein belesener und gewandter, dazu ein sparsamer, junger Mann, und unsere Stadt blüht einer Zukunft entgegen. Wie lange wird es dauern, so können Sie sich hier selbständig machen!«

»Dazu gehört mehr Geld, als ich habe!«

»Nein, denn Sie besitzen Kredit, und auch ich würde Ihnen gern behilflich sein, hier ein Hotel, einen Saloon oder etwas derartiges zu eröffnen, denn es ist mir lieber, Sie zum Konkurrenten zu haben als einen andern, der fremd herkommt und keine Rücksicht gegen mich zu nehmen braucht. Das habe ich Ihnen schon oft gesagt, doch aber immer leider ohne Erfolg.«

»Diese Güte, welche Sie mir erweisen, Mylord, kann keinen Erfolg haben, weil mein Beruf ein anderer als der eines Wirtes ist.«

»Sprechen Sie doch nicht von Beruf! Was Geld einbringt, das ist Beruf!«

»Ich werde, wenn ich einst mit erweiterten Kenntnissen und Erfahrungen aus dem Westen zurückkehre, mehr Geld machen, als ich in Ihrem Fache jemals machen würde; das weiß ich genau. Ein Mann, welcher den großen, vorderen, gekerbten Muskel so gut von dem Kaputzenmuskel zu unterscheiden versteht, wie ich das gelernt habe, der hat andere Ziele vor Augen als das, durch den Verkauf von Spirituosen ein reicher Mann zu werden.«

»Von Ihrer Muskelei verstehe ich nichts; ich weiß nur, daß ich Sie heut unmöglich entbehren kann. Fahren Sie doch morgen, wenn der Ball vorüber ist!«

»Das geht nicht, denn da könnte Old Shatterhand schon nicht mehr in St. Joseph sein.«

»Fragen Sie doch telegraphisch bei ihm an!«

»Ich weiß nicht, wo er wohnt!«

»Man wird ihn finden!«

»Davon bin ich überzeugt, aber selber ist der Mann! Er könnte leicht auf den Gedanken kommen, mich durch eine abweisende Antwort von sich abzuschütteln. Ich muß selbst hin.«

Da bat auch die Wirtin den Kellner, doch noch bis morgen zu warten. Sie stellte ihm vor, daß man ihn heut doch unmöglich missen könne, doch waren auch ihre Bemühungen umsonst; er antwortete in der höflichsten Weise, nannte sie Mylady und machte eine Verbeugung nach der andern, ließ sich aber von seinem Vorsatze, die Fahrt nach St. Joseph heut zu machen, nicht abbringen. Dieser junge, energische Mann war mir trotz des drolligen Anfluges, den er hatte, sympathisch. Was er eigentlich war und was er im wilden Westen suchte, das wußte ich nicht. Die Erwähnung der beiden Muskel ließ vermuten, daß er ein Beflissener der löblichen Arzneikunst sei. In Amerika kann auch ein Mediziner leicht dazu kommen, vorübergehend die Rolle eines Kellners zu übernehmen. Um der Verlegenheit des Wirtes zu Hilfe zu kommen, mischte ich mich in das Gespräch:

»Erlauben die Herren eine Bemerkung! Die Reise nach St. Joseph würde resultatlos sein, denn Old Shatterhand ist nicht mehr dort.«

»Nicht? Nicht? Wissen Sie das genau? Wer hat es Ihnen gesagt?« fragten beide durcheinander.

»Ich weiß es genau, denn ich habe es von ihm selbst erfahren,« antwortete ich.

Im Nu saßen sie rechts und links zu meinen beiden Seiten, und der Wirt erkundigte sich:

»Sie haben also mit ihm selbst gesprochen?«

»Ja. Ich komme von St. Joseph.«

»Das ist interessant, im höchsten Grade interessant! Man sagt, daß er ein Deutscher sei. Wissen Sie vielleicht, ob dies wahr ist?«

»Es ist wahr.«

»Das freut mich; das freut mich ungemein! Ich bin nämlich ein so guter Deutscher, wie es drüben im alten Lande nur irgend einen geben kann. Wissen Sie, woher er stammt?«

»Ich habe ihn nicht darnach gefragt.«

»Freilich! Solchen Mann darf man nicht aushorchen wie andere Leute. Also er ist nicht mehr in St. Joseph? Wohin ist er denn?«

»Das weiß wahrscheinlich niemand außer er selbst.«

»Das ist unangenehm, höchst unangenehm!« rief der Kellner. »Ich hätte sonst was drum gegeben, wenn ich hätte mit ihm sprechen können!«

»Was das betrifft, so kann ich Sie beruhigen. Er hat nämlich nur einen Ausflug vor und will wiederkommen.«

»Wirklich? Wirklich? Wann denn, wann?«

»Das ist noch unbestimmt. Er scheint Winnetou in St. Joseph erwarten zu müssen.«

»Winnetou? Der kommt auch? Das ist ja alles, was ich mir nur wünschen kann! Ich werde beide sehen, beide, Old Shatterhand und Winnetou! Bitte, haben Sie die freundliche Gewogenheit, uns zu sagen, was für ein Mann er ist, wie lang, wie breit, was für Augen, welchen Bart, wie gekleidet, sodann Haltung, Gang, Stimme und – –«

»Halten Sie ein, halten Sie ein!« fiel ich ihm lachend in die Rede. »Wer kann sich alle diese Fragen merken!«

»Richtig! Ich bin zu hastig gewesen!«

Er erhob sich, machte mir eine tiefe Verbeugung und fuhr fort:

»Gestatten Sie, Mylord, daß ich meine Fragen einzeln vorlege. Wie hoch ist er?«

»So hoch wie ich.«

»Wie breit?«

»Auch wie ich.«

»Hm! Gestatten Sie, daß eine innere Stimme mir immer gesagt hat, daß er viel höher und viel breiter sei! Wie ist seine Haltung?«

»Aufrecht.«

»Sein Gang?«

»Wenn er läuft, geht er mit zwei, wenn er aber reitet, mit sechs Beinen.«

»Oh, bitte, bitte, nicht solche Scherze! Ich zolle diesem Manne Gefühle, welche jeden Witz ausschließen. Was hat er für einen Bart?«

»Schnurrbart und Fliege.«

»Also auch wie Sie. Kleidung?«

»Trapperanzug aus Elkleder.«

»Mit Menschenhaar?«

»Nein, sondern mit roten Lederfransen.«

»Ja. Man weiß, daß er es nicht liebt, sich wie eine Rothaut mit barbarischen Siegeszeichen zu schmücken. Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

»Worüber?«

»Über Verschiedenes.«

»Hat er Ihnen von seinen Erlebnissen erzählt?«

»Nein. Aber ich habe mit ihm gegessen und getrunken, mich mit ihm rasieren lassen, in seiner Stube mit ihm geschrieben, bin mit ihm ausgegangen und habe sogar sein Waschbecken, seine Seife und sein Handtuch mit benutzt.«

»Was Sie sagen, Mylord! Das ist ja ein intimer, ein höchst intimer Verkehr gewesen, um den ich Sie beneide!«

Er stand wieder auf, verneigte sich vor mir und fuhr fort:

»Hoffentlich haben Sie die Güte, mir noch mehr über ihn zu sagen. Ich freue mich herzlich darüber, daß Sie hier bei uns wohnen wollen, und es soll mir eine hochgeschätzte Ehre sein, Sie so zu bedienen, wie ein so intimer Bekannter Old Shatterhands es verlangen kann. Kommen Sie vielleicht wieder mit ihm zusammen?«

»Ja.«

»Bitte, wann?«

»Ich werde der erste sein, der seine Rückkehr nach St. Joseph erfährt.«

»Und so lange bleiben Sie hier?«

»Ja.«

»Dann ersuche ich Sie inständigst, mich mitzunehmen und ihm vorzustellen! Wollen Sie das thun, Mylord?«

»Hm! Er ist kein Freund von neuen Bekanntschaften, und ich weiß, daß er grad jetzt mit Winnetou allein reisen will.«

»Vielleicht überlegt er sich das doch noch anders, wenn er mir Gehör geschenkt hat. Stellen Sie mich ihm nur vor, damit ich mit ihm sprechen kann!«

»Ich weiß nicht, ob es ihm lieb sein wird, wenn ich Ihnen diese Bitte erfülle. Ich habe vorhin gehört, daß Sie den Wunsch haben, sich ihm anzuschließen, gebe Ihnen aber zu bedenken, daß er kein Fremdenführer ist.«

»Was sagen Sie, was denken Sie, Mylord! Ich weiß sehr genau, was ich von ihm zu halten habe. Ich weiß, daß hundert verdiente Westmänner es für die größte Ehre halten würden, sich ihm und Winnetou wenn auch nur für ganz kurze Zeit anschließen zu dürfen, und ich bin nichts weniger als ein Westmann; aber wenn er hört, was ich will, so wird er mich vielleicht nicht von sich weisen.«

