Читать книгу Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte - Martin Luther - Страница 76

Оглавление

»Welche?«

»Bist du bereit, sie zu vernehmen?«

»Ja.«

»Und wird deine Moralität auch kräftig genug sein, sie zu beherzigen?«

»Ich hoffe es.«

»So sage mir: Wie lautet das siebente Gebot, mein lieber Sohn?«

»Du sollst nicht stehlen,« antwortete er ernsthaft, als ob er ein Examen zu bestehen hätte. »Hältst du mich etwa für fähig, ein Dieb zu sein?«

»Ja.«

»Mensch, ich fordere dich!«

»Das ändert nichts an der Sache. Wer moralisch so heruntergekommen ist, daß er bayrische Cigarren nach Böhmen schmuggelt, der ist jeder Schandthat fähig.«

»Also du auch, mein ehrwürdiger Vater! Kannst du mir beweisen, daß ich schon einmal gestohlen habe?«

»Ob ich das kann, ist hier gleichgültig; die Hauptsache ist, daß du höchst wahrscheinlich heut in der Nacht gestohlen haben wirst, ehe der Hahn zum drittenmal kräht.«

»So sage mir doch endlich, was mich reizen soll, eine solche Sünde gegen dein bescheidenes Eigentum zu begehen!«

»Ich spreche nicht von meinem, sondern von dem Eigentume unsers hochherzigen Gastgebers Franzl. Schau um dich, und schau über dich! Wende ganz besonders deinen Blick nach oben!«

»Ach, jetzt verstehe ich!« lachte er.

»Lache nicht, oh du mein armes Schmerzenskind! Wer bei dem Gedanken an die Sünde so leichten und fröhlichen Herzens sein kann, wie du bist, der ist ihr bereits verfallen. Du hast weder am Mittag noch am Abend etwas gegessen; es wird die Pein des Hungers über dich kommen und dich aus dem Schlafe wecken. Wenn du dann den erquickenden Duft der Fleischer-, Schlächter-, Selcher-und Wurstler-Gilde verspürst und dein geistiger Blick sogar zu gleicher Zeit nach jenen lieblichen Kuchenschragen gerichtet wird, so steht dir die schwerste Versuchung nahe, da in jeder Wurst ein Satan wohnt und der oberste der Teufel die Gewohnheit hat, grad die frömmsten Herzen mit geräuchertem Schinken zu bombardieren. Es ist meine Pflicht, dich zu warnen; nun sorge du dafür, daß meine wohlgemeinten Worte nicht auf den Felsen oder unter die Dornen fallen, wo sie nicht aufgehen und Früchte tragen können! Halte fest an deiner Pflicht, und bleibe ein ehrlicher Mensch! Und nun Gutenacht, mein teurer Sohn!«

»Gute Nacht, lieber Urgroßvater! Willst du dich wirklich schon schlafen legen?«

»Ja, denn es ist für die Gesundheit stets besser, der Nachtwächter zu sein, der die Nachtwacht in der Vormitternacht gewacht gehabt hat, als der Nachtwächter, der die Nachtwache in der Nachmitternacht gewacht gehabt hat. Auch das kannst du dir merken!«

»Ich wollte dich nur fragen, ob ich unsers Geldes wegen die Thür verriegeln soll?«

»Thue es, oder thue es nicht; das ist ganz egal, da wir nicht wissen, ob sich hier im Zimmer oder außerhalb desselben die gefürchteten diebischen Gelüste regen werden.«

»Hast du Zündhölzer bei dir?«

»Ja, ein ganzes Päckchen und das Fläschchen dazu.«

»So lege sie dir zu Hand! Ich werde zwar zuschließen, aber man weiß nicht, ob es fest genug ist. Schläfst du rechts oder links?«

»Auf beiden Seiten, denn ich pflege mich öfters umzudrehen.«

»Ich meine, in welchem Bette du schlafen willst!«

»Jedenfalls nicht in dem, in welches du dich legen wirst.«

»Schrecklicher Mensch! Ich nehme das hier rechts.«

»Wo grad die schönsten Würste darüber hängen? Nein, mein Sohn, das nehme ich. Leg du dich in das andere; da ist der Himmel leer!«

»Höre, Sappho, ich glaube, daß du mich vor dem Diebstahle gewarnt hast, nur um ihn selbst zu begehen!«

»Das beweist, daß du mit Muhammed, der auch einen falschen Glauben gepredigt hat, auf der gleichen Stufe stehst. Nun aber laß mich ruhen! Nochmals Gutenacht!«

»Gute Nacht, edler Meergreis; Schlaf wohl!«

Ich löschte das Licht aus, setzte es auf meinen Stuhl und legte mich nieder. Als ich grad am Einschlafen war, hörte ich Carpios Stimme:

»Höre, ob sie es wohl abgeben wird?«

»Was?«

»Nun, mein Empfehlungsschreiben.«

»Ach so! Ja, wo lebt denn dein Verwandter?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Höre, lieber Freund, wenn dein Verwandter etwa nur in deiner Phantasie zu suchen ist, so war es eine Schlechtigkeit von dir, dieser armen Frau weiszumachen, daß – –«

»Schweig!« unterbrach er mich. »So ein Halunke bin ich natürlich nicht. Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will.«

»Also für mich nicht?«

»Nein.«

»Für andere Mitschüler, wie ich erfahren habe, auch nicht?« »Nein.«

»Danke!«

»Bitte! Fühlst du dich etwa beleidigt?«

»Natürlich! Das nennt sich Busenfreund!«

»Hm! Sappho, ich will dir etwas sagen: Ich habe einen guten Grund, gewisse Menschen nicht über diesen meinen Verwandten aufzuklären.«

»Wer sind diese gewissen Leute?«

»Alle Personen männlichen Geschlechtes, welche ungefähr in meinem Alter stehen.«

»Warum grad dieses?«

»Das ist natürlich tiefstes Geheimnis, worüber ich ein ewiges Schweigen bewahren werde; dir aber will ich es enthüllen. Ich hoffe, daß du das für einen unanfechtbaren Beweis meiner Freundschaft halten wirst!«

»Selbstverständlich! Also – –?«

»Kein Masculinum meines Alters erfährt etwas über meinen Verwandten, weil – – weil – – hm, weil – – –«

»Nun – – weil – – –? Heraus damit!«

»Weil – – weil – – na, ich will es dir also sagen: Weil der Kerl dann hinüberfahren und sich für mich ausgeben könnte, um mich zu beerben.«

»Alle Donner! Carpio, bist du verrückt?«

»Nein. Grad dieses mein Verhalten muß dir beweisen, daß ich im Gegenteile ganz bei Sinnen, sogar ganz bei Scharfsinn bin.«

»Das bist ganz du! Bei dir wird eben alles zum Roman! Wer das thäte, was du sagtest, der wär ein Halunke!«

»Halunken giebt’s genug!«

»Er müßte falsche Papiere haben!«

»Falsche Papiere giebt’s genug!«

»Und ein ungeheurer Lügner sein!«

»Lügner giebt’s genug!«

»Er müßte auch dich und eure Verhältnisse kennen!«

»Solche Kenner giebt’s genug! Du siehst, daß du mich mit deinen Gegengründen nicht zu schlagen vermagst. Nein, nein, eine solche Erbschaft laß ich mir nicht wegschnappen! Du mußt nämlich wissen, daß mein Verwandter in einer Gegend wohnt, die ein wahres Eldorado ist!«

Aha! Das war ja der erste Blitz! Ich war überzeugt, daß er nun nicht eher einschlafen könne, als bis er auch die beiden andern Blitze losgelassen hatte.

»Hast du es gehört?« fragte er.

»Ja.«

»Ein wahres Eldorado ist es.«

»Falsch!«

»Falsch? Wieso?«

»Es muß heißen: ein wahres Dorado. El ist der Artikel.«

»Was geht mich der Artikel an, wenn nur die Sache richtig ist! Du weißt doch, was Eldorado bedeutet?«

»Ja.«

»Ein Land voll lauter Gold und Edelsteinen. Da kannst du dir denken, daß mein Verwandter Millionär ist!«

Millionär – – zweiter Blitz!

Da ich nicht antwortete, fragte er nach einer Weile:

»Schläfst du schon?«

»Nein, aber ich möchte schlafen!«

»So warte nur noch einen Augenblick! Ich muß dir nämlich sagen, daß mein Verwandter keine Verwandten hat.«

»Nicht? Wenn er dein Verwandter ist, hat er doch welche!«

»Wen denn?«

»Dich und deine Familie.«

»Ach so – – richtig! Wir sind aber auch seine einzigen Verwandten. Weißt du, was daraus folgt?«

»Nun, was?«

»Daß wir uns als seine Universalerben zu betrachten haben. Hast du das verstanden?«

Universalerben – – dritter Blitz. Jetzt waren alle drei heraus, und nun ließ er mich wahrscheinlich schlafen.

»Das habe ich verstanden,« antwortete ich. »Aber etwas anderes kann ich nicht verstehen.«

»Was?«

»Daß du mich als deinen einzigen wahren Freund betrachtest und doch gegen mich dasselbe Schweigen bewahrst wie gegen alle andern männlichen Personen deines Alters.«

»Das thue ich nur dir zuliebe.«

»Wieso?«

»Du bist ein braver, ehrlicher Kerl, und grad darum möchte ich dich vor Versuchungen bewahren.«

»Unsinn!«

»Höre, das ist kein Unsinn! Wenn in einem Eldorado ein Millionär wohnt, dessen Universalerbe man werden kann, so ist das eine so ungeheure Versuchung, daß selbst der treueste Busenfreund in Gefahr steht, ihr zu erliegen. Du bist mir lieber als alle andern Menschen, die ich kenne; aber grad diese Liebe ist der Grund, daß ich dich auch vor der kleinsten Versuchung bewahren will!«

»So bewahre mich also, und sei still. Gutenacht!«

»Schlaf wohl!«

Es verging wieder eine Weile; da fragte er:

»Bist du noch wach?«

»Nein; ich schlafe!«

»So muß ich dir doch noch eins sagen, nur noch eins. Es ist mir nämlich eben jetzt eingefallen daß – –«

»Du hast dir jetzt gar nichts mehr einfallen zu lassen!« unterbrach ich ihn. »Ich will schlafen!«

»Aber es ist ganz kurz!«

»Kurz oder nicht; das ist ganz egal! Wenn du mich nicht in Ruhe lässest, so lange ich mir einen Schinken von da oben herunter und werfe ihn dir an den Kopf!«

»Thue das, lieber Sappho! Ich hänge ihn gewiß nicht unangeschnitten wieder hinauf, denn ich habe Hunger, riesigen Hunger. Er ist gekommen wie ein gewappneter Mann und geht wie ein brüllender Löwe in meinem Bette um!«

»Ach, wenn du brüllende Löwen im Bette hast, so bin ich ja gerettet!«

»Gerettet? Wie meinst du das?«

»Da hast du so mit diesen Bestien zu thun, daß du dich nun wohl nicht mehr mit mir beschäftigen wirst.«

»Na, wenn dich ihr Gebrüll nicht aufweckt, so magst du ruhig schlafen. Ich werde dich nicht mehr molestieren!«

Er hielt Wort; ich schlief ein, wurde aber nach ungefähr einer halben Stunde wieder aufgeweckt, denn ich hörte ihn ängstlich rufen:

»Sappho, Sappho, wach auf! Wach auf, und nimm mich herunter! Schnell, schnell!«

Die Stimme kam nicht von seinem Bette, sondern aus einer andern Gegend her; es klang wie von oben herab.

»Wo bist du denn?« fragte ich.

»Ich hänge hier oben!«

»Wo denn?«

»An der Wurst. Mach nur Licht! So lange kann ich mich schon noch halten. Der Stuhl ist umgestürzt.«

Er hing an einer Wurst! Ich sagte lachend:

»Aber, Mensch, wenn man das Leben auch noch so überdrüssig hat, braucht man sich doch nicht grad an eine Wurst zu hängen!«

»Mach keine dummen Witze, sondern beeile dich, sonst reißt die Schnur; obgleich sie vierfach ist!«

»Was?« fragte ich. »Die Wurst hängt gar an einer vierfachen Schnur?«

»Die Wurst nicht, sondern ich!«

»Ist sie noch oben?«

»Ja, beide sind wir noch da! Hilf mir herunter!«

Jetzt brannte das Licht, und ich konnte die Situation überblicken. Er hing wirklich an einer Wurst, oder vielmehr nicht an, sondern neben derselben. Unter ihm lag das ausgebreitete Deckbette und auf diesem der umgefallene Stuhl.

Es muß bemerkt werden, daß das Zimmer höher als gewöhnliche Bauernstuben war und daß die meisten der eingeschraubten Haken die Stärke von Lampenhaken hatten. An einem dieser starken Haken hing die dicke Magenwurst, auf welche Carpio es abgesehen gehabt hatte; er trug zu gleicher Zeit die vierfach zusammengelegte Schnur, welche Carpio in beiden Händen hielt, während er das andere Ende sich unter der Achselhöhle durchgezogen hatte. Er hing an ihr höher, als der umgefallene Stuhl gewesen war, was ich zunächst nicht begreifen konnte. Er war übrigens kein schlechter Turner, sonst hätte er es nicht so lange, bis ich ihm zu Hilfe kam, aushalten können.

Ich nahm Kniebeuge und ließ ihn auf meiner Schulter Halt fassen, von wo er dann auf das Bett heruntersprang. Die mit herabgezogene Schnur in den Händen, warf er einen bedauernden Blick nach oben und sagte in wehmütigem Tone:

»Sie war die größte und verlockendste von allen; nun stehe ich wieder hier unten, und sie, sie hängt noch oben!«

»Dieb! Wurstspitzbube! Schinkenräuber! Ich habe dich gewarnt. Du konntest Hals und Beine brechen!« fuhr ich ihn sehr ernst an, obgleich ich, wie ich zu meiner Schande gestehe, innerlich lachen mußte.

»Was geht es mich an, ob mein Hals und meine Beine ganz bleiben oder nicht, da ich die traurige Gewißheit habe, daß ich diese Nacht nicht überleben werde!«

»So groß ist dein Hunger?«

»Schauderhaft! Du hast mir grad das Bett geraubt, worüber der Himmel das Aussehen einer vollgestopften Räucherkammer hatte, während über dem meinigen alles leer ist. Auf dein Bett konnte ich nicht treten, weil dich das aufgeweckt hätte; darum suchte ich mir da vorn, ehe du das Licht auslöschtest, diejenige Wurst aus, welche in Beziehung auf ihre Größe und Wohlgestalt meinem heimlichen Zwecke zu entsprechen schien. Um jedes, auch das leiseste Geräusch zu dämpfen, legte ich meine Zudecke unter, auf welche ich den Stuhl stellte. Aber das reichte, wie ich bald bemerkte, leider nicht aus, denn ich durfte die Wurst nicht abschneiden, sondern ich mußte sie empor-weil aus dem Haken heben. Eine Unterlage auf den Stuhl konnte ich im Dunkeln nicht finden, und so – – –«

»Hättest du doch ein paar Käsekuchen von dort untergelegt!« fiel ich ihm in die Rede.

»Schweig, gefühlloser Mongolenhäuptling!« antwortete er. »Durch diesen hochverräterischen Vorschlag, den ich mir übrigens merken werde, verrätst du, daß du von tungusischen oder ostjakischen Urahnen abstammst! Also – – ich konnte nicht hoch genug steigen; darum nahm ich mir vor, mich hoch genug zu ziehen. Du weißt doch, daß ich stets eine Anzahl Reiseschnuren bei mir führe?«

»Reiseschnuren! Dieser Ausdruck ist gut, sehr gut!«

»Wieso? Spottest du?«

»Nein. Ich denke dabei an ungarische, russische und andere Pferdediebe, welche auf ihre Reisen Halfter mitzunehmen pflegen, in denen dann, ehe man die Hand umdrehe, fremde Pferde zu stecken pflegen. Also wie war es mit deinen Reiseschnuren, die eigentlich heimliche oder verkappte Wurstschnuren zu sein scheinen?«

»Ich legte sie, damit sie mich halten könnten, vierfach zusammen, band mir das Ende unter der Achsel fest, weil man da am wenigsten empfindlich ist, wie z.B. das Turnen an den Schwingen beweist. Dann stieg ich wieder auf den Stuhl und warf die vierfache Schnur so in die Höhe, daß sie sich in den Haken fing.«

»Ein Kunststück ohne Licht!«

»Es gelang freilich nur nach wiederholtem Versuche. Ich hing also an der Achsel, und die Schnuren liefen oben über den Haken. Indem ich sie um die eine Hand wickelte und mit der andern weiter-und höhergriff, konnte ich mich emporziehen und dann die Wurst aus dem Haken heben. Ich zog und zog; es ging, denn ich half unten dadurch nach, daß ich den Fuß auf die Querleiste der Stuhllehne setzte. Dabei aber stieß ich den Stuhl um; die Nachhilfe fehlte nun, und ich kam nicht weiter; ich mußte dich um Hilfe rufen.«

»Das war nicht notwendig.«

»O doch!«

»Nein. Du brauchtest doch nur die Schnur fahren zu lassen und herunterzuspringen!«

»Kann man eine fest um die Hand gewickelte Schnur, an welcher man hängt, so leicht fahren lassen? Übrigens konnte ich nicht sehen, wo der Stuhl lag; ich konnte mir, auf ihn fallend, Schaden thun. Nein, ich mußte dich rufen. Schau meine Hand! Sieh diese blauen Streifen! Wärst du nicht gleich erwacht, so hätte die Schnur das Fleisch bis auf den Knochen durchschnitten!«

Er hatte recht; ich zog es aber vor, ihm ohne Bedauern zu sagen:

»Das hast du verdient! Ein Pferdedieb wird in Amerika am Halse, ein Wurstdieb in Böhmen aber an der Achsel und den Händen aufgehängt! Und, Mensch, sag, wie hast du dir das denn eigentlich gedacht? Der Wirt oder seine Frau hätte morgen früh doch gleich mit dem ersten Blicke gesehen, daß grad ihre schönste Wurst den Weg aller Würste – –«

»Nichts hätten sie gesehen, gar nichts!« fiel er schnell ein.