»Nun, was wollen Sie denn von ihm? Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil ich, wenn ich Sie ihm vorstellen soll, doch wissen möchte, in welcher Absicht Sie dies wünschen.«

Da stand er abermals auf, verbeugte sich und sagte:

»Gestatten Sie, Mylord, daß ich Sie über meine Person genügend unterrichte. Ich heiße Hermann Rost, bin ein Deutscher und meines Zeichens eigentlich ein Barbier. Mein Ideal war, Medizin zu studieren, aber meine Eltern waren zu arm dazu; darum wählte ich den erwähnten Beruf, den man doch vielleicht eine Vorstufe zu dem Ziele, nach welchem ich strebe, nennen kann. Ich habe dieses Ziel während meiner Lehrlings-und Gehilfenzeit stets vor Augen gehabt und stets fleißig gearbeitet. Zwei Gymnasiasten, welche bei meinem Prinzipal logierten, interessierten sich für mich und unterstützten mich im Latein, welches ich jetzt wenigstens soweit kenne, wie ein Arzt es beherrschen muß. Ich verwendete alle meine geringen Ersparnisse dazu, mir die einschlägigen Werke zu kaufen, und habe alle meine freie Zeit darauf verwendet, mir ihren Inhalt zu eigen zu machen. An den Besuch einer Universität konnte ich natürlich nicht denken; dazu fehlten mir die geistigen und auch die andern Mittel. Wenn ich überhaupt an eine Hochschule denken durfte, so konnte das nur eine amerikanische sein. Ich ging also nach Hamburg und nahm, um nicht zahlen zu brauchen, Arbeit auf einem nach New York bestimmten Segelschiffe. Dort angekommen, wurde ich wieder Barbier, doch mit dem Unterschiede, daß es mir gelang, nebenbei das Columbia-Colleg zu besuchen. Ich will Sie, Mylord, nicht mit einer langen Erzählung belästigen; es genügt, zu sagen, daß ich vor einem halben Jahre die St. Louis-Universität mit guten Zeugnissen verlassen habe.«

Als er jetzt eine Pause machte, reichte ich ihm die Hand und sagte:

»Das ist aller Ehren wert, Herr Doktor. Ich gestehe Ihnen, daß ich Ihnen meine Achtung zolle. Aber wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, hier Kellner zu werden?«

»Sie finden das sonderbar, aber für Amerika ist das gar nichts Außergewöhnliches. Ich bin Mediziner, mag aber von Medizin, wie sie von unsern Ärzten verordnet und gegeben wird, nichts wissen. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der kranke Körper, wenn er überhaupt noch Lebensfähigkeit besitzt, keine fremden, wohl gar giftigen Stoffe in sich aufzunehmen braucht, um wieder gesund zu werden. Die durch die Krankheiten verursachten Störungen im menschlichen Körper müssen durch die Natur selbst wieder ausgeglichen werden, wobei ich aber keineswegs behaupte, daß diese Ansicht auf alle Krankheiten und auf alle Arzneimittel anzuwenden sei. Ich habe mir vorgenommen, auf diesem Wege weiter zugehen, und bin der Meinung, daß die sogenannten wilden Völker, weil auf die Natur angewiesen, Anhänger meiner Überzeugung sind. Darum entstand in mir der Gedanke, nach dem Westen zu gehen, um bei irgend einem Indianerstamme meine Studien zu machen. Die Mittel zur Ausrüstung besaß ich zwar nicht, aber ich machte mich doch auf den Weg und kam bis hierher, wo ich diese Stelle annahm, um Geld zu verdienen und eine passende Gelegenheit nach dem Westen abzuwarten. Heut las ich, daß Old Shatterhand in St. Joseph sei, und faßte sofort den Entschluß, mich an ihn zu wenden. Vielleicht nimmt er mich mit, und wenn nicht, so bedarf es nur einer Empfehlung von ihm oder Winnetou an einen ihnen befreundeten Stamm, um mich einer guten Aufnahme dort sicher sein zu lassen. Was sagen Sie dazu, Mylord?«

»Ich betrachte Sie jetzt allerdings mit andern Augen als vorhin, wo ich Sie, der ich Sie nur für einen Kellner hielt, sagen hörte, daß Sie Old Shatterhand bitten wollten, Sie mitzunehmen. Ich war überzeugt, daß dieser Wunsch Ihnen nicht in Erfüllung gehen werde, zumal ich weiß, daß er mit Winnetou jetzt nicht nach dem Westen, sondern nach dem Osten gehen wird.«

»Nach Osten? Wie bedaure ich das!«

»Suchen Sie ihn trotzdem auf! Er wird Ihnen wenigstens seinen Rat nicht vorenthalten, und wenn Winnetou damit einverstanden ist, halte ich es nicht für unmöglich, daß Sie von ihnen eine Empfehlung in Gestalt eines Totem für einen ihnen befreundeten Häuptling bekommen. Am besten wäre es, Sie erbäten sich ein Totem für einen der Winnetou untergebenen Apatschenstämme. Da könnten Sie nicht nur einer guten Aufnahme, sondern auch aller möglichen Unterstützungen und Auskünfte sicher sein. Das ist so meine Ansicht; was Old Shatterhand dazu oder darüber sagen wird, das ist freilich eine andere Sache.«

»Aber Sie kennen ihn. Er hat Ihnen sogar erlaubt, Ihre Hände mit ihm in dasselbe Waschbecken zu tauchen; er würde also einen Wunsch von Ihnen nicht ganz unberücksichtigt lassen. Würden Sie, Mylord, vielleicht die große Güte haben, mir ein Empfehlungsschreiben an ihn mit nach St. Joseph zu geben?«

»Warum nicht? Ich bin gern bereit, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, kann Ihnen aber nicht versprechen, daß dieses Schreiben auch wirklich den beabsichtigten Erfolg haben wird.«

Da stand er auf, verbeugte sich dreimal, und zwar tiefer als vorher, und sagte:

»Ergebensten Dank, Mylord! Der Erfolg wird nicht auf sich warten lassen. Gestatten Sie, daß mir eine innere Stimme sagt, daß ich auf jeden Fall ein Totem bekommen werde. Sie meinen also, ein solches für einen Apatschenstamm würde am vorteilhaftesten sein?«

»Ja. Freilich hätten Sie dann von hier aus eine größere und gefährlichere Reise, als wenn Sie sich nördlicher wohnenden Indianern anschließen wollten. Das bringt mich auf die Frage, wie es mit Ihren Fähigkeiten bezüglich einer solchen Reise und eines Aufenthaltes in der Wildnis steht.«

»Oh, was das betrifft, so bin ich gesund, ausdauernd und habe gelernt, ein Pferd zu regieren. Da ich meinen Zweck bei allem, was ich that, im Auge behielt, habe ich mich während meines Aufenthaltes in St. Louis sehr fleißig im Gebrauch der Waffen geübt. Ich bin zwar kein Prairiemann, darf aber sagen, daß ich unter zehn Schüssen sechs-oder siebenmal das Schwarze treffe.«

»Das ist allerdings ganz hübsch, aber wenn man einen guten Westmann erzählen hört, erfährt man freilich, daß Scheibenschüsse, und wenn auch hundertmal ins Schwarze, einem richtigen Savannenläufer gar nicht imponieren können.«

Wir wurden jetzt gestört, denn der Kellner hatte einen jetzt eben eingetretenen neuen Gast zu bedienen. Dieser war einem Geistlichen ähnlich ganz schwarz gekleidet und glatt rasiert und hatte einen kleinen Handkoffer bei sich. Er gab sich ein frommes, würdevolles Aussehen, zu welchem aber, wie ich nicht jetzt gleich sondern später erst bemerkte, sein unstäter und ruhelos umherforschender Blick nicht recht passen wollte.

»Ah, der Prayer-man,« sagte der Wirt, indem er auf ihn zuging, um ihn mit der Hand zu begrüßen.