»Du wolltest ein Stück abschneiden?«

»Nein.«

»Sie ganz aufessen?«

»Nein, obgleich mein Hunger so groß ist, daß ich mich anheischig mache, zwei oder auch drei solche Magenwürste verschwinden zu lassen.«

»Nicht abschneiden, aber auch nicht ganz verzehren? Ein drittes ist doch gar nicht möglich!«

»Für ein so harmloses und wohlgenährtes Wickelkind, wie du bist, freilich nicht. Aber der hungrige Löwe, welcher vorhin in meinem Bette brüllte, macht erfinderisch. Ich hatte mir das ganz schön ausgedacht. Sieh die Wurst an! Sie ist nach allen Seiten mit einer Schnur umwickelt, jedenfalls deshalb, daß sie beim Kochen im Wurstkessel nicht zerplatzen sollte. Meinst du nicht auch?«

»Meinetwegen! Ich halte dieses Problem nicht für hoch und würdig genug, in einer so wichtigen Stunde, wie die jetzige ist, meine Gedanken zu beschäftigen. Lassen wir die Schnur also drumgewickelt! Übrigens sind wir jetzt in Österreich, da heißt es nicht Schnur, sondern Spagat.«

»Schön, also Spagat! Ich wollte diesen Spagat vorsichtig heruntermachen und dann einen Triangel in die Wursthaut schneiden, vorsichtig, unendlich vorsichtig natürlich. Diese Hautdreiecke hätte ich geöffnet und dann aus dem Innern der Wurst soviel herausgeholt, wie nötig war, den Löwen zu füttern, der meinen Magen jetzt als Raubtierkäfig benutzt. Wenn er dann satt war, wollte ich – – hm!«

»Was wolltest du? Heraus damit!«

»Lieber Mongole, du siehst doch ein, daß die Wursthaut wieder gefüllt werden mußte?«

»Natürlich mußte sie das! Aber womit? Ich bin neugierig, was du dazu nehmen wolltest.«

»Ja, diese Frage war freilich schlimmer als die orientalische. Dir durfte ich mich nicht anvertrauen; etwas Eßbares, was ich erreichen konnte, gab es nicht als nur die Kuchen dort. Hätte ich ein Stück abgeschnitten und in die Wurst gestopft, so wäre die Lücke bemerkt worden. Nicht?«

»Ja. Die Kuchen sind leider alle ganz; es ist keiner von ihnen angeschnitten.«

»Das ist ja die Sache, die mir Schmerzen macht!« sagte er grimmig; dann fügte er in vertraulichem Tone hinzu: »Weißt du, Sappho, wer sich über die Kuchen machen will, der muß gleich einen ganzen essen; das wird nicht so leicht entdeckt, als wenn man ein Stück herausschneidet!«

»Du, Carpio, du hast doch nicht etwa in dieser Beziehung Gedanken, die mir schrecklich wären?!«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich bin ein Ehrenmann; das weißt du doch!«

»Ja, ein Ehrenmann, welcher Triangel in die Würste schneidet! Also womit wolltest du sie füllen?«

»Mit – – mit – – ich habe nämlich bemerkt, daß mein Kopfkissen ein Loch hat. Am Inlet scheint eine Naht aufgegangen zu sein, denn die Federn kommen unten aus dem Überzug heraus. Ahnst du es nun, Sappho?«

»Carpio, Mensch, Wurst-und Federdieb! Welch ein Gedanke! Du hast die Wurst mit Bettfedern ausstopfen wollen?«

»Ja, mit Bettfedern,« antwortete er, ich weiß nicht mehr, ob kleinlaut oder triumphierend.

»Welch verderbte, lasterhafte Welt! Ich sage dir, daß dieser dein Gedanke von einer Bosheit ist, die mich geradezu schaudern läßt! Ich sehe im Geiste den guten Franzl mit seiner Frau am Tische sitzen und die Magenwurst anschneiden. Da quellen Federn heraus! Welche Gesichter! Welch ein Aufwand an Geist und Scharfsinn, um dem Wunder, daß ein Schwein keine Borsten, sondern Federn hat, auf die Spur zu kommen!«

»Sie hätten die Lösung des Rätsels, nämlich das hineingeschnittene Triangel bald gefunden, aber wohl schwerlich die Schuld auf uns geworfen.«

»Auf uns! Das ist es ja, was mich so sehr empört, nämlich, daß ich, der Unschuldige, bei der Entdeckung auch in die Gefahr käme, als Dieb betrachtet zu werden!«

»Beruhige dich, hochverehrter Busenfreund! Dein sittlicher und strafrechtlicher Widerwille ist nur deshalb so groß, weil du keinen Hunger hast! Also ich hätte die Federn in die Wurst gestopft, die Haut an den Triangelschnitten etwas übereinander gelegt und dann die Schnur wieder darumgewickelt. Hing sie dann oben an ihrem heimatlichen Haken, so wäre beim hellsten Tageslichte nicht zu sehen gewesen, daß ich bei nachtschlafender Zeit allhier die Fütterung meines Löwen vorgenommen habe. Leider ist nichts daraus geworden, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiterzuhungern!«

»Es ist schon drei Uhr nachts; du wirst es bis zum Kaffee aushalten müssen und wohl auch können. Hättest du es Franzl noch vor dem Schlafengehen gesagt, so lägst du jetzt als gesättigter und zufriedener Bürger in den Armen des Schlafes der Gerechten. So aber wirst du unter den Geißelhieben der Furien nicht einschlafen können bis zum Grauen des Morgens, welche Bezeichnung heute doppelt richtig ist, weil es ihm vor dir graut!«

»Ich wollte, diese Hiebe bekämst du! Ich verzichte auf deine Furien, denn ich habe an meinem Hunger genug. Komm, wollen uns wieder niederlegen!«

»Ja, stecke deine berühmten Reiseschnuren ein; laß den Stuhl auf seinen eigenen Füßen stehen, und leg das Bett dahin, wohin es gehört. Und das sage ich dir noch: Wenn du mich wieder wecken solltest, um dich vom Haken herunterzuholen, so lasse ich dich hängen und gehe an meinem Wanderstabe ohne deine hungrige Begleitung weiter!«

Ich blies das Licht wieder aus und kehrte zu Morpheus zurück, dem mich der Busenfreund so rücksichtslos entrissen hatte. Als ich erwachte, war es zehn Uhr vormittags. Carpio lag mit offenen Augen im Bette; er stöhnte leise vor sich hin und war vor Hunger bleich wie Konzeptpapier.

»Aber, Carpio, was liegst du noch?« fragte ich erstaunt. »Du scheinst schon längst wach zu sein? Warum bist du bei deinem Hunger nicht aufgestanden und hinuntergegangen, um zu essen?«

Er holte tief, tief Atem und seufzte:

»Ich – – ich – – habe keinen Appetit!«

Diese ganz und gar unerwartete Antwort veranlaßte mich, sofort aufzuspringen, um sämtliche Räuchersachen einer gründlichen Ocular-Inspektion zu unterwerfen. Ich fand nichts, was meinen Verdacht bestätigte.

»Du denkst wohl, ich bin noch einmal aufgestanden und habe mich mit den Sachen da oben beschäftigt?« fragte er mich in müdem Tone. »Ist mir nicht eingefallen! Ich sage dir, Sappho, der Geruch dieser Würste und Schinken ist mir jetzt zuwider!«

»Wirklich?« fragte ich erstaunt.

»Ja. Auf Ehrenwort, ich könnte keinen einzigen Bissen davon essen!«

»Das begreife ich nicht.«

»Weil du meine Konstitution nicht kennst. Weißt du denn nicht, daß es Menschen giebt, welche, wenn sie den Hunger einmal übergangen haben, dann für lange Zeit nicht imstande sind, auch nur die geringste Kleinigkeit zu genießen? Sie sind ganz satt, wie vollgestopft.«

»Mit Bettfedern?«

»Mach keinen dummen Witz! Zu diesen Vollgestopften gehöre ich auch. Daß ich heute nacht den Hunger übergehen mußte, wird mir gar nicht gut bekommen; glaube mir, ich bin innerlich wie zugeleimt! Wer weiß, welche lange Zeit vergehen wird, bis ich etwas essen kann. Mein Leib ist ganz hart; ich kann kaum Atem holen!«

»Das sind aber doch Symptome des strikten Gegenteiles vom Hunger!«

»Das verstehst du nicht. Es sind die Symptome eines sehr stark übergangenen Hungers!«

»Aber ich habe doch schon ziemlich oft gehungert, doch davon nie einen solchen Leib und Atembeschwerden gehabt wie du!«

»Das kommt davon, daß deine Konstitution eine ganz andere Struktur hat als die meinige. Mein Hunger ist ein Löwe, der deinige ein Rhinoceros, also zwei Tiere, welche zu ganz verschiedenen Klassen gehören. Ich habe jetzt – –«

Er wurde unterbrochen, denn Franzl klopfte an die Thür und forderte uns auf, nun endlich doch hinunterzukommen, sonst werde der Kaffee so dick wie Pflaumenmus.

»Ich bliebe am liebsten liegen,« seufzte mein Busenfreund. »Es liegt mir wie Blei in den Gliedern. Komm, zieh mich in die Höhe!«

Ich that das. Er sah wirklich ganz elend aus. Seine Wangen waren jetzt aschfahl und eingefallen; die Augen hatten einen stieren, wie abwesenden Blick.