»Ja, der Prayer-man,« näselte der Fremde salbungsvoll. »In dieser sündhaften Welt ist der Prayer-man notwendiger als jeder andere Mann. Die Menschen wollen sich nicht mehr von Gott strafen lassen; sie wandeln die Wege des Verderbens, und wenn nicht eine zweite Sündflut kommen und alles Lebende verderben soll, müssen die Gott treu Gebliebenen versuchen, die Irrenden auf den Pfad des Glaubens zurückzuführen. Grad hier an der Grenze zwischen der Civilisation und dem wilden Westen treffen die Kinder dieser Welt zusammen und verderben durch ihr Beispiel die wankenden Seelen, welche vielleicht noch zu retten wären.«

»Leider, leider ist das so!« stimmte der Wirt bei. »Können Sie sich besinnen, daß wir bei Ihrer letzten Anwesenheit davon sprachen, daß der Händler, welcher da gegenüber wohnte, sein Haus und Geschäft verkauft hatte und nach Memphis ziehen wollte?«

»Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen!«

»Ich dachte, Sie wüßten es noch. Er hatte den Kaufpreis ausgezahlt bekommen; es wurde aber, ich glaube zwei Tage nach Ihrer Abreise, bei ihm eingebrochen; das Geld war fort.«

Da schlug der Prayer-man entsetzt die Hände zusammen, und hob die Augen fromm empor und rief:

»Welch eine Sündhaftigkeit! Du sollst nicht stehlen! Wer dies Gebot nicht achtet, ist unwürdig, das Reich Gottes zu erben!«

»Und drüben in Plattsburg geschah ein ganz ähnlicher Fall, einen oder zwei Tage vorher, wenn ich mich nicht irre. Pretter, der Advokat, hatte einem Klienten zweitausend Dollars auszuzahlen, konnte das Geld aber nicht gleich an den Mann bringen, weil dieser verreist war; da kamen die Einbrecher und holten es. Sie kennen doch den Advokaten?«

»Nein, denn die Kinder der Seligkeit vermeiden allen Zank und Streit; sie führen keine Prozesse und brauchen also auch keine Advokaten!«

»Ich dachte, Sie wären damals von Plattsburg direkt nach Weston herüber gekommen!«

»Ich wandle die Pfade meines himmlischen Berufes und merke mir die irdischen Wege nicht. Jetzt will ich einige Tage hier in Weston bleiben. Kann ich die kleine, bescheidene Stube wiederbekommen, welche ich damals bewohnte?«

»Ja; sie steht Ihnen zu Verfügung.«

»So will ich gleich einmal versuchen, ob mein heutiger Eintritt in Ihr Haus ein vom Herrn gesegneter ist.«

Er öffnete seinen Koffer, suchte eine Handvoll Schriften zusammen, kam zu mir, legte sie vor mich hin und fragte:

»Verstehen Sie deutsch, mein werter Herr?«

Ich nickte.

»So habe ich wahrscheinlich die Freude, in Ihnen einen Landsmann zu begrüßen, der das Bibelwort kennt: Der Teufel geht wie ein brüllender Löwe umher, um zu suchen, wen er verschlinge. Noch ist es Zeit, ihm auszuweichen. Erfassen Sie die Gelegenheit, und greifen Sie nach dem Rettungsanker, der sich Ihnen hier in diesen frommen Werken bietet, deren geringer Preis auf den Titelblättern zu lesen ist!«

Mit einer Geste, als ob er mich segnen wolle, wendete er sich von mir ab und seinem Tische wieder zu, wo er sich niedersetzte, um zu sehen, ob ich lesen und auch kaufen werde. Also das war die Probe, ob sein Eintritt ein vom Herrn gesegneter sei.

Der Amerikaner hält sehr viel auf Religiosität; darum werden in den Vereinigten Staaten mehr fromme Bücher als in andern Ländern gekauft. Herumziehende Traktätchenhändler machen kein übles Geschäft. Ein solcher Händler war dieser Prayer-man. Ich gehöre zu den Menschen, denen ihr Glaube höher als alle irdischen Angelegenheiten steht; aber das zudringliche Zurschautragen der Frömmigkeit ist mir verhaßt, und wenn jemand vor Salbung förmlich überfließt wie dieser Mann, so zuckt es mir in der Hand, und ich möchte ihm am liebsten mit einer Salbung anderer Art antworten. Ich kann mir da nicht helfen: ich muß dabei stets an die Fabel vom Wolf im Schafsfell denken. Es widerstrebte mir, die Schriften anzufassen, aber ich that es doch, denn nicht nur der Prayer-man beobachtete mich, sondern auch der Wirt und der Kellner sahen zu mir her. Ich wollte nicht in den Verdacht kommen, ein Verächter der Religion zu sein, und sah die Sachen durch.

Es waren Predigten und fromme Abhandlungen in englischer und in deutscher Sprache; auch kleine Gebetbücher und Liedersammlungen gab es dabei; doch stießen mich die meisten Titel schon ab. Da stand zu lesen: »Himmelsrettung eines räudigen Erdenschafes«, »Psalterklänge auf fünf Seelensaiten«, »Kanzeldonner für verfluchte Menschenschlangen«, »Religiöses Fernrohr zur Entdeckung des Wegs zur Seligkeit«. Ich mag vielleicht unrecht haben, aber solche Bezeichnungen empören mich. Die Sprache soll für das Höchste, was der Mensch besitzt, die edelsten ihrer Worte haben; hier aber war es trivialisiert. Ein einziges kleines Heftchen hatte einen Titel, der mir wenigstens nicht widerwärtig war; er lautete: »Sechs ergreifende Festgedichte für Weihnachten, Ostern und Pfingsten.« Es kostete fünfundzwanzig Cents, war also teuer genug. Ich behielt es, ohne hineingesehen zu haben, schob die andern Sachen fort und legte das Geld darauf. Da kam der Prayer-man wieder, nahm Geld und die Hefte zu sich und sagte:

»Mein Freund, Ihre Auswahl ist eine sehr bescheidene. Es ist die Pflicht eines jeden guten Christen, die heilige Religion zu unterstützen; Sie aber scheinen mehr an den irdischen Gütern als an den himmlischen zu hängen; darum gebe ich Ihnen zu bedenken, daß einem jeden dereinst mit demselben Maße gemessen wird, mit dem er hier gemessen hat. Ihre Sparsamkeit wird Ihnen keinen Lohn im Himmel bringen!«

Ich hatte mit dem Manne gar nicht sprechen wollen, konnte mich aber jetzt nicht enthalten, ihm zu antworten:

»Das lassen Sie meine Sorge und nicht die Ihrige sein! Behalten Sie Ihren geistlichen Rat für sich, um den ich Sie nicht gebeten habe!«

Er wollte etwas erwidern, denn er öffnete schon den Mund dazu, aber die Veränderung, welche in meinem vorher gleichgültigen Gesichte unwillkürlich vorgegangen war, schien ihn zu belehren, daß Schweigen jetzt besser sei als Reden; er wendete sich mit einer hochmütigen Handbewegung von mir ab, legte die Drucksachen in den Koffer, zog ein Exemplar der Gedichte, die ich behalten hatte, hervor und gab es dem Wirte mit den Worten hin:

»Als Gast dieses Hauses kann ich von Ihnen keine Bezahlung fordern. Ich verehre Ihnen diese sechs ergreifenden Festgedichte unentgeltlich zum Heile Ihrer Seele. Ich erweise Ihnen diese fromme Aufmerksamkeit auch deshalb mit, weil ich eines dieser Gedichte hier in Weston erhalten habe.«

»Hier? Von wem?« fragte der Wirt, indem er das Heft aufschlug.

»Von einer sehr frommen Dame, welche mir schon öfters abgekauft hat. Es ist die Frau des Pelzjägers, welcher schon seit einer Reihe von Monaten zurückerwartet wird und nicht kommt. Ihr Sohn, welcher bei ihr wohnt, ist Lawyer, nimmt aber keine Stelle an.«

»Ah, Sie meinen Frau Hiller?«

»Ja, Hiller ist ihr Name; ich besinne mich jetzt. Als ich zum letztenmal bei ihr war, las sie mir ein Weihnachtsgedicht vor, und dies gefiel mir so, daß ich sie bat, es mir abschreiben zu dürfen. Ich habe es drucken lassen und verkaufe es nun.«

»Welches ist es?«

»Gleich das erste.«

»Also das mit der Überschrift: Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem?«

»Ja. Das müssen Sie lesen, unbedingt lesen, oder vielmehr ich selbst werde es Ihnen vorlesen, denn dies richtig thun zu können, muß man eine auserwählte Gabe besitzen, den Sinn des Gedichtes zu erfassen und mit dem auf-und absteigenden Fall des Tones das Herz des Zuhörers zu ergreifen. Erlauben Sie mir also!«

Er nahm das Heft dem Wirte wieder aus der Hand, schlug es auf und stellte sich an, das Gedicht zu deklamieren.

»Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!« wieder so ein gassenfrommer Titel! Jedenfalls war der Wert des Gedichtes diesem Titel angemessen. Ich mochte es gar nicht hören und stand auf, um hinauszugehen. Schon war ich fast an der Thür, als er begann:

»Ich verkünde große Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Euer Heiland Jesus Christ!«

Man kann sich denken, daß ich vor Erstaunen stehen blieb. War es denn möglich, daß ich mein Gedicht, wirklich mein Gedicht da hörte? Oder war es ein anderes mit zufällig denselben Anfangsversen? Ich horchte weiter; ja, es war das meinige, Wort für Wort das meinige, welches er mit näselnder Stimme bis zu Ende deklamierte. Ich kehrte an meinen Tisch zurück, auf welchem das von mir gekaufte Heft lag, schlug es auf und las: »Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem – Reuegedicht eines verlorenen, aber durch das Lesen unserer Schriften wiederbekehrten Sünders.«

Ich war baff! Sollte ich lachen, oder sollte ich mit den Fäusten dreinschlagen? Da hörte ich, noch ehe ich einen Entschluß fassen konnte, die Worte des Prayer-man:

»Wenn Sie sich von der Wirkung dieses Gedichtes überzeugen wollen, so sehen Sie sich den Fremden dort an!«

Er zeigte mit der Hand auf mich und fuhrt fort:

»Er war zu sparsam, sich den Quell der Gnade ganz zu kaufen; er hat nur einen Tropfen davon bezahlt, aber dieser eine Tropfen schon hat ihn so ergriffen, daß er in seinen Busen greift und auch die andern Hefte noch verlangen wird. Ich eile, seine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten!«

Nach diesen Worten holte er die von mir zurückgewiesenen Hefte aus dem Koffer, legte sie mir wieder vor und hielt mir die Hand hin, um das Geld in Empfang zu nehmen. Ich fühlte mich durch diese Frechheit in jenen innern Zustand versetzt, welchen Winnetou mit den Worten zu bezeichnen pflegte:

»Mein Bruder wird gleich losschießen; er hat die Patronen schon im Munde und auch in den Fäusten.«

Ich pflegte dann gewöhnlich im freundlichsten Tone zu sprechen; aber was dann folgte, war nichts weniger als Freundlichkeit. So fragte ich jetzt auch den Prayer-man mit gutmütigem Lächeln:

»Das Gedicht hat allerdings einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ist Ihnen der Verfasser bekannt?«

»Ja,« antwortete er.

»Wer und was ist er?«

»Er war ein berüchtigter Pferdedieb.«

»Ah, er war – – ist es also nicht mehr?«

»Nein, denn das Lesen unserer Schriften hat ihn zur Reue geführt. Seine Reue war so tief, daß er sich kurz vor seinem Tode noch hinsetzte, um diese Verse zu dichten.«

»Vor seinem Tode? Er lebt also nicht mehr?«

»Nein. Oder wissen Sie nicht, daß Pferdediebe hier in den Staaten gehängt werden?«

»Ah, gehängt worden ist er also! Das wissen Sie genau?«

»Ja; ich war es ja, von dem er die Schriften bekam, die ihn zur Reue führten, und bin bei seinem seligen Verscheiden zugegen gewesen.«

»Er war ein Deutscher?«

»Was denken Sie, Herr! Hat es jemals einen Deutschen gegeben, welcher zum Pferdedieb geworden ist?! Nein, er war ein Irishman.«

»Ich hörte aber doch, daß Sie das Gedicht bei einer Frau Hiller abgeschrieben und dann erst in Druck gegeben haben?«

»Ja, das ist richtig,« gestand er zu und fuhr nach einer Pause der Verlegenheit fort: »Diese Frau hat eine Abschrift des Gedichtes von dem betreffenden Gefängnisbeamten bekommen.«

»Stand der Name des Dichters dabei, als Sie es abschrieben?«

»Ja, ich habe ihn aber nicht notiert, um den armen Teufel, der so selig in das Jenseits gegangen ist, nicht im Diesseits noch zu blamieren.«

Ich hatte meine Fragen einander immer schneller folgen lassen und sie in einem immer steigenden Tone ausgesprochen. Er beachtete das gar nicht und war jetzt sogar so unverfroren, mich aufzufordern:

»Sie haben die Macht der wahren Reue erkannt, lieber Herr, und werden nach dieser Erkenntnis zu handeln wissen. Hier nehmen Sie nun auch die andern Schriften! Ich werde Ihnen nur zwei Dollars und fünfzig Cents dafür berechnen.«

Jetzt war es mit meiner Zurückhaltung zu Ende. Ich prasselte ihn förmlich an:

»Schwindler, der Sie sind! Sie sagten vorhin, ich hätte in meinen Busen gegriffen; ich aber sage Ihnen, daß ich Ihretwegen weder in meinen Busen noch in meinen Beutel greife! Sie wären der Kerl dazu, meine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten! Bekümmern Sie sich um Ihre eigene Seele, die Ihnen wohl noch genug zu schaffen machen wird! Der Dichter dieser Strophen soll ein Pferdedieb gewesen sein, der an seinem Stricke selig in das Jenseits hinübergeschieden ist, weil Sie, Sie unverschämter Lügner, ihn durch Ihre Schriften von der ewigen Verdammnis errettet haben? Sie wagen, mir zu sagen, daß ein Irländer ein solches Gedicht in deutscher Sprache schreiben kann? Sie wagen es, auch mir die in Ihren Druckwerken enthaltene Seligkeit für zwei und einen halben Dollar anzubieten? Hier haben Sie den Rummel. Lesen Sie ihn selbst, denn Sie bedürfen der Reue und Buße mehr als selbst der allerschlimmste Pferdedieb!«

Bei diesen Worten warf ich ihm die Schriften ins Gesicht. Er stand vor Erstaunen und Zorn eine ganze Minute bewegungslos, dann trat er hart an mich heran, hielt mir die geballten Fäuste vor das Gesicht und rief:

»Was haben Sie gethan?! Und wie haben Sie mich genannt?! Einen Schwindler und einen unverschämten Lügner! Ich soll schlimmer sein als ein Pferdedieb! Sagen Sie nur noch ein solches Wort, so haue ich Sie zu Staub!«

Er that, als ob er ausholen wolle.

»Nieder mit den Händen!« befahl ich ihm. »Weil Sie auch einer sind, schäme ich mich in meinem Leben zum ersten mal, ein Deutscher zu sein! Der Dichter dieser Strophen soll gehängt worden sein! Wissen Sie, wer es ist? Er steht hier vor Ihnen, und Sie werden mir den Vorrat, den Sie haben, ausliefern, damit ich ihn verbrennen lasse!«

»Sie – Sie – – Sie wollen der Dichter sein?« lachte er höhnisch auf. »Ihr Gesicht ist ja ein solches Schafs – –«

Weiter kam er in seiner Rede nicht, denn ich gab ihm eine solche Ohrfeige, daß er, zwei Stühle mit sich niederreißend, zu Boden stürzte. Er sprang aber schnell wieder auf, riß ein langes Messer aus der Tasche und drang damit, vor Wut keine Worte findend, auf mich ein. Ich empfing ihn mit dem emporgehobenen Fuß und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt gegen den Leib, daß er wieder niederstürzte. Noch hatte er sich nicht halb aufgerafft, so stand ich bei ihm, nahm ihn mit der linken Hand beim Genick, riß ihn vollends empor, schlug ihm mit der Rechten das Messer aus der Hand, gab ihm noch zwei schallende Ohrfeigen, schleifte ihn zu seinem Koffer und befahl ihm dort:

»Heraus mit den Gedichten, die verbrannt werden müssen! Wenn du nicht sofort gehorchst, helfe ich nach!«

Der fromme Mann hatte mehr als genug. Er schien sich zwar weigern zu wollen, aber ein vermehrter Druck an seinem Halse brachte ihn zum Gehorsam. Er warf die Exemplare des Gedichtes aus dem Koffer auf den Tisch und grinste dabei drohend:

»Mir kann es recht sein, denn wenn sie gegen meinen Willen verbrannt werden, muß ich sie bezahlt bekommen; es giebt noch Gerechtigkeit in der Welt, also hier im Westen auch!«

»Jawohl hier im Westen auch! Das habe ich dir schon gezeigt und bin bereit, es dir auch noch weiter zu beweisen. So, da bist du fertig, und ich bin es einstweilen mit dir auch. Nimm dich in acht, daß wir nicht noch einmal in dieser Weise zusammentreffen. Man kommt nicht immer so gut aus meinen Händen, wie ich dich jetzt aus ihnen entkommen lasse. Merk dir das, frommer Augenverdreher!«

Ich gab ihn frei und nahm die Schriften, um sie selbst in die Küche zu tragen, wo ich mich überzeugte, daß sie alle in den Ofen gesteckt und verbrannt wurden. Als ich dann in das Zimmer zurückkehrte, war der Prayer-man nicht mehr da.

»Er ist auf seine Stube gegangen,« sagte der Wirt im Tone des Bedauerns, indem er mich halb vorwurfsvoll, halb prüfend mit dem Blicke maß. »Das kam so schnell, so unerwartet! Sie sprachen so freundlich zu ihm, und plötzlich bekam er die Schriften in das Gesicht! Und dann die gewaltige Ohrfeige, diese Schnelligkeit, dieser Tritt in den Leib und dieser Griff in das Genick – – so etwas habe ich noch gar nicht gesehen. Das ging doch so rasch wie das Bretzelbacken!«

»Ja, so etwas habe auch ich noch nicht gesehen!« stimmte der Kellner bei. »Das war alles in zwei kurzen Augenblicken fertig, als ob es vorher extra einstudiert worden sei. Und da habe ich, als Sie meinten, daß Old Shatterhand Ihre Gestalt und Länge habe, gesagt, daß ich ihn mir viel kräftiger vorgestellt hätte! Gestatten Sie, Mylord, daß mir eine innere Stimme sagt, daß Sie diesen gewaltigen Griff in das Genick wahrscheinlich von ihm gelernt haben! Da muß ja jedem gewöhnlichen Menschen sofort der Atem ausgehen!«

»Haben Sie die Gedichte wirklich alle verbrannt?« erkundigte sich der Wirt.

»Alle,« antwortete ich.

»Da werden Sie sie wohl bezahlen müssen!«

»Pshaw! Es wird diesem Kerl gar nicht einfallen, mich darüber zur Rechenschaft zu ziehen.«

»So sind Sie also wirklich der Verfasser des Gedichtes?«

»Ja.«

»Sonderbar! Er sagte doch – – hm! Er ist ein sehr frommer und sehr ehrenwerter Mann!«

Es war dem Wirte nicht schwer anzusehen, daß er diesem sehr frommen und sehr ehrenwerten Manne mehr Glauben schenkte als mir. Ich fühlte keinen Beruf, ihn von dieser Ansicht zu bekehren, und erwähnte den Prayer-man also nicht weiter, sondern erkundigte mich:

»Sie kennen die Frau Hiller, von welcher gesprochen wurde?«

»Ja.«

»Ist sie auch eine Deutsche?«

»Ich glaube eher, daß sie eine Deutschösterreicherin ist. Man hat nicht oft Gelegenheit, mit diesen Leuten zu sprechen.«

»Sie leben einsam?«

»Sehr. Der Mann ist Pelzjäger für eine bedeutende Firma in St. Louis und meist nur zwei oder drei Monate während des ganzen Jahres daheim. Da pflegt er sich, widmet sich seiner Frau und seinem Sohne und läßt sich wenig sehen. Sie werden die jetzigen Verhältnisse des Fell-und Pelzhandels wohl schwerlich kennen, denn ein Mann, der Gedichte macht, hat für so unpoetische Sachen keine Zeit; er ist lange nicht mehr so in Flor wie früher, weil das Wild immer seltener wird. Der Jäger, welcher Geschäfte machen will, muß jetzt mehr wagen als früher und in die gefährlichsten Gegenden der Rocky-Mountains vordringen, wo zwar noch gute Beute zu holen ist, dabei aber gefährliche Zusammenstöße mit Indsmen nicht zu vermeiden sind. Es ist da schon mancher hinaufgegangen und nicht wiedergekommen; Hiller aber hat stets Glück gehabt. Er geht nie allein in die Berge, sondern pflegt alljährlich eine Gesellschaft von Jägern und Fallenstellern anzuwerben, deren Master er in jeder Beziehung ist. Diese Leute werden von ihm nach der Zeit, nicht nach der Stückzahl honoriert, gleichviel, ob er gute Geschäfte macht oder nicht; er scheint aber dabei doch stets seine Rechnung gefunden zu haben, denn es sind von ihm stets ganze Massen von Pelzwerk nach St. Louis geliefert worden. Die Jäger drängen sich dazu, von ihm engagiert zu werden, und die Indsmen scheinen Respekt vor ihm zu haben, wenigstens darf man dies aus dem Umstande schließen, daß sie ihm einen Kriegsnamen gegeben haben, was sie bei keinem gewöhnlichen Manne zu thun pflegen.«

»Kennen Sie diesen Namen?«

»Ja; er lautet Nana-po. Wie das heißt, und aus welcher Sprache es ist, das weiß man nicht.«

»Wirklich nicht? Hat Hiller es niemandem gesagt?«

»Nein. Wenn er sich hier befindet, so lebt er einsam und ist ein so wortkarger Mann, daß ihn wahrscheinlich noch kein Mensch nach diesem Namen gefragt hat.«

»Das Wort ist abgekürzt und lautet vollständig Nana-po-pahwitsch und gehört den Dialekten der Utahs und Schoschonen an, welche miteinander verwandt sind. Dieser Ausdruck bedeutet soviel wie »mein älterer Bruder« und ist nach Indianerbrauch eine ehrende Bezeichnung. Da die Utahs nicht in einer an Pelztieren reichen Gegend wohnen, so vermute ich, daß es die Schoschonen sind, die ihm diesen Namen gegeben haben. Er muß auf freundschaftlichem Fuße zu ihnen stehen und sich durch seine Eigenschaften ihre Achtung erworben haben, sonst würden sie ihn nicht ihren Bruder, sogar ihren älteren Bruder nennen. Ich bin überzeugt, daß die Bewohner von Weston stolz auf diesen ihren Mitbürger sein können.«

»Davon haben wir gar keine Ahnung gehabt,« gestand der Wirt. Und indem er mich mit erstaunten Augen musterte, fuhr er fort: »Sie zeigen da Kenntnisse, die man bei Ihnen gar nicht vermuten konnte. Ein Westmann sind Sie nicht, denn ein solcher hat kein Geschick, sich in einer Kleidung, wie die Ihrige ist, so zu bewegen wie Sie; aber die Sprachen der Roten sind Ihnen bekannt, und Sie machen Gedichte. Wahrscheinlich gehören Sie dem studierenden Stande an?«

»Sie haben recht; ich bin ein Federfuchser.«

»Und, bitte, wie heißen Sie? Sie entschuldigen diese Frage. Man muß doch wissen, wie man Sie zu nennen hat.«

Da ich verschweigen wollte, wer ich war, und mein richtiger Name möglicherweise auch hier als derjenige Old Shatterhands bekannt sein konnte, legte ich mir in der Schnelligkeit einen ähnlich klingenden bei, indem ich antwortete:

»Mein Name ist ein so seltener, daß Sie ihn wahrscheinlich noch niemals gehört haben; ich heiße nämlich Meier.«

»Meier?« lachte er. »Allerdings höchst selten! Aber kennen thue ich ihn doch, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich auch so heiße. Hatten Sie eine bestimmte Absicht, in welcher Sie sich nach der Familie Hiller erkundigten?«

»Ja. Es ist des Gedichtes wegen, welches vor einer Reihe von Jahren verfaßt wurde. Wer es sich so lange aufgehoben hat, der muß ein ganz besonderes Interesse daran haben, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich es gern wissen wollte, wer diese Frau Hiller ist.«

»So besuchen Sie sie doch einmal! Sie hält sich zwar, ebenso wie ihr Mann, sehr zurück, wird aber doch wohl nicht so unhöflich sein, Sie abzuweisen.«

»Es ist, wie ich höre, auch ein Sohn da?«

»Ja. Er hat, wie bereits gesagt, auf den Lawyer studiert, nimmt aber keine Stelle an, sondern sitzt zu Hause bei einer Menge von Büchern, mit denen er sich den ganzen Tag beschäftigt, als ob er sie auswendig lernen wolle. Sonst aber ist er, wenn man ihm begegnet, ein ganz freundlicher, junger Mann.«

Es war so, wie ich gesagt hatte: der Umstand, daß diese Frau mein Gedicht besaß, fiel mir auf. Woher hatte sie es? Sie war eine Deutschamerikanerin. Stammte sie aus meiner Heimat? Hatte sie es mit herübergebracht, oder war es ihr von einem Verwandten geschickt worden? Es fiel mir nicht ein, das Gedicht für so wertvoll zu halten, daß sie es nur dieses dichterischen Vorzuges wegen so lange aufgehoben hätte; ich sagte mir vielmehr, daß es damit eine andere Bewandtnis haben müsse, und bin aufrichtig genug, zu gestehen, daß mich die Neugier trieb, sie kennen zu lernen. Ich ließ mir also ihre Wohnung beschreiben und ging, diese aufzusuchen.

Das hübsche Häuschen hatte einen Seitengarten, in welchem eine Frau beschäftigt war, Spätrosen abzuschneiden. Ihr Kopf war zum Schutze gegen die Sonne mit einem weit vorgezogenen Tuche bedeckt, so daß ich ihr Gesicht nicht vollständig sehen konnte. Als ich mich bei ihr erkundigte, ob Frau Hiller zu sprechen sei, fragte sie, wer ich sei und was ich wolle. Ich nannte mich Meier und sagte, daß ich eine kurze Erkundigung beabsichtige und also gar nicht lange stören werde.

»Gehen Sie hinein; ich komme gleich,« beschied sie mich und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu.