»Du, Carpio, wollen doch zu einem Arzt gehen,« schlug ich vor. »Das kann unmöglich vom übergangenen Hunger sein; das sieht vielmehr ganz so aus, als ob eine Krankheit im Anzuge sei!«

»Unsinn!« lächelte er matt. »Den Anzug zieh ich selber an; da lasse ich keine Krankheit hinein.«

»Na, wenn du noch imstande bist, solche lebensgefährliche Witze loszulassen, dann darf man ja alle Hoffnung haben, daß du noch nicht ganz tot bist!«

»Es wird schon wieder werden; ich kenne mich. Hilf mir nur, ich kann mich nicht gut bücken!«

Ich war schnell mit mir fertig; bei ihm aber ging es außerordentlich langsam; es war, als ob er sich gar nicht mehr drehen und wenden könne. So schwerfällig und apathisch wie heute hatte ich ihn noch nie gesehen. Auch die Treppe hinunter ging es so langsam mit ihm, als ob ihm die Kniegelenke eingefroren seien.

Unser Franzl saß mit der Wirtin im Gastzimmer beim zweiten Frühstücke. Sie blühte wie eine Rose und begrüßte uns mit einer Freundlichkeit, welche bewies, daß ihr die uns bewiesene Gastfreundschaft aus dem Herzen kam. Von Abreise durften wir gar nicht sprechen. Wir erfuhren, daß Franzl per Schlitten nach Maria Kulm müsse, und beide hielten es für ganz selbstverständlich, daß wir mitzufahren hätten. Es fiel uns auch gar nicht ein, eine Einwendung dagegen zu machen. Was gern gegeben wird, nimmt man gern an, und wir freuten uns, den berühmten Wallfahrtsort kennen zu lernen.

Mein kranker Busenfreund war leider nicht imstande, dieser Freude einen so lebhaften Ausdruck zu geben wie ich. Er trank nur einen einzigen Schluck Kaffee und nahm keinen Bissen zu sich. Franzl beobachtete ihn unter wiederholtem Kopfschütteln; er wollte nicht glauben, daß ein übergangener Heißhunger den Appetit mit solcher Gründlichkeit verderben könne.

Natürlich erkundigte ich mich nach den drei Fremden von gestern abend.

»Undankbare Gesellschaft!« antwortete die Wirtin kurz.

Auf mein Warum erklärte Franzl:

»Die sind schon fort, ehe wir aufgestanden waren; der Knecht hat sie hinauslassen müssen.«

»Also doch, wie ich dachte! Ich habe es Ihnen gestern vorausgesagt, als die Frau nicht mit Gutenacht, sondern mit Lebewohl grüßte.«

»Warten Sie nur; die Hauptsache kommt erst noch: Als meine Frau in der Stube, wo sie übernachteten, nachsah, lagen die geschenkten Kleidungsstücke, der Kuchen, die Wurst und sogar meine fünf Gulden auf dem Tisch. Sie haben das alles nicht mitnehmen wollen.«

»Fünf Gulden? Nicht sechs?«

»Nur meine fünf; den Ihrigen haben sie behalten. Was sagen Sie zu so einer Undankbarkeit und Schlechtigkeit?!«

Ich war damals noch sehr jung und durfte von Menschenkenntnis nicht sprechen; aber dennoch kam mir der Gedanke, daß ich an Stelle der Frau wahrscheinlich nicht anders gehandelt hätte als sie. Es war Stolz, ob Bettelstolz oder – –? Ich hütete mich natürlich, meine Meinung zu äußern, mußte aber während des ganzen Tages an die armen Menschen denken und an die tiefe Wirkung, welche das Gedicht auf den Greis hervorgebracht hatte. Am liebsten wäre ich ihnen nachgegangen, um ihnen zu sagen, wie sehr sie mir durch die Zurücklassung der Geschenke imponiert hatten. Bei ihrer traurigen Lage war diese Verzichtung ein Opfer, dessen Größe unsere Gastfreunde leider nicht begriffen.

Wir saßen bis Mittag mit Franzl allein zusammen, weil seine Frau das Essen zu bereiten und auch sonst in der Wirtschaft zu thun hatte. Einmal rief sie ihn in die Küche. Wir hörten sie draußen laut und herzlich lachen, und als er dann wiederkam, kniff er das eine Auge zusammen, was ihm einen außerordentlich gutmütig pfiffigen Ausdruck verlieh, und fragte mich:

»Heut giebt’s Kartoffelklöße, so groß wie mein Kopf; das stopft! Essen Sie mit?«

»Natürlich, denn die sind mein Leibessen!« antwortete ich.

»Und Sie?«

Er richtete diese Frage offenbar mit größerer Spannung an Carpio, welcher sich schüttelte und dann antwortete:

»Sappho mag nur nicht von Leibessen reden, denn er hat lauter Leibessen; alles, was gegessen werden kann, ist sein Leibessen! Aber ich, mit meinem zarten Magen! Klöße! Brrr! Das schüttelt mich förmlich!«

»Ja ja, Klöße!« nickte jetzt der Franzl mit komischem Ernste vor sich hin. »Aber könnten Sie Quark mit Kartoffeln essen?«

»Quark? Keine Spur! Keine Messerspitze! Ich müßte hinaus, müßte ausreißen!«

»Schaun Sie an! Aber früher konnten Sie Quark essen?«

Ich wußte nicht, warum er so fragte, und antwortete schnell an Carpios Stelle:

»Gleich mit Löffeln hätte er ihn gegessen! Noch vorgestern haben wir welchen gehabt!«

»Schau, schau! Da muß ein übergangener Hunger freilich eine schlimme Sache sein. Ich habe das noch nicht erlebt und mag’s auch gar nicht kennen lernen.«

Ich fühlte es wohl heraus, daß diese Worte irgend eine besondere Bedeutung hatten, fand aber keine Zeit, nach ihr zu forschen, weil er gleich von etwas anderem zu sprechen anfing.

Die Klöße mundeten mir vortrefflich; Carpio aber setzte sich gleich gar nicht mit an den Tisch. Er erklärte, seinen Heißhunger nur durch die allerstrengste Diät wieder herstellen zu können: Similia similibus curantur, Ähnliches mit Ähnlichem, Gleiches mit Gleichem, Hunger mit Hunger!

Gleich nach Tische begann die Schlittenfahrt, welche mir große Freude machte. Ich wußte, daß es auch für Carpio kein größeres Vergnügen geben konnte als so eine Schlittenpartie, und bedauerte es herzlich, daß sein Unwohlsein ihn hinderte, dieses Vergnügen so vollauf wie ich zu genießen. Franzl aber, der doch sonst so menschenfreundliche Mann, schien das Leiden seines Gastes mehr ironisch als tragisch zu nehmen, was den Busenfreund so verstimmte, daß er zuletzt kein Wort mehr sprach und nur kurz erklärte, daß er sich nach der Heimkehr sofort schlafen legen werde.

Das ging aber doch nicht so schnell, wie er gedacht hatte, obgleich wir so spät ankamen, daß schon alle Gäste fortgegangen waren. Die Wirtin sagte uns nämlich, daß sie unter dem Kopfkissen des Bettes, in welchem die fremde Frau geschlafen hatte, etwas Wichtiges gefunden habe, und gab es ihrem Manne. Wir sahen sogleich, daß es das Couvert mit den Schiffskarten war. Dieser Verlust konnte unschwer erklärt werden: Sie hatte dem Wirte den Paß vorzeigen müssen und ihn dann wieder in ihr Tuch gewickelt. Später war uns von ihr das Couvert gezeigt worden, welches sie dann jedenfalls nicht so sorgfältig wie vorher den Paß eingeschlagen hatte. Beim Schlafengehen war sie so vorsichtig gewesen, das Tuch mit den beiden wichtigen Gegenständen unter ihr Kopfkissen zu legen. Dabei oder während ihrer Bewegungen im Schlafe oder vielleicht auch erst früh beim Wegnehmen des Tuches war das Couvert herausgerutscht und unter dem Kissen liegen geblieben.

Jetzt wußte der Wirt nicht, was er mit dem Fundgegenstande anfangen sollte, während ich sofort im stillen entschlossen war, ihn der Eigentümerin zuzustellen.

»Ich werde das Couvert morgen früh der Polizei übergeben,« meinte er.

»Nein, das werden Sie nicht,« sagte ich.

»Warum nicht?«

»Weil es so blutarmen Leuten, welche von der Mildthätigkeit anderer leben müssen, jedenfalls sehr unangenehm ist, wenn sie mit der Polizei auch nur in Berührung kommen müssen. Man würde sie nach allem ausfragen, und das Ergebnis könnte sein, daß sie als Landstreicher eingesperrt und dann per Schub nach ihrer Heimat transportiert würden, wohin sie, wie wir wissen, nicht wieder wollen.«

»Sie sind wohl auch weiter nichts als Landstreicher!«

»Nein, sie sind brave, unglückliche Menschen, deren Not man nicht noch vergrößern darf.«

»Aber was soll ich sonst thun? Das Couvert mit der Post nach Graslitz schicken, denn dorthin wollten sie?«

»Das geht auch nicht an, denn Sie kennen ihre dortige Adresse nicht, und die Karten dürfen nicht allen möglichen Zufällen oder gar der Gefahr ausgesetzt werden, verloren zu gehen.«

»Aber nach Graslitz müssen sie doch!«

»Allerdings. Ich schlage vor, sie sicheren Leuten anzuvertrauen, welche nach diesem Orte gehen und Frau Wagner dort aufsuchen werden.«

»Das würde allerdings das Klügste und Sicherste sein; aber ich weiß keinen Menschen, der grad jetzt die Absicht hat, nach Graslitz zu gehen. Und warten, bis irgend jemand zufällig auf diesen Gedanken kommt, dazu giebt es keine Zeit, denn diese Angelegenheit ist eilig.«

»Wenn Sie nicht, so kenne ich zwei Personen, welche bereit sind, diesen Botengang zu übernehmen.«

»Sie? Wer ist das?«

»Ich und Carpio.«

»Sie selbst? Sie wollen nach Graslitz? Ich denke, Ihr Weg führt Sie nach Karlsbad und weiterhin?«

»Wir haben eigentlich gar keine festgestellte Tour. Wir wandern, um zu wandern, ohne eigentliches Ziel. Das einzige, was wir dabei zu beachten haben, ist, daß bei uns der Unterricht am siebenten Januar wieder beginnt; da müssen wir daheim sein. Ob wir nach Karlsbad oder nach Graslitz gehen, ist gleichgültig.«

»Aber die Tour nach Karlsbad ist bequemer; Sie haben da stets vortreffliche Straße, während der Weg über Berg und Thal nach Graslitz hinauf jetzt im Winter so beschwerlich ist, daß wenigstens ich ihn nicht gehen möchte. Oder wollen Sie fahren?«

»Nein. Erstens sind unsere Mittel dazu zu gering, und zweitens müssen wir mit in Rechnung ziehen, daß wir die Gesuchten leicht noch unterwegs treffen können; wir müssen uns also für dieselbe Transportgelegenheit wie sie entscheiden, nämlich für Schusters Rappen.«

»Schade, jammerschade! Sie gefallen uns, und wir rechneten darauf, daß Sie noch einen oder zwei Tage bei uns bleiben würden. Wenn Sie wenigstens morgen noch bleiben, kann es leicht möglich sein, daß Sie der Frau die Karten hier geben können.«

»Wieso?«

»Weil sie, wenn sie ihren Verlust bemerkt, schnell umkehren und wieder zu uns kommen wird, um die Karten zu holen.«

»Das bezweifle ich, denn sie wird glauben, sie unterwegs verloren zu haben. Wenn sie nicht die feste Überzeugung hätte, sie von hier mitgenommen zu haben, wäre sie wahrscheinlich jetzt schon wieder da.«

»Es ist möglich, daß Sie recht haben. Also Sie sind wirklich entschlossen, diesen Leuten trotz ihrer Undankbarkeit nach Graslitz nachzulaufen?«

»Ja. Was Ihnen als Undank erscheint, ist vielleicht eine Folge von Gründen, die Sie und wir nicht kennen. Also, wir machen einen Ausflug, weil wir Bewegung brauchen; wohin wir fliegen, wohin wir uns bewegen, das ist, wie schon gesagt, sehr gleichgültig; fliegen wir also nach Graslitz!«

»Na, vom Fliegen wird da wohl keine Rede sein können. Es fängt an zu schneien, und wenn es in dieser Nacht so fortschneit, sind für Sie morgen früh alle Wege zu.«

»Das macht uns heut noch keine Sorge; unsere einzige Sorge ist jetzt nur die, ob Sie uns das Couvert mit den Karten anvertrauen werden.«

»Warum denn nicht? So braven Burschen, wie Sie sind, wird man doch Vertrauen schenken, und ich bin überhaupt froh, daß ich diese Sachen los werde.«

»So brechen wir morgen früh auf, sobald es hell geworden ist. Wir werden wohl jemand finden, der uns den Weg beschreiben kann.«

»Da brauchen Sie nicht weit zu suchen, denn ich stamme aus Bleistadt und kenne ihn ganz genau. Ich werde ihn nachher auf ein Papier zeichnen, welches Sie mitnehmen können.«

»Abgemacht, beschlossen und genehmigt!«

»Nur langsam!« sagte Carpio. »Du thust doch, als ob du dich ganz allein auf der Erde befändest! Du bestimmst, was geschehen soll, und thust das ganz nach deinem Gutdünken, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen. Ich bin aber auch noch da, verehrter Sappho!«

»Das weiß ich. Ich glaubte, allein sprechen zu müssen, weil du die Sprache verloren zu haben scheinst, und war überzeugt, daß du einverstanden sein würdest, wenn es gilt, armen, unglücklichen Menschen zu ihrem Eigentume zu verhelfen.«

»Daß ich gern dabei bin, versteht sich ganz von selbst, nur weiß ich nicht, ob mein übergangener Heißhunger mir morgen schon erlauben wird, einen so beschwerlichen Weg zu machen.«

»Grad darüber brauchen Sie nicht zu sorgen,« fiel Franzl heiter ein. »Ich kenne ein ganz sicheres Mittel, Sie bis morgen früh wieder gesund zu machen. Sie müssen dieses Mittel noch heute abend verzehren.«

»Was ist es?« fragte Carpio neugierig.

»Vier oder fünf Stückchen Quarkkuchen.«

»Quark – – ku – – chen?« dehnte der Busenfreund schaudernd. »Ich würde auf der Stelle sterben, wenn ich meinem Magen das Herzeleid anthäte, auch nur ein einziges zu essen!«

»Aber ich bin überzeugt, daß Sie doch früher dieser Sorte von Kuchen nicht abgeneigt gewesen sind!«

»Früher und jetzt, das sind zwei sehr verschiedene Zeiten. Sie kennen doch das lateinische Sprichwort von den Zeiten und den Menschen, die sich ändern?«

»Gewiß kenne ich es. Es heißt: Saepe luet porci facinus porcellus adulti. Und wenn Sie heut nichts genießen wollen, so werden Sie mir erlauben, dafür zu sorgen, daß Sie wenigstens unterwegs nicht Hunger leiden. Jetzt will ich Papier holen, um Ihnen den Weg aufzuzeichnen.«

Als er das gethan und uns den Weg auch noch sehr eingehend erklärt hatte, gingen wir schlafen. Oben angekommen bemerkte ich, daß der Schragen mit den Kuchen nicht mehr in der guten Stube stand. Dieser Umstand fiel mir keineswegs auf, denn Kuchen hebt man doch nicht in einem Raume auf, in welchem geschlafen wird, und auch der Busenfreund meinte:

»Laß ihn fort sein; ich werde um so besser schlafen, wenn ich diesen Quarkkuchen nicht riechen muß, der mir so zuwider ist, wie ich gar nicht sagen kann!«

Als wir am andern Morgen zeitig Kaffee getrunken hatten, brachte die Wirtin ein großes, schweres Paket Lebensmittel, welches wir mitnehmen sollten. Wir wollten es zurückweisen, weil es uns zuviel schien; sie ging aber nicht darauf ein. Franzl gab uns das Couvert mit den Schiffskarten und noch ein zweites, kleineres. Er sagte:

»Den Abschied wollen wir uns nicht gar so schwer machen, denn ich bin überzeugt, daß Sie auf dem Rückweg wieder bei mir einkehren werden. Bis dahin gebe ich Ihnen ein kleines Andenken an mich mit. Sie haben uns bei Ihrem Kommen so mit Reimen überschüttet, daß ich mir gegen Sie wie ein Schuljunge vorgekommen bin. Da habe ich denn gestern abend, als Sie schliefen, mir Mühe gegeben, auch einen Reim zu machen. Es hat wohl an die zwei Stunden gedauert, bis er fertig war. Sehen Sie, ob er etwas taugt; aber öffnen Sie das Papier nicht eher, als bis Sie aus der Stadt hinaus sind. Darf ich Ihnen noch ein paar Virginias und einige Stücke Quarkkuchen mitgeben?«

Da streckte Carpio, der sich heute wieder wohl fühlte, beide Hände abwehrend aus und rief:

»Ich rauche im Leben niemals wieder, und wenn Sie wollen, daß ich Ihnen ein treues und dankbares Andenken widmen soll, so sprechen Sie das andere Wort, so lange wir noch da sind, ja nicht wieder aus!«

Der Abschied war zwar kurz, aber um so herzlicher. Wir mußten versprechen, auf dem Rückwege, wenn nur immer möglich, ja wieder vorzusprechen und noch einen Tag zu bleiben; dann wanderten wir zur Stadt hinaus. Draußen vor derselben stand ein Einkehrhaus. Als ich an demselben vorüber wollte, hielt mich Carpio an und sagte:

»Lieber Wanderer, geh nicht weiter! Da drinnen lächelt wieder edle Gastlichkeit!«

»Schon einkehren? Wir machen doch keine Bierreise und haben kaum erst zweihundert Schritte gethan!«

Aber der Busenfreund wußte mich zu überreden. Er bewies mir mit mathematischer Schärfe, daß wir unbedingt das mitbekommene Paket untersuchen müßten, was doch unmöglich unterwegs im Freien geschehen könne. Auch müßten wir das Gedicht lesen; ein Bier koste nur sechs Kreuzer und reiche für uns beide – ergo!