Im Flur gab es rechts und links eine Thür; die links war verschlossen; ich trat also rechts ein und befand mich dann in einem zwar kleinen aber für mich hochinteressanten Parlour, welches mit Waffen und indianischen Trophäen ausgestattet war. Ich fand aber keine Zeit zu einer langen Betrachtung derselben, denn die Frau, welche ich im Garten gesehen hatte, kam sehr bald nach und sagte, indem sie auf einen Stuhl zum Niedersitzen deutete:

»Ich bin Frau Hiller. Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Meier?«

Indem ich antworten wollte, nahm sie das Tuch vom Kopfe und legte es beiseite; ich bekam ihr ganzes Gesicht zu sehen und behielt vor Überraschung die Antwort auf den Lippen.

»Nun, bitte!« sagte sie, als sie sah, mit welchem Erstaunen ich sie betrachtete.

War es Wirklichkeit, oder irrte ich mich infolge einer Ähnlichkeit, die allerdings auffällig gewesen wäre, wenn eine Täuschung vorgelegen hätte? Nun war es mir freilich klar, warum diese Frau mein Gedicht aufgehoben hatte, denn es bildete ein Erinnerungszeichen an die vielleicht trübsten Tage ihrer Vergangenheit.

»Sie wollten sich nach etwas erkundigen – –?« fragte sie, als ich noch immer mit der Antwort zögerte.

»Allerdings,« ließ ich mich endlich hören. »Diese Erkundigung wird nun, da ich Sie sehe, freilich eine andere sein, als die, welche ich vorher beabsichtigte; sie ist der Art, daß ich alle Ursache zu der Bitte habe, sie mir nicht übelzunehmen.«

»Sprechen Sie nur!« forderte sie mich auf, indem sie mich erwartungsvoll anblickte. Dabei trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, von dem ich nicht wußte, ob er einer plötzlich aufsteigenden Besorgnis zuzuschreiben sei oder dem Bemühen, in meinen Zügen etwas ihr noch unklar Vorschwebendes deutlicher zu entdecken.

»Haben wir uns nicht vielleicht schon einmal gesehen, Mrs. Hiller?« fragte ich.

Sie wurde blaß, und ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete:

»Ich gestehe, daß mir Ihr Gesicht nicht ganz fremd vorkommt. Wahrscheinlich sind wir uns hier in den Staaten einmal flüchtig begegnet?«

»Nein, nicht hier, sondern drüben jenseits des Meeres. Wenn ich mich nicht irre, wurden Sie damals nicht Hiller, sondern Frau Elise Wagner genannt.«

Da verwandelte sich die erst leichte Blässe ihres Gesichtes in vollständige Farblosigkeit; sie sank auf einen Sessel nieder, schlug die Hände zusammen und seufzte, indem sie mit angstvollen Augen zu mir aufblickte:

»Mein Gott! Ist denn diese Zeit noch immer nicht versunken und vergessen? Geht die Grausamkeit des Schicksales so weit, uns selbst hier, an der Grenze des wilden Westens, noch zu verfolgen? Haben wir denn nicht schon genug unschuldig gelitten, daß selbst nach so langer Zeit das Gespenst der Vergangenheit sich aus dem Grabe erhebt und uns wieder drohend entgegentritt?«

Sie wollte noch weiter sprechen; ich fiel ihr aber in die Rede:

»Ich bitte dringend, sich ja keine Sorge zu machen! Die Absicht, welche mich zu Ihnen führt, ist eine durchaus freundliche, und ich beeile mich, Ihnen vor allen Dingen zu sagen, daß ich Sie nur zweimal ganz kurz gesehen habe und mir Ihre Verhältnisse vollständig unbekannt sind.«

»Ah!« holte sie tief, tief Atem. »Ihre Absicht ist keine böse! Wie bin ich erschrocken! Bitte wollen Sie mir sagen, wo Sie mich gesehen haben?«

»Es ist kein Wunder, daß Sie mich nicht erkennen, denn es sind seitdem Jahre verflossen, und ich war nur ein Knabe. Ich habe eigentlich auch gar keinen Grund, Sie in Ihrem hiesigen Heim zu stören, doch muß ich sagen, daß ich Ihnen stets ein treues und teilnahmvolles Andenken bewahrt habe. Als ich heut hier von Ihnen hörte, hatte ich keine Ahnung, daß Mrs. Hiller jene Frau Wagner ist, der ich für ihr ganzes Leben alles Gute wünsche.«

Es war wieder Farbe in ihr Gesicht und Glanz in ihre Augen gekommen. Sie stand auf und fragte:

»Aber, wenn Sie nicht wußten, wer ich bin, welche Ursache hatten Sie, mich aufzusuchen. Sie haben allerdings nicht das Aussehen eines Mannes, dem es Vergnügen bereitet, der Bedränger anderer Leute zu sein.«

»Es ist eigentlich eine – wenn ich mich so ausdrücken darf – eine litterarische Veranlassung, welche mich zu Ihnen führt. Ich bin Schriftsteller und reise viel, um dann über meine Reisen Bücher zu schreiben. Ich habe damals als Schüler eine kleine poetische Sünde begangen, von der ich glaubte, daß sie mir längst vergeben sei; aber heut erfuhr ich, daß solche Sünden niemals vergessen werden. Die Rache hat mich vorhin hier in Weston ereilt, wo ich mit einem frommen Manne zusammentraf, der mir mein Verbrechen für fünfundzwanzig Cents an das Gewissen legte und mir dabei durch den Titel erfreulicherweise den Beweis erbrachte, daß ich doch wenigstens kein verlorener, sondern ein bekehrter Sünder bin.«

Ich zog das Heft aus der Tasche und reichte es ihr hin, nachdem ich die erste Seite aufgeschlagen hatte. Sie warf einen Blick darauf und rief überrascht aus:

»Mein Gedicht – – wollte sagen, mein Lieblingsgedicht! Es ist abgedruckt worden! Wer hat das gethan?«

»Ein frommer, ja, ein sehr frommer Prayer-man, der es vor einiger Zeit bei Ihnen abgeschrieben hat.«

»Der – –? Ich entsinne mich seiner. Ich kaufte ihm einige Sachen ab, deren Stil ein so frommschwülstiger war, daß ich glaubte, ihn darauf aufmerksam machen zu müssen, daß man durch diese Art der Ausdrucksweise, die eine gradezu abstoßende ist, der guten Sache mehr Schaden als Nutzen bringe. Er behauptete dagegen, daß es keine andere Behandlungsweise dieser Art von Themata gebe, und ich holte also dieses Gedicht, um ihn zu überführen. Es gefiel ihm sehr, und als er mich bat, es abschreiben zu dürfen, ersah ich keinen Grund, ihm die Erlaubnis zu verweigern. Ich ahnte freilich nicht, daß er es drucken lassen werde. Er hat doch wohl auch gar kein Recht dazu?«

»Wenigstens kein moralisches. Aber in rein litterarischer und geschäftlicher Beziehung sind die Werke deutscher Dichter und Schriftsteller hier in den Vereinigten Staaten leider vogelfrei, und der Amerikaner macht davon den ausgiebigsten Gebrauch. Es werden hier deutsche Werke massenhaft nachgedruckt, und die hiesigen Herausgeber – fast hätte ich gesagt Diebe – werden dabei reiche Leute, ohne den Verfassern, welche drüben am Hungertuche nagen, einen Cent zu bezahlen. Der sonst »Sehr moralische« Amerikaner will Geld machen; ob er dabei einen armen Schriftsteller seines sauer verdienten Arbeitslohnes beraubt, das ist ihm vollständig gleichgültig, wenn ihm diese meiner Ansicht nach freilich sehr unmoralische Money-mäkerei nur gelingt. Mir hat zum Beispiel die sehr löbliche »San Francisco-Abendpost« meine Werke nachgedruckt, ohne es nur der Mühe wert zu halten, mich wenigstens davon zu benachrichtigen oder mich dann auf meine wiederholten Anfragen auch nur einer einzigen Antwort zu würdigen. Und das ist eine Zeitung in deutscher Sprache! Es scheint da, man hat gar keine Veranlassung, darauf stolz zu sein, daß man ein Deutscher ist. – – Und selbst wenn wir Deutschen allen möglichen Schutz besäßen, würde ich mich gar nicht darüber wundern, daß dieser salbungsvolle Traktätchenhändler das Gedicht ohne alles Besinnen und Bedenken als sein Eigentum betrachtet hätte, denn wo die Frömmigkeit nur gleisnerische Außensache ist, pflegt sie nur als Deckmantel der Habsucht und noch schlimmerer Eigenschaften zu dienen.«

»Hätte ich ihm doch die Erlaubnis, es abzuschreiben, nicht gegeben! Was ist denn das für eine entsetzliche Überschrift? Der Mann kann nicht bei Sinnen sein!«

»Er erzählte mir sogar, daß der Dichter ein Pferdedieb gewesen sei, der kurz bevor er für seine Thaten aufgehängt wurde, aus Reue das Gedicht verfaßt habe. Doch, lassen wir das! Es genügt für jetzt, daß diese Strophen die Veranlassung meines Besuches bei Ihnen sind. Ich glaubte, annehmen zu müssen, daß jemand, der sich für – –«

»Ah, bitte!« unterbrach sie mich. »Wir waren ganz davon abgekommen. Die Hauptsache ist doch – – sagen Sie, Sie sind der Verfasser dieses Gedichtes?«

»Ja.«

Ihre Augen öffneten sich weit, als ob sie meine ganze Gestalt mit einemmal umfassen wollten; sie hob die Arme gegen mich und fragte schnell weiter:

»Dann sind Sie also der junge Schüler, welchen – –?«

»Der bin ich,« nickte ich.