Die Stube war leer; dann kam eine Frau, schenkte uns das Bier ein und ging dann wieder hinaus. Wir waren allein. Nun wurde das Paket mit großer Feierlichkeit geöffnet. Es enthielt ein ganzes Stück Butter, einen Käse, ein Stück Schinken, eine halbe Magenwurst, einige Stücke Rosinenkuchen und etwas in Flanell gewickelt. Als wir dies öffneten, fielen zehn blanke Gulden und ein Papier heraus, auf welchem zu lesen stand:

»Für die Visite schulden

Wir Ihnen diese Gulden.

Ihr treuer Franzl.«

Wir ließen unserer frohen Überraschung zehn Minuten lang freien Lauf; als Carpio dann allerlei Vorschläge machte, wie dieses Geld unterwegs zu verwenden sei, sagte ich:

»Es wird nicht ausgegeben, sondern aufgehoben. Unser Reisegeld muß langen.«

»Was hast du da?« fragte der Busenfreund, als er den Lederbeutel sah, den ich auf meinem jungen Herzen trug und jetzt unter der Weste hervorzog.

»Das ist mein geheimer Geldschrank, in welchem die zwanzig Thaler stecken, die ich mir von meinem Honorar für unvorhergesehene Fälle aufbewahrt habe. Hier hinein kommen diese zehn Gulden.«

»Denkst du nicht, daß ein Einbrecher auf den Gedanken kommen kann, daß du diesen Beutel bei dir hast?«

»Hier unter meiner Weste bricht mir niemand ein; darauf kannst du dich verlassen! Du, steckt nicht da zwischen dem Kuchen auch ein beschriebenes Papier?«

»Es scheint so.«

Er zog es heraus und wir lasen:

»Warum es Rosinen-und kein Quarkkuchen ist, wird Ihnen mein Reim sagen.«

»Was dieser Franzl nur immer mit seinen Quarkkuchen hat!« sagte ich.

»Ist auch mir ein Rätsel,« behauptete der Busenfreund in sehr gleichgültigem Tone, wobei aber eine holde Röte auf den Stellen erschien, wo die Schnurrbartspitzen später auf den Backenbart zu treffen hatten.

»Gestern,« fuhr ich fort, »erwähnte er ihn mehrmals, und zwar, wie ich mich erinnere, mit ganz besonderer Betonung. Sollte vielleicht der Umstand damit zusammenhängen, daß gestern abend der Kuchenschragen verschwunden war?«

»Ich bin ganz ohne alle Ahnung!«

»Wirklich?«

»Ja. Doch, um von etwas anderem zu reden, was sagst du zu dieser halben Magenwurst? Mir kommt sie außerordentlich bekannt vor.«

»So? Ah – ja – es ist möglich, daß es die Hälfte von der ist, von welcher ich dir heruntergeholfen habe. Wahrhaftig, der vortreffliche Franzl hat unsertwegen seine schönste Wurst zerschnitten! Oh Carpio, oh Carpio, wie wären wir nun blamiert, wenn du deinen Vorsatz ausgeführt hättest!«

»Welches Unglück!« stimmte er tief aufatmend bei. »Denke dir – – die Federn!«

»Ja, die – – – Federn! Mensch, wir wären wahrscheinlich deinetwegen alle beide zur Thür hinausgeworfen worden! Solche Schande kann man erleben, wenn man einen Spitzbuben zum Busenfreund hat!«

»Schweig! Es ist ja alles noch gut abgelaufen. Es war nur eine Absicht; die kann dem ehrlichsten Menschen kommen; aber zur wirklichen Ausführung würde so etwas bei mir niemals kommen!«

»Na, na!«

»Niemals!« beteuerte er. »Du wirst mir doch zutrauen, daß ich den Unterschied zwischen Mein und Dein zu respektieren weiß!«

»Schon gut! Jetzt wissen wir, was das Paket enthalten hat; nun wollen wir den Reim lesen!«

»Können wir nicht noch warten, lieber Sappho?«

Dieses »lieber Sappho« klang diesmal so zuckersüß, daß es mir auffiel. Darum erkundigte ich mich:

»Warum sollen wir noch warten? Hast du etwa einen besondern Grund?«

»Einen besondern nicht, aber unsere Spannung würde größer.«

»Ich bin kein Freund von übermäßiger Spannung. Sehen wir also nach!«

Ich zog den Umschlag hervor und öffnete ihn. Da legte er seine Hand auf die meinige und fragte:

»Sappho, du bist mein bester, mein allerbester Freund. Willst du mir einen großen, sehr großen Gefallen thun?«

»Welchen?«

»Lies den Reim heut nicht!«

»Wann denn?«

»Später, später, meinetwegen zu Ostern oder zu Pfingsten, nur nicht heut!«

»Höre, Carpio, mit dir ist etwas nicht richtig; du hast kein reines Gewissen. Ich werde lesen.«

»Da sage – ich dir – – die Freundschaft auf!«

»Gut! Betrachten wir sie schon jetzt als vorüber, denn wenn du zu diesem verzweifelten Mittel greifst, muß ich erst recht wissen, was Franzl geschrieben hat.«

Ich zog den Zettel hervor und las ihn. Oh, nun wurde mir freilich alles, alles klar. Armer Carpio! Ich hätte laut auflachen mögen, bezwang mich aber, zeigte meine ernsteste Miene, schob ihm den Reim hin und sagte:

»Hier – – lies!«

Er las und wurde leichenblaß dabei.

»Das – das – – hätte er nicht – – nicht dichten sollen!« stammelte er.

»Wer sagte denn soeben noch, daß so ein schlechter Gedanke bei ihm niemals zur Ausführung kommen könne? Wer behauptete, den Unterschied zwischen Mein und Dein stets zu respektieren? Wer hat sich verstellt, mich getäuscht, belogen und betrogen? Lies mir den Reim laut vor!«

»Das – – das kann ich nicht!«

»Lies! Zur Strafe! Dann verfahre ich vielleicht gelinder mit dir, du – – du – – du Quarkkuchendieb, du!«

»Versprichst du mir wirklich, nachsichtig zu sein?« fragte er so kleinlaut wie noch nie.

»Ja.«

Da las er, und ich hörte ihn an, wie er sich zwingen mußte:

»Hat Carpio mitten in der Nacht

Einen Kuchen ganz zu Quark gemacht,

So stöhnt er unter Angst und Bangen:

›Ich hab den Hunger übergangen!‹«

»Du hast also, als ich schlief, einen ganzen Quarkkuchen aufgegessen?«

»Ja,« gestand er mit einer wahren Armensündermiene. »Ich habe es dir doch vorhergesagt!«

»Nein! Du hast nur gesagt, daß der Verlust schwerer zu entdecken sei, wenn man ihn ganz aufißt. Einen ganzen, ganzen Quarkkuchen von vier Vierteln und acht Achteln! Das bringt doch höchstens nur ein Elefant fertig! Wie ist es dir denn darauf geworden?«

»Schauderhaft, sage ich dir, schauderhaft! Ich werde noch auf Jahre hinaus zittern, wenn ich das Wort Quark nur höre! Übriglassen durfte ich nichts, und als ich mit Ach und Weh fertig war, begann der hinterlistige Teig in mir aufzuquellen!«

»Da dauerst nicht etwa du mich, sondern der edle Löwe, der elend hat ersticken müssen! Du konntest dir doch denken, daß die Wirtin ihre Kuchen gezählt hatte!«

»Das dachte ich natürlich wohl; aber daß sie dann nachzählen würde, dachte ich nicht. Du kannst es mir glauben, lieber Sappho: Wenn du das Quadrat der längsten Hypothenuse samt den Quadraten ihrer beiden Katheten mit einem ganzen Topf voll Gurkensalat und saurer Sahne verzehrst, wird das, was du dann fühlst, gegen das, was ich empfunden habe, als grenzenlose Behaglichkeit bezeichnet werden müssen.«

»Und,« fuhr er nach einer Weile fort, »der körperliche Jammer war nicht der einzige, den ich empfand, denn wie, wie habe ich auch geistig, seelisch leiden müssen! Dich zum Beispiele die herrlichen großen Klöße essen sehen zu müssen, ohne mitthun zu können, das war eine wahrhaft teuflische Grausamkeit, mit welcher mein Schicksal mich strafte. Dann die Schlittenfahrt! Deine Fröhlichkeit, deine lachenden Augen, während ich wie ein in der Magengegend harpuniertes Walroß dick und angeschwollen hinter dir im Schlitten hockte! Es war mir, als hätte ich hunderttausend Zähne verschluckt, welche alle mit Zahnschmerzen behaftet waren, die nun in meinem Innern zu wüten begannen. Ich gebe dir mein Wort, daß – –«

»Halt ein, halt ein!« mußte ich jetzt laut auflachen. »Die Schmerzen von hunderttausend kariösen Zähnen! Dieser Vergleich ist so pompös, so genial und dabei doch so Mitleid erweckend und nach Erbarmen schreiend, daß ich, ich mag nun wollen oder nicht, dem armen, harpunierten Walroß meine Gnade wieder zuwenden muß.«

»Was!« rief er da, vor Freude aufspringend. »Du wolltest – –? du wolltest wirklich – – lieber Sappho?«

»Ja, ich will!«

»Da – – da – – da könnte ich aus Liebe und lauter Dankbarkeit gleich noch – – noch – – noch – –?«

»Nun, was?«

»– – gleich noch einen Quarkkuchen essen, hätte ich beinahe gesagt, aber natürlich keinen gestohlenen! Armer Sappho! Auch du hast unter dem Verdacht gestanden – –«

»Oh nein,« unterbrach ich ihn. »Franzl war pfiffig genug, deinem berühmten übergangenen Heißhunger sofort anzusehen, daß du allein der Schuldige warst. Du hast ihm und seiner Frau heimlich ungeheuern Spaß gemacht.«

»Ich danke! Mir war es nicht sehr spaßhaft zu Mute! Also, du denkst nicht, daß sie zornig auf mich sind?«

»Nein, das denke ich nicht. Trotzdem aber können wir nicht wieder hin zu ihnen. Es bleibt an deiner Ehre doch immer ein Stück von dem Quarke kleben, welches nicht wegzubringen ist. Wollen die Sache auf sich beruhen lassen und machen, daß wir von hier fortkommen!«

»Gut, brechen wir auf! Also, du bist nicht mehr bös auf mich?«

»Nein.«

»Bist wieder gut, vollständig wieder gut?«

»Vollständig!«

Da schob er mir das Bier hin, von welchem wir noch keinen Schluck getrunken hatten, und forderte mich auf:

»Trink, Sappho!«

»Warum trinkst denn du nicht, Carpio?«

»Weil ich aus lauter Dankbarkeit das große Opfer bringen und dir alles lassen will.«

»Danke! Ich mag nichts.«

»Warum nicht?«

»Ich sehe und rieche schon von weitem, daß es sauer ist.«

»Das rieche ich nicht; aber es ist eine Schwabe drin ertrunken. Siehst du sie nicht?«

»Ach, darum deine große, aufopferungsvolle Dankbarkeit?!«

»Ja. Sogar die Schwabe wollte ich dir allein lassen. Komm, wollen gehen!«

Wir banden unser Paket wieder zusammen und gingen; nach kurzer Zeit war Falkenau hinter uns verschwunden.

Es hatte nicht, wie Franzl gestern abend meinte, die ganze Nacht hindurch geschneit, und so gab es für uns, wenigstens zunächst, eine ziemlich gut gebahnte Straße. Den ungefähr eine Meile weiten Weg bis nach Gossengrün legten wir in zwei Stunden zurück. Auf unsere Erkundigung dort erfuhren wir, allerdings erst nach langem und sorgfältigem Umherfragen, daß die Gesuchten gestern um die Mittagszeit hier angekommen und dann von einem mitleidigen Viehhändler in seinem Wagen mit nach Bleistadt genommen worden waren. Unser Weg ging also nun nach diesem Orte, den wir noch am Vormittage erreichten, obwohl der Schnee hier schon viel höher als in der Falkenauer Gegend lag.

Bleistadt ist nicht groß; darum fanden wir das Schenkhaus sehr bald, in welchem der Händler mit seinem Schlitten angehalten hatte; ja, wir fanden ihn sogar selber, denn er hatte hier übernachtet und war frühzeitig nach Heinrichsgrün gefahren und soeben von da zurückgekommen. Er sagte uns, daß die Frau ein wahrer Engel an Aufmerksamkeit und Hingebung gegen ihren alten Vater sei, der aber wohl nicht mehr lange leben werde, denn er hatte sich selbst im Schlitten kaum auf dem engen Sitze aufrecht erhalten können. Von ihrer Einkehr bei Franzl hatte sie nichts gesagt.

»Ich bin aus Graslitz,« fuhr er fort, »und hätte sie ganz gern bis dorthin mitgenommen, aber ich mußte hier bleiben, um heut nach Heinrichsgrün zu fahren und die nächste Nacht in Neukirchen zu bleiben. Als sie erfuhr, daß ich alle Leute in Graslitz kenne, fragte sie mich nach einem Instrumentenmacher, der mit ihrem Mann verwandt ist. Sie dachte, bei ihm bleiben zu können, weil sie ihn für wohlhabend hielt; leider konnte ich ihr da keine gute Auskunft geben, denn er war nur Gehilfe und wendete seinen ganzen Verdienst dem Branntwein zu. Wegen dieser seiner Trunksucht fand er nirgends mehr Arbeit und hat sich vor ungefähr einem Jahre auf und davon gemacht, wohin, das weiß ich nicht.«

»Ist die Frau von hier weiter?«

»Ja. Der Wirt wollte sie nicht umsonst behalten, und Geld hatte sie nicht; sie dachte, unterwegs eher und leichter gute, mitleidige Leute zu finden, und es ist auch wahr, daß einsam wohnende Menschen gastlicher sind als Bewohner von Orten, wo es Gasthäuser giebt.«

»Da ihre Hoffnung auf den Verwandten nun zunichte ist, hat es eigentlich gar keinen Zweck mehr für sie, nach Graslitz zu gehen; sie ist aber wohl trotzdem hin?«

»Ja.«

»Auf dem gewöhnlichen Wege?«

»Sie wollte sich immer an der Zwoda aufwärts halten; weiter weiß ich nichts. Es ist ein wahres Herzeleid, solche Leute zu sehen! Sie wollen sich nach Bremen durchbetteln; ob sie aber hinkommen, das weiß man nicht; der Alte auf keinen Fall; ich dachte jeden Augenblick, er werde mir im Schlitten sterben. Sie sprach davon, daß sie Schiffskarten hätte; aber wenn es so langsam weitergeht wie jetzt, werden die wohl abgelaufen sein, ehe sie benützt werden können.«

Diese Bemerkung machte mich noch besorgter um die Frau, als ich bis jetzt gewesen war. Ich nahm, ohne dem Händler zu sagen, was es war, das Couvert aus der Tasche und öffnete es; ich glaubte nicht, ein Unrecht damit zu begehen. Richtig! Die bezahlten Schiffslegitimationen waren von einem New-Yorker Agenten des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd ausgestellt und die Fahrt war für die ersten Tage des Februar festgesetzt. Die Frau hatte das nicht lesen können, weil der Text englisch war.

Wir machten uns wieder auf den Weg, welcher immer am Flüßchen aufwärts führte und ziemlich beschwerlich war, weil der Schnee stellenweise knietief lag. Überall wo es menschliche Wohnungen gab oder wenn uns jemand begegnete, fragten wir und erfuhren so, daß die armen Leute mehreremal um Nachtlager gebeten hatten, aber immer abgewiesen worden waren. Die Bewohner dieser Gegend sind oder waren besonders damals selbst so arm, daß sie, zumal im Winter, kaum genug trockenes Brot für sich selber hatten.

Gegen Abend sahen wir eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle vor uns liegen, deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war. Das sah schon von außen ganz wie Hunger aus. Die kaum noch in den Rahmen hängenden Fenster hatten Risse und Löcher, welche mit Papier zugeklebt waren. Ein alter, abgemagerter Hund fuhr, als wir uns näherten, unter einer tiefen Schneewehe, wo er sein Lager hatte, hervor und vollführte mit seiner heiseren Stimme einen Lärm, auf welchen die obere Hälfte der querteiligen Thür geöffnet wurde. Das Gesicht einer alten, wie es schien, abgehärmten Frau war zu sehen.

»Gott zum Gruß, Mütterchen!« sagte ich.

»Grüß Gott,« antwortete sie. »Was wollen Sie?«

»Sind Sie die Müllerin?«

»Nein; die Mühle geht schon längst nicht mehr, denn ihr ist zwar nicht das Wasser aber das Geld ausgegangen. Ich bin nachher eingezogen, weil das Logis nichts kostet. Ich bin nämlich die Botenfrau zwischen Bleistadt und Graslitz.«

»Wir suchen einen alten Mann, eine Frau und einen Knaben, welche gestern in Bleistadt waren und nach Graslitz wollten.«

»Du lieber Gott, die, die suchen Sie? Da kommen Sie zu einer schlimmen Zeit! Mit dem Alten können Sie nicht reden, denn er liegt im Sterben. Was wollen Sie denn von der Frau?«

»Wir bringen ihr etwas, was sie verloren hat.«

»Da kommen Sie herein! Schön werden Sie es nicht bei mir finden, sondern traurig, sehr traurig.«

Sie öffnete nun auch die untere Hälfte der Thür, und wir traten in einen engen, vollständig leeren Flur, dessen Wände im Zerbröckeln waren. Durch eine höchst mangelhaft schließende Thür kamen wir in die Stube, für welche aber der Ausdruck Stall in ihrem jetzigen Zustande eine unverdiente Ehrung gewesen wäre; ich wenigstens hätte weder Pferd noch Kuh hier unterbringen mögen!