»Welchen wir damals mit noch einem andern in – – in – – in Falkenau in Böhmen sahen?«

»Ja.«

»Sie kamen uns dann in die Mühle nach, wo mein guter, alter, lieber Vater starb?«

»Ja.«

»Und gaben uns – – gaben uns – –. Oh, ich war damals vor Herzeleid nicht bei mir selbst, sonst hätte ich – – hätte ich – – erlauben Sie! Ich muß ihn rufen, sofort rufen! Das ist einer meiner schönsten Lebenstage! Sie haben uns durch Ihr so ganz und gar nicht zu erwartendes Kommen eine Freude bereitet, die ganz unbeschreiblich ist, denn Sie wissen nicht, nein, Sie können gar keine Ahnung haben, wie oft wir an Sie, an den jungen Mann gedacht haben, der uns damals eine Wohlthat erwies, die wir ihm niemals, niemals vergelten können!«

Sie wollte eine Nebenthür öffnen; ich hielt sie zurück und sagte:

»Bitte, wenn Sie nicht wünschen, daß ich sofort wieder gehe, so erwähnen Sie ja nicht wieder, daß mein Mitgefühl mich damals zu einer Handlung hinriß, welche – –.«

»Was? Welche – –?« unterbrach sie mich, indem sie sich mir rasch wieder zuwendete. »Welche Sie wohl lieber nicht gethan hätten? Das ist nicht wahr! Wenn Sie das sagen wollen, so kennen Sie sich selbst nicht! Ich weiß, daß Sie selbst ein armer, armer Teufel waren und das, was Sie im Gasthause genossen, nicht bezahlen konnten. Wer trotz dieser seiner Armut und ohne sich zu besinnen all sein Geld einem noch Bedürftigeren giebt, der bereut das nie, der wird stets mildthätig bleiben, denn sein offenes Herz ist eine herrliche Gottesgabe, um welche ihn selbst die größten Härten des Lebens nicht zu bringen vermögen. Und, weil wir einmal davon sprachen, ehe mein Sohn bei mir ist, will ich Ihnen folgendes sagen: Ich bin recht wohl in der Lage, Ihnen das Geld, welches Sie mir damals gaben, zurückerstatten zu können, aber ich thue das Ihnen und auch mir nicht an. Das Schärflein der Witwe, oder in diesem Falle richtiger gesagt, das ganze, ganze Vermögen des armen Schülers, welches er auf dem Altare der Liebe, des Erbarmens opferte, darf nicht zu einem mit Zinsen zurückzugebenden Darlehen herabgewürdigt werden; es soll und muß ein Opfer bleiben, welches Gott, der gerechteste Zahlmeister von Ewigkeit zu Ewigkeit, zurückerstatten wird. Vielleicht hat er dies schon gethan, denn aus dem Gymnasiasten, der sogar dann noch der Botenfrau seine letzten Kreuzer in die Hände schüttete, scheint ein Mann geworden zu sein, der seinen Reichtum, wie ich Ihnen anzusehen glaube, nicht allein im Besitz von Gold und Silber sucht. Und mit jenem Gelde, welches mir und meinem Knaben die Reise nach Bremen ermöglichte, habe ich von Ihnen, ohne daß Sie es ahnten, noch eine andere, unendlich wertvollere Gabe empfangen, die ich Ihnen mit allem Golde der Erde, wenn ich es besäße, nicht vergelten könnte, denn Sie haben mich damals von der Verzweiflung errettet. Die Unglücksfälle, welche ohne unser Verschulden damals unsern äußern Wohlstand und unser inneres Glück Schlag auf Schlag niederschmetterten, hatten uns um den Glauben an Gott und um all unser Vertrauen zu ihm gebracht; das war ein größerer Verlust als alle irdischen, die wir erlitten haben. Hungernd und frierend, glaubenstot und hoffnungslos schleppten wir uns bettelnd von Ort zu Ort, und je weiter wir kamen, desto elender wurden wir äußerlich und auch innerlich. Da leuchteten plötzlich mitten in all diese unbeschreibliche körperliche und seelische Armseligkeit hinein die Kerzen des Tannenbaumes in Falkenau, und wie aus Gottes eigenem Munde vom weihnächtlichen Himmel herab erklangen uns die Worte Ihres Gedichtes:«

»Ich verkünde große Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Euer Heiland Jesus Christ.« – –

Jetzt eine kurze Pause machend, stand sie mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen vor mir. Ihr Blick war, wie damals in der Mühle, wie durch die Mauer hindurch ins Weite gerichtet, aber mit einem so ganz, ganz anderem Ausdrucke. Damals seelenlos, stier und leer, besaß er heut Leben, Licht und Energie. Damals auf eine trostlose Wüste des Elends, der Erbärmlichkeit gerichtet, sah er jetzt die Errettung aus diesem Jammer hinter sich, und vor sich vielleicht noch immer die fernen Strahlen des kleinen Weihnachtsbaumes, der sein Licht so unerwartet auf den mühseligen Pfad der Unglücklichen geworfen hatte. Nun fuhr sie fort:

»Ihre zweite Strophe möchte ich, indem ich zurückblicke, in Beziehung auf uns umändern in:

»Jubelnd klingt es durch die Sphären,

Sonnen künden’s jedem Stern;

Weihrauch duftet auf Altären,

Und auch uns blieb es nicht fern!«

denn besonders meinem armen Vater brachten Ihre Verse mehr innerliches Licht, als ihm äußerlich die Kerzen des Baumes leuchteten. Das glaubensleere Dunkel seiner Seele begann sich zu erhellen. Man ahnt gar nicht, was ein kurzes Wort, eine einzige Gedichtstrophe, zur rechten Zeit oder am rechten Orte gesprochen oder gelesen, für eine große, nachhaltige Wirkung auf den Menschen haben kann! Wenn man das beherzigte, wie anders, wie ganz anders würde dann gesprochen und geschrieben werden! Ich war damals mehr mit meinem Vater als mit mir selbst beschäftigt, aber als ich, da ich mich von Gott abgewendet hatte, die Worte hörte:

»Und der Priester legt die Hände

Segnend auf des Toten Haupt:

Selig ist, wer bis ans Ende

An die ewge Liebe glaubt!«

da kam wie ein plötzlicher, heller, klarer Sonnenstrahl die Erkenntnis über mich, daß ich, wenn ich jetzt unter der Schwere meines Leidens zusammenbräche, nicht selig zu preisen, sondern als unselig zu bejammern sein würde, denn ich hatte mit Gott gehadert und zu den verlorenen irdischen Gütern auch alle meine geistigen und geistlichen Besitztümer geworfen, als ob diese ebenso nichtig wie jene seien. Ich habe dann, so müde ich war, während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern immer und immer gebetet und gefleht:

»Blicke auf dein Kind hernieder,

Das sich sehnt nach deinem Licht;

Der Verlorne naht sich wieder;

Geh mit ihm nicht ins Gericht!«

und so entsetzlich der nächstfolgende Tag war, und so sicher ich den Vater dem Tode entgegensinken sah, es klang doch fort und fort eine mahnende Stimme in mir, daß ich die Hand nach dem verlorenen Glauben an Gott und nach dem weggeworfenen Vertrauen zu ihm ausstrecken müsse, wenn ich nicht auch tot sein und mich verloren geben wolle. Wir waren während der Nacht dem Erfrieren nahe; dann nahm uns die arme Botenfrau mitleidig auf, und ich kniete am Sterbelager des Vaters, dem es nicht an der Wiege gesungen worden war, daß er einst auf Lumpen von der Erde scheiden werde. Meine Thränen rannen nach innen und drohten, den mir von Ihnen gekommenen Weihnachtsschimmer wieder zu verlöschen. Er starb armselig, aber doch selig, Ihre Worte bestätigend:

»Suchtest du noch im Verscheiden

Droben den Versöhnungsstern,

Wird er dich zur Wahrheit leiten

Und zur Herrlichkeit des Herrn.«

Als ich dann von seinem Lager aufstand, kämpfte in mir der Jammer, der mich wieder niederreißen wollte, mit der Pflicht, mich um meines Sohnes willen zusammenzuraffen und aufrecht zu halten. Hinter mir gähnte hart an meinen Fersen die klaffende Tiefe des überstandenen Elendes; neben mir lag der Tote, von dem ich noch nicht wußte, wo er seine letzte Ruhestätte finden werde; vor mir stiegen steile, kahle, unbekannte Felsen auf, die kommenden Tage, die ich, schon jetzt vor Müdigkeit zusammenbrechend, erklimmen sollte, und welche Mittel hatte ich dazu? Eine trockene Brotrinde war alles, was ich besaß, alles – – alles! Es wurde mir leer vor den Augen. Ich sah die Leiche nicht mehr, nicht die Frau, deren jämmerlicher Gast ich war, auch nicht meinen Sohn und auch nicht – – – Sie, der Sie sich bei uns befanden, ohne daß ich es beachtet hatte. Aber indem ich in eine endlose, leere Öde schaute, hörte ich Ihre mir noch bekannte Stimme; ich antwortete, ohne zu wissen, was; dann waren Sie fort. Dann saß ich auf dem Schemel und strengte mich an, zu mir zurückzukehren. Mein Sohn schmiegte sich an mich und sagte mir, es sei etwas in meiner Tasche, was Sie mir gegeben hätten. Ich nahm es heraus und hörte den Klang von – – Geld! Herr, das Wort Geld ist ein gemeines, ordinäres Wort, aber ich sage Ihnen: Als ich die Silberstücke zählte, wurde es bei jedem einzelnen, welches ich zu den andern legte, lichter in mir. Ich dachte in diesem Augenblicke nicht an die Größe Ihres Opfers, sondern nur daran, daß es mir Rettung brachte. Es kam wie eine Erlösung über mich; ich konnte weinen – weinen – – weinen. Wie es dann kam, ich weiß es nicht, aber ich hatte Ihr Gedicht in den Händen, kniete am flackernden Herdfeuer und las unter Thränen Ihre Mahnung:

»Hat der Herr ein Leid gegeben,

Giebt er auch die Kraft dazu;

Bringt dir eine Last das Leben,

Trage nur, und hoffe du!«

Das hatte ein Schüler, ein armer, vielleicht siebzehnjähriger Knabe gedichtet! Und ich?! Es war fast wie Scham, was da über mich kam. Ich ging hinaus vor die Mühle und ein Stück in den Wald hinein. Dort kniete ich nieder und betete – betete – betete. Herr, mein Gott, ich konnte wieder beten! Als ich dann in die Stube zurückkehrte, hatte alles ein ganz anderes Aussehen als vorher. Das Elend war verschwunden und dafür ein stiller, weher Ernst zurückgeblieben. Die Botenfrau sagte mir, daß auch sie Geld von Ihnen bekommen habe und sich nun morgen einmal recht sattessen wolle. Mein Knabe sah mich mit so liebevollen Augen an, und über das Gesicht des Toten hatte sich ein stiller, seliger Hauch des Friedens ausgebreitet. Es war mir, als befinde sich sein Geist an meiner Seite und flüstere mir tröstend zu:

»Darum gilt auch mir die Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Auch mein Heiland, Jesus Christ!«

Und so ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Reden Sie mir nicht darein, sondern lassen Sie mir diesen wohlthuenden Glauben, daß mein Vater von Gott die Erlaubnis hat, unsichtbar bei mir zu weilen, um mich zu leiten und meinen Fuß vor Anstoß zu bewahren! Wenn Gott seine Engel sendet, die uns zu beschützen haben, können wohl auch unsere Abgeschiedenen, die uns durch ihre Liebe doch am nächsten stehen, solche Engel sein! Während die Heerscharen des Himmels seinen Thron umschweben, um ihm Halleluja von Ewigkeit zu Ewigkeit zu singen, steigen die Geister unserer Lieben auf und ab, um seine Befehle auszurichten und uns in ihren Schutz und ihre Hut zu nehmen. Ich möchte nicht um alles diese Überzeugung missen, die mir im Leiden Kraft gewährt, mich in der Einsamkeit tröstet und mir die frohe Hoffnung bietet, daß ich meinen Sohn mit meinem Tode nicht verlassen werde.«

»Es liegt mir fern,« sagte ich, als sie jetzt zu Ende zu sein schien, »Ihnen einen Glauben zu nehmen, der Sie glücklich macht, weil er eine Konsequenz Ihrer Kindes-und Ihrer Mutterliebe ist. Sie haben damals jedenfalls noch sehr schwere Tage erlebt, von denen wir jetzt lieber gar nicht sprechen wollen. Ich freue mich aufrichtig und herzlich, Sie wiederzusehen, und wünsche, daß wir dieses Wiedersehen nicht durch die Erinnerung an eine Zeit trüben, welche längst vergangen ist.«

»Sie haben recht. Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich gleich die erste Viertelstunde Ihres Besuches mit meinem Rückblicke auf jene Zeit in Anspruch nahm! Ich that es in der Überraschung und weil Sie gleich und vor allen Dingen erfahren und wissen sollten, wie wichtig Sie mir geworden und wie unvergeßlich Sie uns geblieben sind. Ich war damals nicht in der Lage, mich nach Ihnen zu erkundigen, und dies dann durch Briefe von Amerika aus zu thun, verboten uns gewisse Gründe, über welche ich nicht sprechen kann. Ich darf höchstens sagen, daß der Name Wagner ein falscher war und daß wir verschwunden sein mußten, ohne eine Spur zurückgelassen zu haben. Wir hätten zwar vielleicht erfahren können, was Sie geworden sind, denn wir kannten Ihren Namen und – –«

»Nein, den kannten Sie nicht,« fiel ich ein.

»Er steht doch auf dem Gedicht!«

»Nicht ganz; es fehlt eine Silbe. Ich heiße Meier.«

Als sie sah, daß ich dabei lächelte, fragte sie:

»Darf ich vielleicht annehmen, daß dies eine Silbe zu viel ist? Ein Schüler setzt, wenn ein Gedicht von ihm veröffentlicht wird, wohl keinen falschen Namen darunter; ich meine vielmehr, daß er sehr stolz sein wird, sich gedruckt zu sehen!«

»Wie es scheint, sind Sie in die tiefsten Tiefen der deutschen Schülerseele eingedrungen; dennoch muß ich dabei bleiben, daß ich hier in Weston Meier heiße.«

»Darf man die Gründe erfahren?«

»Jetzt noch nicht. Sie haben Ihre Geheimnisse, und ich besitze auch welche; jedenfalls aber werden die meinigen noch vor meiner Abreise offen vor Ihnen liegen.«

»So sollen Sie jetzt meinen Sohn sehen. Ich wollte ihn rufen, denke aber, daß wir ihn lieber in seinem Zimmer überraschen werden. Bitte, kommen Sie!«

Sie führte mich durch die schon erwähnte Thür in ein einfaches aber sehr trauliches Wohnzimmer, dessen Ausstattung ebenso wie der Empfangsraum einen Westmann als Besitzer verriet. Von hier aus ging es in eine kleinere, einfensterige Stube, wo an einer Wand ein volles Bücherregal und gegenüber ein Schreibtisch stand, an welchem ein junger Mann saß, der bei unserm Eintritte aufstand und uns fragend anblickte. Man sah seinen feinen Zügen die geistige Arbeit an; ich erkannte ihn trotz des Schnurrbartes, den er trug, sofort.

»Sieh dir diesen Herrn an!« sagte seine Mutter. »Ich bin unendlich begierig, zu erfahren, ob du sagen kannst, wer er ist.«

Er betrachtete mich eine Weile, schüttelte den Kopf und gab dann den Bescheid:

»Ich sehe ihn heut auf jeden Fall nicht zum erstenmal, aber sagen, wer er ist, das kann ich nicht. Möglich, daß die dunkle Gesichtsfarbe schuld ist. Der Herr ist ja von der Sonne verbrannt und vom Wetter mitgenommen wie ein Fallensteller!«

»Fallensteller!« lachte sie. »Um braun zu werden, braucht man nicht auf der Prairie oder im Urwalde herumzulaufen.

Herr Meier hat den Westen jedenfalls noch nie gesehen, denn er ist – – ich will dir einhelfen: er ist ein Dichter.«

»Dichter – –? Meier – – Mei – – Mei – –«

Da flog ein Strahl freudigen Erkennens über sein Gesicht; er streckte mir beide Hände entgegen und rief:

»Unsinn – – – Meier! Welch eine Überraschung! Eine größere Freude konnte uns gar nicht werden! Jetzt erkenne ich Sie und bin darüber verwundert, daß es nicht sogleich geschehen ist, obgleich Sie damals ein kleines, schmales Kerlchen waren und jetzt fast wie ein Indsman aussehen. Da muß ich doch gleich auch einmal zum Dichter werden, wobei ich mir aber gestatte, die Reime von Ihnen zu entlehnen:

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