Es gab keinen Ofen, sondern einen aus Feldsteinen lose zusammengesetzten Herd, auf welchem ein Holzfeuer brannte, dessen flackernder Schein den sonst, obgleich es draußen noch ziemlich hell war, ganz dunkeln Raum zur Not erleuchtete. Von Wärme war nur wenig zu bemerken. Neben dem Herde ein paar Töpfe und Teller an der bloßen Erde, denn eine Diele gab es nicht. Am Fenster stand ein alter Tisch mit zwei schemelartigen Stühlen, und der Thür gegenüber gab es eine Lagerstätte, welche unsere Augen sofort auf sich zog. Sie bestand aus einem trockenen Laubhaufen, über den ein gewiß schon jahrelang nicht mehr weißes Betttuch gebreitet war. Einige zusammengerollte Fetzen bildeten das Kopfkissen, und die Zudecke präsentierte sich uns als die Reste eines haarlosen Männerpelzes. Auf diesem Bette lag der Greis, zu dessen Füßen der Knabe hockte, während die Frau am oberen Ende auf der Erde kniete und den Kopf ihres Vaters durch ihren untergeschobenen Arm stützte. Sie war so in ihren Schmerz versunken, daß sie sich gar nicht nach uns umblickte. Der Knabe erkannte uns und nickte uns traurig zu. Der Greis lag bewegungslos lang ausgestreckt; ob er die Augen offen hatte, konnten wir bei dem ungewissen Scheine des Feuers nicht erkennen; er sah so aus, als ob er schon tot sei.

Der Ort, wo ein Mensch im Verscheiden liegt, ist eine heilige Stätte, und wenn er auch der allerärmlichste der ganzen Erde wäre. Wir wagten nicht, laut Atem zu holen, und schlichen uns auf den Wink der Botenfrau zu den beiden Schemeln, um uns geräuschlos niederzusetzen. Sie folgte uns und flüsterte uns zu:

»Nicht wahr, es ist sehr ärmlich bei mir? Mein Schwiegersohn ist ein schlimmer Mann, der mich, seit meine Tochter tot ist, nicht mehr bei sich leidet; da habe ich mich hierher gemacht. Ich bekomme von der Gemeinde monatlich vierzig Kreuzer Almosengeld, und was ich sonst gegen den Hunger brauche, verdiene ich mir durch Botengänge. Sparen oder anschaffen kann man da aber nichts!«

»Seit wann sind diese Fremden hier?« fragte ich ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.

»Seit Mittag. Sie haben die ganze Nacht im Schnee zugebracht, und das muß der Alte nun mit dem Leben bezahlen. Sie baten um ein Plätzchen zum Ausruhen für ihn; da konnte ich nicht nein sagen.«

»Haben sie gegessen?«

»Nein, denn sie haben nichts, und ich habe heut auch nichts mehr, als nur ein Brot, welches auch schon halb alle ist. Horch!«

Der Sterbende bewegte sich und sprach halblaut abgebrochene Worte vor sich hin:

»Mich friert – – ich will sterben! – – Legt mich ins Himmelbett, und – – deckt mich mit der weichen Seidendecke zu! – – – Wenn ich dann tot bin, unterschreibt nichts, nichts – – sonst bringt er euch noch an den Bettelstab!«

Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm, wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme, weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder:

»Selig – selig ist, wer bis ans Ende – – an die – – die ewge Liebe glaubt – – –! Suchen – – suchen – – – im Verscheiden – – Erlösungsstern – – zur Herrlichkeit des Herrn – – –!«

Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:

»Er schießt, er schießt – – – spring weg, spring weg; er schießt!«

Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer, bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger, deutlicher Stimme sagen:

»Ich gehe jetzt, meine Tochter; aber nur mein Körper scheidet; meine Seele wird bei dir bleiben und dich behüten immerdar. Ich segne dich; ich segne euch. Der Herr sei euer Heil und euer Schirm! An seinem Throne werde ich unaufhörlich für euch beten. Habt Dank – – – lebt wohl – – – lebt wohl, ihr lieben – – lieben – – lieben – – –!«

Das letzte Wort erstarb zur Unhörbarkeit. Es wurde still, stiller als vorher. Nicht einmal das Feuer schien knistern zu dürfen. Da wendete die Frau sich ihrem Sohne zu und sagte in einem Tone, als ob ihr Leben nun auch zu Ende gehe:

»Stefan, dein Großvater ist gestorben; mir und dir ist er gestorben. Weine du; ich kann es nicht!«

Nun erst, nachdem sie sich dem Knaben zugewendet hatte, sah sie uns. Sie stand langsam auf, kam wie eine nur die Füße bewegende Statue auf uns zu und sagte mit seelenloser Stimme:

»Die Gymnasiasten von vorgestern. Was wollen Sie?«

»Sie haben Ihre Schiffskarte in Falkenau liegen lassen, und wir bringen sie Ihnen nach,« antwortete ich.

Ihre Augen waren nicht auf mich, sondern wie durch die Wand hindurchgerichtet, und es klang, als ob sie zu einem Abwesenden spreche:

»Danke; legen Sie sie hier auf den Tisch!«

»Ihre Gültigkeit läuft Anfangs Februar ab,« fuhr ich fort, da ich es trotz der dazu ganz unpassenden Situation für meine Pflicht hielt, ihr diese Mitteilung zu machen. »Nun Ihr Vater gestorben ist, wird Ihnen der Bremer Lloyd den Betrag der auf seinen Namen lautenden Karte zurückzahlen, denn bei Todesfällen verfällt die Summe nicht.«

»Ich weiß nicht, ob ich bis nach Bremen komme,« erklang es kalt und ohne Ton.

»Sie müssen hin. Ein Freund von Ihnen hat mir das für Sie gegeben; stecken Sie es ein!«

Es war, als ob ich gar nicht anders könnte, ich mußte diese Worte sagen und meinen »Geldschrank« unter der Weste hervorziehen, um ihn ihr zu geben. Sie steckte den Beutel ein, ohne ihn anzusehen, ja, ohne ihn, wie es schien, eigentlich in der Hand zu fühlen.

»Geben Sie das aber ja nicht für das Begräbnis her!« fügte ich hinzu. »Sie brauchen es zum Fahren unterwegs.«

»Ich werde es verstecken,« nickte sie wie ein Automat.

»Und hier in diesem Paket ist für Sie etwas zu essen, was ich mitgebracht habe. Gute Nacht, Frau Wagner!«

»Gute Nacht!«

Ich gab dem Knaben die Hand und ging mit Carpio hinaus; die Botenfrau folgte uns. Draußen fragte ich sie:

»Haben Sie alles gehört, was ich zu der Frau gesagt habe?«

»Alles,« nickte sie; »jedes Wort.«

»Sagen Sie ihr alles, aber auch alles wieder, denn sie scheint nicht draufgehört zu haben! Sie muß den Beutel verstecken, daß man ihr das Geld nicht nimmt, welches sie zur Reise braucht. Für das Begräbnis hat die Gemeinde zu sorgen, zu welcher diese Mühle gehört. Und damit Sie etwas für die richtige Ausführung dieses Auftrages haben, halten Sie die Hand auf!«

Sie that es, und ich schüttete ihr mein Reisegeld hinein; dann gingen wir fort, im Halbdunkel des hereingebrochenen Abends den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Was ich dabei dachte? Nichts, gar nichts. Ich hatte wie unter einer Eingebung gehandelt und bereute nicht, es gethan zu haben. Der Busenfreund trollte lange Zeit schweigend hinter mir her, bis es ihn doch endlich trieb, das Schweigen zu unterbrechen:

»Du, Sappho, diese alte Mühle und diese Sterbescene werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen! Wieviel hast du der Frau gegeben?«

»Alles.«

»Deine zwanzig Sparthaler und unsere zehn Gulden? Mensch, du bist ein großartiger Kerl! Aber ich nicht minder! Ich hätte es ihr auch gegeben, grad so wie du! Und was hat die alte Frau bekommen?«

»Mein Reisegeld.«

»Das ganze?«

»Ja.«

»Wieviel hattest du noch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er weiß es nicht! Großartig! Er giebt seinen letzten Pfennig und Kreuzer weg. Was aber machen wir nun, und wovon leben wir nun?«

»Wieviel Geld hast du noch?«

»Ich weiß es auch nicht genau.«

»Ist auch nicht nötig. Zum Übernachten in Bleistadt reicht es auf jeden Fall für uns beide aus.«

»Ja, aber dann?«

»Dann gehen wir wieder nach Falkenau.«

»Etwa zum Franzl?«

»Ja.«

»Potztausend! Der wird den Quarkkuchen nicht so schnell vergessen haben! Können wir das nicht vermeiden?«

Da blieb ich stehen, nahm ihn beim Arme und fragte in meinem feierlichsten Tone:

»Carpio, habe ich schon jemals einen Menschen angepumpt?«

»Nein – – nie – – keinen einzigen!«

»So höre, was ich dir sage! Mit unserer Reise ist es aus, denn unser Geld ist alle. Betteln können wir nicht; ich pumpe also den Franzl an; der muß uns soviel geben, wie wir brauchen, um heimzukommen. Bist du einverstanden?«

»Sag erst, wer es ihm wiederzugeben hat! Du allein oder wir beide.«

»Ich allein.«

»So erteile ich dir meine vollste Genehmigung. Aber du mußt ihn selbst anborgen; ich brächte kein Wort über meine Lippen, schon des übergangenen Heißhungers wegen.«

»Natürlich thue ich es selbst. Jetzt komm!«

»Ich komme schon; ich bin mit allem einverstanden. Aber wenn der Franzl wegen des Pumpes wild wird und uns zum Fenster hinauswirft, lasse ich mich niemals wieder hier in Österreich sehen, sondern suche drüben mein Eldorado auf, wo ich soviel Geld bekomme, wie ich nur haben will!« – –

Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte

Подняться наверх